Morbides Verlangen 1

Morbides Verlangen 17. Jan. 2022

Warnung:

Wir erinnern uns daran, dass dies nur eine fiktive Geschichte ist. Der Inhalt soll schockieren, abschrecken und Angst auslösen.  Das Leben ist kostbar. Das Leben ist ein Geschenk und man sollte andere so behandeln, wie man selbst gerne behandelt werden möchte. Mit Respekt, Liebe und Verständnis. Solltest du dunkle Gedanken haben, die dich drohen einzunehmen, dann suche dir bitte Hilfe. Es gibt immer eine helfende Hand, man muss danach nur greifen wollen.

Achtung Triggerwarnung, enthält sensible Themen wie Depressionen/Selbstmord und erotische Inhalte, FSK +18

Samstag

Nie hätte ich damit gerechnet, mein Leben mit anfangs 20 als nicht mehr lebenswert anzusehen. Seit ich fest in der Arbeitswelt angekommen bin, erwartet mich jeden Tag das gleiche. Man schimpft diesen Daseinszustand nicht umsonst Alltag. Ist Alltag überhaupt ein Daseinszustand oder lediglich die Bezeichnung für die fünf Tage in der Woche, die sich immer nach dem gleichen Muster abspielen? Okay, schuldig, ich gebe es ja zu, ich bin einfach von mir selbst gelangweilt, aber auch nicht wirklich bereit dazu, aus meiner Schale auszubrechen oder irgendetwas an meinem super öden Leben oder an mir zu ändern. Veränderungen habe ich schon immer irgendwie schwer aufgenommen. Auf eine abstrakte Art und Weise bin ich sogar ein sogenanntes Anpassungswesen. Ich füge mich einer Situation und harre diese solange aus, bis ich gezwungen werde, sie zu verlassen. Und wenn sich niemand für einen und das, was man tut, interessiert, ist auch niemand da, der irgendetwas an einem, oder an dem was man tut, auszusetzen hätte. Außer eventuell mein Arbeitsgeber. Wobei, wenn man es genau betrachtet, fordert selbst dieser jeden Tag ständig und andauernd das gleiche von mir und hat im Wesentlichen keine hohen Ansprüche an mich oder meine Arbeitsweise.
Außerdem fange ich jeden Tag, also jeweils montags bis freitags, zur gleichen Uhrzeit an, absolviere Tag um Tag die gleichen Tätigkeiten und steige, sobald Feierabend ist, pünktlich in den Bus ein, der mich an der immer gleichen Bushaltestelle absetzt und  danach nehme immer denselben Weg nach Hause. Natürlich gibt es auch noch Samstage und Sonntage, aber diese beiden Tage verbringe ich meistens vor dem Rechner oder alternativ vor dem Fernseher und sehe zu, wie andere ihr ach so ereignisreiches Leben leben, während meine Lebenszeit stetig wie in einer Sanduhr Korn um Korn abläuft. Was für eine Ironie sein Leben auf diese Art so zu verschwenden.

Heute ist einer dieser Samstage, und an diesem Samstag regnet es zusätzlich auch noch in Strömen. Das heißt, ich verbringe den ganzen langweiligen und grauen Tag faul und motivationslos im Pyjama vor dem Computer. Der einzige Farbtupfer in meinem trägen Dasein befindet sich heute an meinen Füßen. Bunte Stricksocken von meiner Oma, die sie mir zu meinem 18. Geburtstag geschenkt hat. Tragischerweise hat sie kurz danach ins Gras gebissen. Wortwörtlich. Sie ist beim Mähen ihres heißgeliebten Rasens einfach umgefallen und dann nicht wieder aufgestanden. Der Hund von den Nachbarn hat sie schlussendlich irgendwann gefunden, aber da war meine Oma schon längst auf der anderen Seite. Laut den Ärzten hatte sie ein Schlaganfall ereilt.
Tja, das ist auch so eine Sache, das Leben könnte jederzeit vorbei sein und ich sitze hier und bemühe mich nicht einmal, mein Leben auch nur ansatzweise irgendwie zu genießen. Dahinvegetieren für Profis. Oh ja! Ich sollte unbedingt Anleitungen schreiben, wie man ein unerfülltes langweiliges Leben lebt. Leben verschwenden für Dummies. Ob sich das verkaufen lassen würde? Vielleicht sitze ich auf einer Goldgrube und weiß es nicht einmal. Andererseits würde das Geld auf meinem Konto sowieso nur imaginären Staub ansammeln. Ich glaube, das ist einer der wenigen Vorteile des Nichtstuns – meine Weise zu Leben ist absolut kostengünstig. Ein bisschen Geld geht für Essen und Haushalt drauf, der Rest für sowas wie Krankenkasse, Miete und Strom. Ab und zu kaufe ich mir ein paar neue Klamotten, wenn die alten schon auseinander fallen. Hin und wieder genehmige ich mir sogar Mal eine DVD. Manchmal auch ein Buch. Super selten eine CD. Ich bin der Inbegriff von Langweiligkeit, falls es dieses Wort überhaupt gibt.

Seit kurzem verschwende ich abends meine Zeit in einem Forum für Gleichgesinnte. Der Name des Forums ist genauso langweilig, wie dessen Mitglieder und lautet Grau. Ja. Tatsächlich. Es gibt im großen WWW tatsächlich ein Forum mit dem total öden Namen Grau. Grau und nichts weiter. Nur Grau. Und wie ich darauf gestoßen bin? Vor fünf Tagen habe ich versucht meinem schnöden Dasein ein Ende zu bereiten und ja, peinlich, ich weiß, aber ich - Emily Christen, wohnhaft irgendwo in Deutschland - habe nach Varianten gegoogelt, wie man sich möglichst schmerzfrei, denn ich bin ein kleines Weichei, um die Ecke bringen kann, und das natürlich ohne dazu das Haus verlassen zu müssen, weil faul. Zuerst habe ich mit dem Gedanken geliebäugelt einfach eine Überdosis Tabletten zu nehmen, aber da mein Medizinschränkchen genauso leer ist wie meine Lebensfreude, musste ich diesen Plan vorerst über Bord werfen.
Natürlich gibt es auch Möglichkeiten von Zuhause aus ohne Probleme an tödliche Substanzen zu kommen, vorausgesetzt man ist im Besitz einer Kreditkarte, aber so wirklich bereit, die Methode mit dem verhängnisvollenTablettencocktail durchzuziehen, bin ich dann doch noch nicht. Jedenfalls bin ich bei meiner selbstmörderischen Recherche ziemlich schnell auf dieses Forum mit dem Namen Grau gestoßen und habe nach ein paar Minuten des Durchforstens dessen festgestellt, dass sich auf dieser Plattform Menschen unterschiedlichen Alters über ihr Leben auskotzen und alle mit dem gleichen Problem zu kämpfen haben.  Dem Kein-Bock-auf-dieses- Leben-Problem. Dem Mir-ist-Langweilig-und-ich-bin-selbst-Schuld-daran- Phänomen. Man kann es nennen, wie man will. Das Resultat bleibt das gleiche. Jeder hier hat irgendwie die Nase voll vom Leben. Und alle wollen nur noch eines: Einfach das Licht ausschalten und Tschüss und auf Nimmerwiedersehen sagen.

Seit ich in diesem sogenannten Selbstmord-Forum angemeldet bin, habe ich mich bisher nicht dazu durchringen können, mit anderen Usern zu interagieren. Ich habe mich lediglich durch ein paar Beiträge durchgeklickt, ein paar Mal geschmunzelt, ein paar Mal zustimmend mit dem Kopf genickt und habe gestern, abenteuerlich wie ich bin, sogar einmal gewagt dem Chat einen Besuch abzustatten. Dabei musste ich feststellen, dass die Mitglieder, die sich dort im Chat tummeln, zusammen einen Film drehen könnten, der sich liebevoll das große Jammern nennen dürfte. Wie in jedem Chat gibt es auch in diesem Administratoren, deren Aufgabe es ist, jedes neue Mitglied beim Betreten des Chats herzlich willkommen zu heißen und ist das erledigt, zu überwachen, dass sich auch jedes Mitglied an die klassischen Benimm-Regeln hält.
Obwohl das Forum den langweiligen Namen Grau trägt und sich die Beiträge immer um das gleiche vor Ödnis triefende langweilige Thema befassen, ist der Chat für Selbstmordverhältnisse reichlich besucht. Zwischenzeitlich waren sogar einmal 25 User gleichzeitig online und haben miteinander über den Sinn oder besser gesagt den Unsinn des Lebens philosophiert. Wirklich. Sie haben philosophiert wie Poeten. Ein Einfaches „Das Leben ist scheisse“ reicht da nicht. Nein. Jeder, ausgenommen von den Admins und meiner Wenigkeit, hat über sich und sein Leben ausgepackt und Lovecraft-verdächtig mit vielen Adjektiven, manchmal sogar in Reimen, beschrieben, wie qualvoll und ungerecht das eigene Leben und was für ein Arschloch der Vorgesetzte/Bruder/Freund/Partner/Arbeitskollege/x-beliebige Person doch sei.
Ich hätte mich anschließen können, denn jeder Einzelne hat mir so irgendwie und sei es nur ein bisschen aus der Seele gesprochen. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase habe ich mir bereits ein Bild über die verschiedenen Mitglieder dieses Forums gemacht und mich schnell mit dem Gedanken angefreundet, einer von vielen hier zu werden. Die meisten der Chattenden sind sowieso so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ein neuer und stiller User wie ich kaum Aufsehen erregt und darüber bin ich mehr als froh. Ein stiller Beobachter zu sein, ja, liegt mir einfach. Das ist fast so, wie im echten Leben und ich verlasse schließlich nur ungern meine Komfortzone.
Spät abends, so nach Mitternacht, sind meistens weniger User online. Häufig bleibt nur noch der Administrator mit dem Nicknamen Nachtwolf zurück und natürlich ich. Wir schweigen uns dann für eine Weile an, bis ich zu dem Entschluss komme, dass es jetzt auch für mich an der Zeit ist, sich ins Bett zu verziehen. Ein freundliches Tschüss von meiner Seite aus und ein Bye von ihm und vielmehr Interaktion ist bisher nicht passiert.

Auch heute ist es wieder einmal spät geworden und wir sind nur noch zu fünft im Chat vom Forum Grau. Rollstuhlfahrer87 und Froschtanz7 diskutieren gerade wie üblich über die Ungerechtigkeiten des Lebens. Venedig 55, auch ein Admin, sorgt für Ordnung und geht hin und wieder dazwischen, wenn die Diskussion zwischen den beiden Usern etwas zu hitzig wird, während Nachtwolf und ich schweigend dem Geschehen beiwohnen und nichts zum Gespräch beitragen.
Es dauert nicht lange bis Froschtanz7 beschließt Rollstuhlfahrer87 den imaginären Stinkefinger zu zeigen und von Venedig55 dafür ohne Erbarmen aus dem Chat gekickt wird. Es wird gedankt und sich verabschiedet, bis schlussendlich nur noch ich alleine mit dem schweigsamen  Admin Nachtwolf im Chat übrig bleibe. Gelangweilt nippe ich an meiner mittlerweile lauwarmen Limo und glotze auf den Bildschirm, auf dem nicht mehr viel passiert. Es ist drei Uhr Morgens und mir ist so überhaupt nicht danach, schon ins Bett zu gehen. Ein Problem des Nichts-Tun ist, dass man davon schlicht und einfach nicht müde wird. Die Augen brennen zwar, der Körper schwächelt allmählich, aber der Geist ist hellwach und total unausgelastet. Nach fünf Minuten totalen Schweigens reicht es mir. „Entweder jetzt oder nie, Emily. So kann es nicht weitergehen. Schreib jetzt etwas oder pflanz dich auf die Couch und schau dir zum dritten Mal die komplette Staffel American Horror Story an“, sage ich zu mir selbst in einem mahnenden Tonfall. Mein Blick fällt auf die Limo in meiner Hand, dann auf den Bildschirm. Mannomann. Eine wahrhaft schwierige Entscheidung, die es zu treffen gibt.


„Die Frage strotzt zwar nicht unbedingt vor Kreativität, aber es ist zumindest ein Anfang“, lobe ich mich. Okay gut. Wem mache ich hier überhaupt etwas vor? Chatten liegt mir einfach nicht. Schon gar nicht um diese Uhrzeit und noch weniger mit einem Chatpartner, der bisher nie mehr zum Chat beigetragen hat außer ein höfliches Hallo, wenn jemand Neues online kommt und ein anständiges Tschüss, wenn einer geht. Außerdem ist der Typ, ich gehe zumindest davon aus, dass es sich bei diesem Nicknamen um einen männlichen User handelt, gefühlt 24/7 online. Warum auch immer. Höchstwahrscheinlich weil sein Leben genauso interessant und aufregend ist wie meins– nämlich so gar nicht.

Als keine Antwort mehr darauf folgt, rümpfe ich frustriert die Nase. Wirklich? Kein Konter? Irgendetwas? In diesem Moment schäme ich mich, dass ich mir insgeheim Froschtanz und Rollstuhlfahrer zurückwünsche, um mich an ihren sinnlosen Streitereien zu erfreuen und meine eigene Blamage erstmal zu vergessen.

Ohne ein Wort des Abschieds gehe ich einfach offline und fahre den Computer herunter. Ja. Wusste ich es doch. Chatten ist absolut nicht mein Ding. Und was lehrt einen das? Etwas Neues auszuprobieren ist doch nicht so toll, wie alle sagen. Tja, was soll’s. American Horror Story, ich komme!

Sonntag

Sonntag ist Familientag. Ausflüge machen, zusammen etwas essen und über die alten Zeiten quatschen. Tatsächlich ist sogar bei mir Sonntag ein Familientag und ich habe, ganz die Vorzeigetochter, den Tag bei meinen Eltern verbracht. Mama hat einen Braten gekocht, Papa hat wie üblich den Braten für zu trocken befunden und eigentlich hat es an ein Wunder gegrenzt, dass Gabel und Messer nicht über den Tisch in den jeweiligen Kopf des anderen geflogen sind. Mir hat es trotzdem geschmeckt, auch wenn ich kurzweilig mit dem Gedanken gespielt habe, meiner Mutter weiszumachen, dass ich plötzlich und über Nacht zur Vegetarierin konvertiert bin. Der Gesichtsausdruck wäre schlichtweg Gold wert gewesen. Das muss man sich mal vorstellen, da steht man über Stunden in der Küche, um den perfekten Braten zuzubereiten und dann kommt die undankbare Tochter um die Ecke und erzählt von ihrem spontanen Sinneswandel. Von Papa erwartet sie nichts anderes, aber von mir,… naja, sie hat noch Hoffnungen, was mich betrifft.
Als krönenden Abschluss sind wir nach dem Essen spazieren gegangen, haben über meinen öden Job und ihre kaputte Ehe geplaudert und als sie mich anschließend nach Hause gefahren hat, hat sie mich unter Tränen gebeten, doch niemals und unter keinen Umständen zu heiraten, weil das der größte Fehler ihres Lebens gewesen sei. Ich versicherte ihr, dass mich doch sowieso keiner haben möchte, bin ausgestiegen und habe sie, verdutzt aus der Wäsche guckend, im Auto ohne ein weiteres Wort zurückgelassen.

Wieder zuhause werfe ich mir ein Over Size-Shirt über und weil ich wie immer nichts anderes zu tun oder vorhabe, setze ich mich, ausgerüstet mit einer heißen Schokolade, vor den Computer und gehe im Forum Grau, wie mein Leben, die neuen Beiträge durch. Wie so oft findet sich nichts Bahnbrechendes, was aus der Reihe sticht. Rollstuhlfahrer87 hat sich nochmals ausgiebig über Froschtanz ausgelassen und sie oder ihn dafür verurteilt, dass er oder sie noch über gesunde Beine verfügt und mit diesen nicht auf anderen, denen es nicht so geht, herum trampeln sollte. Ende der tragischen Geschichte.
Gelangweilt trete ich dem Chat bei und lasse auf meinem zweiten Bildschirm einen Film laufen. Es sind fünfzehn Chatter anwesend und das Thema der heutigen Runde ist, ach wie überraschend, was für Untermenschen in der Führungsposition herumschwirren. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und amüsiere mich über den Krieg der im Chat tobt und über Thor, der parallel dazu mit seinem Hammer die Welt rettet.
Um 23 Uhr abends leert sich der Chat allmählich und die meisten gehen zeitig ins Bett, da der Montag bereits in den Startlöchern steht und offensichtlich vielen ausreichend Schlaf dennoch wichtig genug zu sein scheint. So wie es aussieht, teilt nur einer meine Meinung über Schlafmangel und dessen Folgen. Nachtwolf, dem wohl übermüdet auf der Arbeit zu erscheinen genauso egal ist wie mir. Entweder das oder er ist arbeitslos und es kommt sowieso nicht darauf an. Wir zwei, wieder allein im Chat. Ich kippe den letzten Rest meiner Schokolade herunter und tippe amüsiert die gleiche Frage wie letzten Abend ins Chatfenster ein, in der Erwartung den Herrn damit ein bisschen zu ärgern.

Moment Mal, hat der Mann etwa doch Humor oder bilde ich mir das in meiner Verzweiflung gleich wieder ohne Beschäftigung zu sein nur ein? Ich überlege einen Augenblick, ob ich genau das gleiche schreiben soll wie gestern, entscheide mich dagegen und fahre ein ganz neues Register auf. Ist eigentlich nicht meine Art, aber es ist spät und… mir ist langweilig… Oh mann, Emily, dafür wirst du garantiert aus dem Chat verbannt…

Ich spüre einen süßen, heißen Stich zwischen meinen Beinen und erschrecke mich beinahe selbst über meine ungewöhnliche Reaktion. Warum löst so eine stalkermässige Antwort denn ausgerechnet sowas in mir aus? Meine Augen wandern wie automatisch von meinem Bildschirm zum Fenster. Die Vorstellung in diesem Moment von jemanden beobachtet zu werden, erregt mich auf eine bizarre Art und Weise. Okay. Vielleicht sollte ich lieber ins Bett gehen und mich in Grund und Boden schämen,… doch stattdessen...

Das Gefühl zwischen meinen Beinen erlischt so schnell wie es entfacht ist.  Mannomann, ist der Kerl laaaaangweilig. Enttäuscht blicke ich auf meine Tastatur hinunter und könnte mich dafür Ohrfeigen, dass ich für einen Augenblick tatsächlich Lust gehabt hätte, mit einem Admin aus einem Selbstmordforum sowas wie Cybersex zu starten. So bin ich doch sonst nicht drauf. Vielleicht liegt es an der Müdigkeit oder ich habe, ohne es zu bemerken, eine Reise durch Raum und Zeit angetreten und bin nun plötzlich wieder vierzehn Jahre alt, Mitten in der Pubertät und zufällig in einer Forum-Grau-BRAVO-Internet-Lovestory gelandet. Ja. Doch, das klingt einleuchtend. Das muss es sein, anders kann ich mein Verhalten mir nicht erklären.

„In dem du jetzt etwas Unanständiges schreibst, wie zum Beispiel, dass deine Hand in deiner Hose ist“, hallt es durch meine hormongetränkten und übermüdeten Gedanken und für eine Millisekunde erwische ich mich dabei, wie ich mir vorstelle, wie Nachtwolf genau das tut. Seine Hand in seine Hose schieben und… Oh Gott. Prompt fährt ein weiterer Stich zwischen meine Beine und entflammt das bereits erloschene Feuer erneut. Was zum Teufel ist nur los mit mir? Ich sollte den Chat einfach verlassen und endlich ins Bett gehen, das wäre vernünftig. Aber andererseits,… was ist, wenn er doch,… also falls die klitzekleine Chance besteht, dass er doch bei sowas mitmachen würde? Und wie weit könnte ich es treiben? Wie weit könnte ich IHN treiben? Den schweigsamen und langweiligen Nachtwolf, der in diesem Moment bloß an seinen Wein herumnippt und nichts Besseres zu tun hat, als unter dem Vorwand sich Sorgen zu machen alte Frauen auszuspionieren?

Tue ich nicht? Ein Schmunzeln schleicht sich auf meine Mundwinkel. Ich krame mein Handy aus meiner Handtasche, stehe ich auf, ziehe mein Shirt über meinen Bauch und knipse, ich kann es fast selbst nicht glauben, ein Foto von mir. Skeptisch betrachte ich das Endergebnis und bin unsicher. Soll ich das wirklich tun? Einem Wildfremden aus einem Chat ein Foto von mir in Unterwäsche zukommen lassen? Bin ich so naiv und denke gar nicht über die Konsequenzen nach? Jedes Risiko ausblenden und einfach schicken? Das ist absolut nicht meine Art, aber wenn man bedenkt, dass ich vor kurzem erst nach Anleitungen gesucht habe, wie ich mich am effizientesten und schmerzfreisten umbringe, ist ein solches Foto zu verschicken das geringere Übel, oder? Also was habe ich zu verlieren? Ich stehe bereits am Abgrund, viel tiefer kann der Fall nicht mehr sein. Mit nervösen Fingern sende ich das Foto zuerst an meine eigene Mailadresse, eventuell um es unnötig hinauszuzögern, doch dann ziehe ich das Foto tatsächlich in das Chatfenster hinein und schicke es ab. Außer ich und Nachtwolf ist ja sonst sowieso keiner da, der es noch sehen könnte.


Fortsetzung folgt

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