Morbides Verlangen 15

Morbides Verlangen 16. Mai 2023

Warnung:

Wir erinnern uns daran, dass dies nur eine fiktive Geschichte ist. Der Inhalt soll schockieren, abschrecken und Angst auslösen.  Das Leben ist kostbar. Das Leben ist ein Geschenk und man sollte andere so behandeln, wie man selbst gerne behandelt werden möchte. Mit Respekt, Liebe und Verständnis. Solltest du dunkle Gedanken haben, die dich drohen einzunehmen, dann suche dir bitte Hilfe. Es gibt immer eine helfende Hand, man muss danach nur greifen wollen.

Achtung Triggerwarnung, enthält sensible Themen wie Depressionen/Selbstmord und erotische Inhalte, FSK +18

Dienstag

Der Wecker klingelt früh, viel zu früh. 6 Uhr morgens. Genau die richtige Zeit, um mich bei der Arbeit krank zu melden und Georg zu schreiben, dass mit mir alles in Ordnung ist, er sich keine Sorgen machen müsse und dass das, was gestern Nacht zwischen uns passiert ist, ein fataler Fehler gewesen sei und nie wieder vorkommen oder wiederholt werden sollte. Alleine das Wissen oder gar die Bestätigung, dass mein Arbeitskollege mich für eine hält, die sich umbringen will und damit völlig richtig liegt, hat mich die ganze Nacht nicht losgelassen. Ich hätte Georg niemals so nah an mich ranlassen sollen. Schon gar nicht in meine Unterwäsche oder mein Schlafzimmer. Daran ist einzig allein Nachtwolf schuld, der Seiten in mir weckt, die lieber für immer in ihrem Dornröschenschlaf hätten bleiben sollen. Der langweilige, mich triezende Nachtwolf aus dem traurigen und düsteren Forum Grau. Auch der bekommt eine Nachricht von mir, weil der Junkie in mir diesen blöden Kerl einfach nicht ziehen lassen will.

Schatten:            Du bist dran.

In Momenten wie diesen wünsche ich mir eine beste Freundin herbei, der ich alles erzählen und von der ich gute Ratschläge einfordern könnte. Aber da eine Freundin wie diese nicht in meinem Leben existiert, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich vor den Computer zu schwingen und dem Forum Grau, meinen neuen besten und Selbstmord-liebenden Freunden, einen Besuch abzustatten.

Und zu meiner Überraschung ist um diese Uhrzeit nicht einmal Nachtwolf online und das, obwohl dieser Mann so gut wie immer da ist. Heute jedoch sind lediglich Ikarus90, Kaiser1 und Still87 anwesend und tauschen sich aus.

Kaiser1: Ich habe gehört, sie hat sich umgebracht.

Ikarus90: Gut zu wissen.

Kaiser1: Löscht ihr das Profil?

Ikarus90: Nach einer Woche der Inaktivität wird ihr Profil automatisch gelöscht.

Still87: Das klingt so makaber.

Ikarus90: So sind die Regeln.

Still87: Ich hoffe, ihr geht es jetzt besser.

Kaiser1: Alles ist besser, als hier zu sein.

Schatten: Von wem ist die Rede?

Still87 has left the room.

Kaiser1: Einer Userin. Sie ist seit 3 Tagen nicht mehr online.

Ikarus90: Hallo Schatten.

Schatten: Hi.

Kaiser1 has left the room.

Und wieder einmal bin ich alleine mit einem Admin aus dem Forum Grau im Chat. Na klasse. Toll. Die Selbstmord-Ratten verlassen das sinkende Selbstmord-Schiff, oder so. Wo wir wieder bei der Titanic wären, die Frage ist nur, ist Ikarus90 Leonardo DiCaprio und falls ja, bin ich dann Rose und wird er mich wie eins dieser französischen Mädchen malen? Oder wir springen direkt zu der Autoszene vor und… okay, nein, Emily. Du musst wirklich mit diesen Kopfkinos aufhören und wieder normal werden. Hörst du? Mal davon abgesehen, könnte es sich bei Ikarus90 auch um einen weiblichen User handeln und alles, was ich bereits von ihr oder ihm bisher gelesen habe, ist so düster wie Lovecraft-Roman. Zumindest die Beiträge, über die ich beim Stöbern gestolpert bin.

Ikarus90: Wie geht es dir, Schatten?

Schatten: Gut, und selbst?

Ikarus90: Perfekt.

Ikarus90: Warum bist du hier?

Schatten: Aus demselben Grund wie alle, schätze ich.

Ikarus90: Erzähl mir davon.

Schatten: Es gibt nicht viel zu erzählen, das ist das Problem.

Ikarus90: Verstehe. Willst du sterben?

Nachtwolf has joined the room.


Schatten: Ja.

Mein Handy piepst. Wahrscheinlich nur Georg, der ein klärendes Gespräch sucht und sich mal wieder Sorgen um mich macht. Auf eine merkwürdige Art und Weise fühle ich mich bespitzelt. Als hätte mein Arbeitskollege mitbekommen, was ich soeben im Chat offenbart habe und als müsste ich ihm nun Rede und Antwort stehen und mich erklären. Was lächerlich ist. Eine Frohnatur wie Georg würde niemals seine wertvolle Zeit auf so einem tristen Forum wie dem Forum Grau verplempern. Geschweige denn, kennt mein Arbeitskollege meinen Nicknamen dort nicht einmal. Also bilde ich mir das alles nur ein. Trotzdem zwingt mich mein Hang zur Selbstzerstörung dazu, einen Blick auf das Display meines Handys zu werfen. Wow. Die Nachricht ist nicht von Georg. Aber der Absender der Nachricht macht sich offenbar genauso Sorgen um mich. Entweder das, oder er will mich nicht teilen.

Nachtwolf: Ikarus ist gefährlich, halte dich von ihm fern.

Schlagartig breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Ist da etwa jemand eifersüchtig? Ganz getreu seinem Namen markiert der Wolf sein Revier.

Schatten: Und du etwa nicht? Bist du ein harmloses Wölfchen?

Ich lege das Handy beiseite und obwohl es kindisch ist, verspüre ich den überwältigenden Drang, Nachtwolf ein bisschen zu ärgern. Soll er doch ruhig eifersüchtig sein und sich Sorgen machen. Schließlich lässt der Blödmann mich auch gerne zappeln. Wird Zeit, sich ins Abenteuer zu stürzen und im öffentlichen Chat Ikarus90 einen Happen hinzuwerfen.

Schatten: Wenn du Lust hast, können wir privat weiterschreiben, Ikarus90.

Eigentlich verspüre ich kein großes Verlangen danach, mit Ikarus90 über mein Privatleben oder über meine Todessehnsucht zu diskutieren. Aber andererseits, wieso sollte ich mich auf einen Mann festlegen? Vielleicht ist Ikarus90 kontaktfreudiger und interessanter als der wortkarge und verschlossene Nachtwolf. Oh mann, was fasele ich da überhaupt? Solche Gedanken waren mir bisher fremd und irgendwie fühle ich mich nun wie ein Flittchen und das, obwohl Ikarus90 noch nicht einmal auf die Einladung reagiert hat.

Ikarus90: Liebend gerne. Hallo Nachtwolf!

Nachtwolf: Hallo Ikarus.

Ich bilde mir ein, die Spannungen zwischen den beiden Administratoren des Forum Grau regelrecht spüren und zwischen den Zeilen lesen zu können. Keine Ahnung wieso. Vielleicht ist das aber auch nur Wunschdenken von mir. Jedenfalls müssen die beiden eine Vergangenheit miteinander teilen, über die ich als Neuling natürlich nichts weiss. Was ist da wohl vorgefallen? Könnte es sein, dass das Forum Grau gar nicht so langweilig ist, wie es bisher den Anschein gemacht hat? Wieder piepst mein Handy und meine Mundwinkel tun bereits weh, weil sie es sich nicht gewohnt sind, über eine so lange Zeit dämlich zu grinsen.

Nachtwolf: Du willst spielen, Schatten? Also spielen wir.

Ja, ich will spielen. Spiel endlich mit mir Nachtwolf. Zeig mir, wer hinter der Maske steckt. Eine leichte Aufregung keimt in mir auf, die prompt etwas gedämpft wird, als ich sehe, dass mich Ikarus90 tatsächlich privat angeschrieben hat.

Ikarus90: Ich kann dir helfen, wenn du mich lässt.

Wobei will mir Ikarus90 denn helfen? Okay. Gerade hilft er mir indirekt dabei, den schüchternen Nachtwolf aus seiner Reserve zu locken, aber ich glaube nicht, dass das von Ikarus so beabsichtigt ist. Ohne Nachtwolf auf seine SMS zu antworten, widme ich mich vorerst dem ominösen und vermeintlich gefährlichen Admin aus dem Forum Grau. Ikarus90, wirst du mein Henker sein?

Schatten: Wie willst du mir helfen?

Ikarus90: Ich kenne Mittel und Wege, deinem Leid ein Ende zu bereiten.

Eventuell hat Nachtwolf gar nicht so unrecht und ich sollte mich wirklich lieber von Ikarus90 fernhalten.

Schatten: Wie?

Ikarus90: Erzähl mir von dir.

Schatten: Du weichst meiner Frage aus.

Ikarus90: Und du meiner Aufforderung, Schatten ;)

Schatten: Du zuerst, dann ich.

Ikarus90: Melde dich wieder, sobald du meine Hilfe willst.

Das ist unfair. Mein Ich-will-sterben-ich will diese Abfuhr nicht akzeptieren und selbst mein Ich-klammere-am-Leben-fest-ich will wissen, was für Mittel und Wege Ikarus90 kennt, um mir zu “helfen”. Einerseits weil ich neugierig und selbstmörderisch bin und andererseits weil ich weiss, dass wer auch immer sich hinter dem Pseudonym Ikarus90 versteckt, gefährlich sein soll und diese Tatsache ihn gerade unglaublich interessant macht. Wie ein Rätsel, was es zu lösen gibt und Detektiv Emily würde den Fall gerne übernehmen.

Schatten: Was willst du denn von mir wissen?

Ikarus90: Fühlst du dich vom Tod angezogen?

Schatten: Ja.

Ikarus90: Wie lange schon?

Schatten: Lange.

Ikarus90: Wie hältst du das aus?

Schatten: Gar nicht.

Ikarus90: Ich kenne diese Sehnsucht nur zu gut, Schatten. Ich weiss, wie du dich fühlst. Loslassen wäre schön, was hält dich davon ab? An was klammerst du dich? Kannst du mehr sieben Dinge aufzählen?

Ich denke kurz nach. An was klammere ich mich? Was hält mich davon ab, meinem Leben ein Ende zu setzen?

Schatten: Warum sieben Dinge?

Ikarus90: Schau auf deine Hände Schatten. Du hast zehn Finger, die die ganze Last deines Lebens tragen. Jeder Finger steht für etwas, was dich nicht gehen lässt. Sei es eine Person, ein Tier, ein Traum oder eine Zukunft an die du glaubst. Und das Gewicht, das dich gegen Abgrund zieht, wird immer schwerer und schwerer. Spürst du das? Wie viele Finger tragen diese Last noch? Sind diese Finger stark genug, dich oben zu halten?
Wir können gemeinsam diese Finger lösen, wenn du das willst. Du kannst erst richtig frei sein und schweben, wenn die Last endlich runtergefallen ist. Und vertrau mir, es ist so schön, zu fliegen.

Ich schaue auf meine Hände hinunter, die über der Tastatur ruhen und schreiben wollen, aber nicht können. Ikarus Worte bewegen mich. Es ist, als hätte er mit seinen Worten genau an den richtigen Rädchen gedreht und ihn einen Schubs verpasst. Oh ja, das hat er, denn jetzt rattert es in meinem Kopf.

Schatten: Zwei.

Ikarus90: Deine Eltern?

Schatten: Ja. Ich kann ihnen das nicht antun.

Ikarus90: Ich kenne diesen Gedanken. Und es wird sie verletzen und es wird ihnen wehtun, Schatten. Aber glaube mir. Zeit kann Wunden heilen, mögen sie noch so tief sein.
Erst werden sie trauern, sie werden leiden und sobald dieser Prozess vorbei ist, können sie aufbrechen und sich neu orientieren. Es gab für sie ein Leben vor dir und es wird auch eins nach dir geben. Vertraue mir, ich weiss, wovon ich rede.

Tränen schießen mir die Augen, obwohl ich es gar nicht will. Meine Wangen fühlen sich heiß und gleichzeitig kalt an. Mein ganzer Körper ist wie geladen. Elektrisiert. Völlig unter Strom. Ein unangenehmes Zittern setzt ein. Es ist wahr. Ikarus hat recht. Es gab ein Leben vor mir. Eins, in dem meine Eltern mich nicht ertragen mussten. Eins, in dem sie tun und lassen konnten, was sie wollten, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen zu müssen. Was ist, wenn ich mich selbst zu wichtig nehme und denke, dass ich einen zu hohen Stellenwert im Leben meiner Eltern einnehme und dem eventuell gar nicht so ist? Vielleicht bin ich nur eine Last, die sie tragen müssen und die sie ständig und immerzu nach unten zieht. Unentwegt. Weil ich so ein unzufriedenes, depressives Miststück bin und mehr Problem als Bereicherung für sie bin.

Mein Handy piepst und ich weiss, ohne hinzusehen, dass Nachtwolf mir eine weitere Nachricht geschickt hat. Der Wolf will spielen, aber mir ist in dem Moment mehr nach Spielen, sondern nach aufgeben. Ich habe keine Lust mehr, meine Schachfiguren einen Zug weiter zu bewegen. Ich will matt gesetzt werden. Schachmatt.

Schatten: Hilf mir die Finger zu lösen, Ikarus.

Ikarus90: Erzähl mir von deinen Eltern und wir können anfangen, ein besseres Leben für sie zu planen. Eins ohne dich. Wir kriegen das hin. Zusammen.

Meine Augen brennen und ich sehe den Bildschirm nur noch verschwommen. Scheiß Tränen. Ich bin so eine blöde Heulsuse. Völlig aufgelöst suche ich auf meinem Schreibtisch nach einem Taschentuch und werde fündig. Und als ob mich das Schicksal veräppeln wollen würde, liegen die dummen Taschentücher direkt neben meinem Handy, dessen Display noch immer aufleuchtet und mir eine Nachricht präsentiert, die ich doch gar nicht lesen wollte.

Nachtwolf: Ich bin dran. In einer Stunde schicke ich dir eine Adresse. Du öffnest das Schließfach mit der Nummer 636. Zieh das an, was ich dir ausgesucht habe und warte dann auf weitere Anweisungen, Schatten.


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