Käfermariechen

kontroverse Geschichten 18. Dez. 2023

Warnung:

Wir erinnern uns daran, dass dies nur eine fiktive Geschichte ist. Der Inhalt soll schockieren, abschrecken und Angst auslösen.  Das Leben ist kostbar. Das Leben ist ein Geschenk und man sollte andere so behandeln, wie man selbst gerne behandelt werden möchte. Mit Respekt, Liebe und Verständnis. Solltest du dunkle Gedanken haben, die dich drohen einzunehmen, dann suche dir bitte Hilfe. Es gibt immer eine helfende Hand, man muss danach nur greifen wollen.

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  1. Dream

“Wach auf, Marie, wach auf. Hörst du die Sonnenstrahlen nicht?”

“In meinen Träumen…. naja… dort kommen Käfer vor. Wissen Sie?”, sage ich und schaue aus dem Fenster. Nicht, weil es dort etwas zu Sehen gäbe, eher um dem strengen Blick meiner Psychologin auszuweichen.
“Dort kommen Käfer vor, also in Ihren Träumen?”, wiederholt sie in einem skeptischen Unterton. Als ich nicke, höre ich, wie der Bleistift in ihrer Hand über den kleinen Notizblock auf ihrem Schoss kratzt. Das Geräusch ist unangenehm. Ich verabscheue es.

“Können Sie die Käfer beschreiben?”, erkundigt sich die Frau bei mir.

Ich überlege und mustere dabei die unspektakuläre Fassade des Gebäudes gegenüber der Praxis.

“Nun ja”, beginne ich. In meinem Kopf formt sich eine Erinnerung, die ich nur allzu gerne weiterhin verdrängt hätte.
“Sie haben Beine mit Borsten und einen Panzer aus Chitin”, antworte ich plump, schüttele mich angestrengt, als könnte ich so, das Bild, was sich hinter meinen Augen geformt hat, in seine Einzelteile zerstreuen. Was nur minder funktioniert. Die Krabbelviecher verbeissen sich hartnäckig unter meiner Schädelrinde und denken nicht einmal daran, einem anderen Individuum als mir das Leben zur Hölle zu machen. Mistviecher.

“Also sind es normale Käfer”, schlussfolgert meine Psychologin. Ich nicke wieder und verziehe das Gesicht. Als mein Fokus vom Fenster auf die Frau wechselt, die das Pech hat, mich therapieren zu müssen, registriere ich zum ersten Mal in dieser Therapiestunde ihre ratlose Mimik und hätte beinahe losgelacht, weil ich diese Frau dem Anschein nach, sehr verunsichere.

“Was denn? Was haben Sie denn erwartet?”, frage ich und kann das Schmunzeln nun doch nicht mehr unterdrücken. Meine Psychologin erwidert mein Schmunzeln mit einem leicht gezwungenen Lächeln.

“Zumindest nicht, dass Sie von Käfern träumen”, murmelt sie anschließend und blickt auf ihren Notizblock hinunter. “Das ergibt alles keinen Sinn”, sagt sie mehr zu sich selbst als zu mir.

Ich zucke mit den Schultern und starre wieder geradeaus aus dem Fenster. Die Fassade dort ist brüchig, genauso wie mein Verstand, seit du mir begegnet bist.


2. Spiders

“Wie viele Beine haben Spinnen, Marie, und wie viele Beine hast du?”

Wieder zuhause in meinen eigenen vier Wänden sitze ich am Esstisch mit einer heißen Tasse Kaffee und fühle mich elendig. Wenn selbst die Psychologin mir nicht helfen kann, wer sollte mir dann helfen können?

Der Gedanke geistert in meinem Kopf herum, bis mein Kaffee kalt und meine Lust, ihn zu trinken, völlig verschwunden ist. Also schütte ich ihn über dem Spülbecken aus. Dort entdecke ich eine kleine Spinne. Ich kneife die Augen zusammen und inspiziere neugierig die achtbeinige Kreatur, die es für eine gute Idee gehalten hat, ausgerechnet in meinem Spülbecken ihr Netz aufzuschlagen. Seltsames Wesen. Kurzerhand spüle ich sie runter. Als das erledigt ist, kauere ich mich in eine Ecke der Küche und weine bitterlich.


3. Path

“Die Menschen denken immer, sie haben eine Wahl, aber weisst du was, Mariechen? Manchmal haben sie keine.”

Ich laufe den Weg entlang, den ich gefühlt schon tausend mal abgegangen bin. Doch diesmal habe ich eine Schaufel dabei. Etwas merkwürdig ist es schon, ausgerüstet mit einer Schaufel unterwegs zu sein. Aber hier draußen entdeckt oder gesehen zu werden, halte ich für so unwahrscheinlich, dass ich sogar darauf verzichte, mir die Kapuze noch tiefer ins Gesicht zu ziehen als üblich. Hier ist nichts. Nur Bäume, Dreck und noch mehr Dreck und irgendwo in diesem Dreck erwarte ich etwas zu finden. Ich weiss nur nicht genau wo. Irgendwann wird die Schaufel so schwer über meiner Schulter, dass ich sie neben mir am Boden entlang schleife. Es hat auch angefangen zu regnen und zu donnern. Ob das ein schlechtes Zeichen ist oder etwa der Wink mit dem Zaunpfahl meine Suche endlich aufzugeben? Irgendetwas treibt mich weiter und nach links. Aus einem Impuls heraus folge ich der leisen Stimme in meinem Ohr, die ich mir vermutlich nur einbilde. Wie so vieles. Ich sollte wirklich aufhören zu Suchen und endlich anfangen zu Finden, sonst… Keine Ahnung, was sonst. Ja, sonst was?


4. Dodge

“Ich mag es eigentlich, wenn’s stinkt, wie sieht es bei dir aus, magst du es, wenn’s stinkt, Mariechen?”

In der Stadt versuche ich den Blicken der Passanten auszuweichen. Die glotzen mich an, als hätte ich etwas verbrochen. Allgemein mag ich es nicht, wie ein seltenes Museumsobjekt angestiert zu werden. Ich meine, ich weiss, dass ich seltsam aussehe. Ist nicht so, als hätte ich zuhause keinen Spiegel. Aber warum müssen die denn so starren? Am liebsten würde ich ihnen die Augen mit einem Eispickel aus den Höhlen rauskratzen. Oder Hacken, wie ein Vogel. Mit dem Schnabel. Pieks, pieks.

Vor einer Bäckerei bleibe ich stehen. Mein Bauch rumort und das Hungergefühl meldet sich zum Dienst. Wie automatisch greife ich mit der Hand in meine Manteltasche. Doch da ist nichts. Kein Geld. Fuck. Bin pleite. Wieder einmal.

Ich seufze und drücke meine Nase gierig gegen das kühle Glas des Schaufensters. Warum müssen leckere Sachen immer so teuer sein und warum bekommt man das, was einem so gar nicht schmeckt, kostenlos und ungefragt serviert?



5. Map

“Meine Eltern haben mich einmal nach Italien mitgenommen. Einmal und nie wieder. Ich bin mir sicher, sie hätten mich gerne dort zurückgelassen.”

Ich habe mir nun mit Buntstiften eine Karte gemalt. Besser gesagt, ich habe mir eine Karte aus dem Internet ausgedruckt und mit verschiedenen Farben die Orte farbig markiert, an denen ich bereits gewesen bin. Oder gesucht habe. Eigentlich bin ich keine Strategin, aber in der Verzweiflung überdenkt man seine üblichen Vorgehensweisen. Ob die Karte was bringt, weiss ich nicht, aber zumindest hat sie mich für ein paar Stunden gut abgelenkt.

In meinem Schlafzimmer funktioniert die Glühbirne nicht mehr und in der ganzen Wohnung ist es kalt. Früher hast du dich um diese Dinge gekümmert, weil ich sie allein nicht hinbekommen habe, doch seit du weg bist, traue ich mich nicht, jemand anderes zu fragen. Hätte nicht gedacht, dass ich das einmal sage, aber du fehlst mir.


6. Golden

“Blah, blah, blah, blah, blah.”

Vor deiner Tür stehen gerade Polizisten. Sieht ziemlich dämlich aus, wie die dort herumstehen und darauf warten, dass du ihnen die Pforte zu deinem Reich öffnest. Ich meine, ich muss auch bekloppt aussehen, so auf Zehenspitzen, um die richtige Größe zu haben, meine Glubscher gegen den Türspion zu drücken. Vielleicht sollte ich ihnen sagen, dass du nicht zuhause bist, aber das würde mich verdächtig erscheinen lassen. Außerdem ist es eine blöde Idee, den Hütern des Gesetzes im Pyjama vor die Augen zu treten. Nicht, dass ich mich für mein Outfit schämen würde. Wahrscheinlich ist mein Einhorn-Einteiler-Pyjama das einzig “Coole” an mir. Vorausgesetzt man steht auf Einhörner.

Den hast du mir geschenkt, erinnerst du dich? Mann, ist das blöd mit dir in meinem Kopf, Selbstgespräche zu führen, besonders, weil ich jetzt wieder daran denken muss, wie schön dein Goldzahn aufgeblitzt hat, wenn du mich angelächelt hast.



7. Drip

“Wahre Liebe hinterlässt nun mal Flecken, Marie. Du hast nicht richtig geliebt, wenn das Laken völlig nicht besudelt ist.”

“Also”, sprudelt es aus meiner Psychologin heraus. Diesmal klingt sie etwas aufgebrachter als sonst.  “Sie haben wieder geträumt und da war Blut in ihrer Dusche. Es ist von den Wänden getropft, richtig? Nicht von der Decke”, bohrt sie nach.

“Von den Wänden”, bestätige ich nüchtern und schaue wie so oft aus dem Fenster. Die Fassade des anderen Gebäudes ist noch immer brüchig und ich frage mich, ob das keinen außer mir stört. Irgendwie zerstört das doch das feine Stadtbild. Schließlich streben die Menschen bekanntlich nach Perfektion, warum lassen sie dann dieses Gebäude so elendig verkümmern?

“Darf ich Sie etwas fragen, Marie?”, erkundigt sich die Psychologin bei mir. Ich muss automatisch grinsen, weil das doch bereits eine Frage gewesen ist, die sie mir so unverblümt und ohne Erlaubnis einfach gestellt hat. Im Umkehrschluss heißt das, dass die nächste Frage, die sie mir stellen will, es echt in sich haben muss, warum sonst sollte sie fragen, ob sie diese Frage stellen darf. Also wappne ich mich innerlich und nicke. Bereit, ausgefragt zu werden.

“Haben Sie sich schon einmal selbst verletzt?”, dringt es aus der Psychologin heraus. Ich halte die Luft an und muss an all das Blut in meiner Dusche denken.

“Tut das nicht irgendwie jeder?”, setze ich zum Gegenangriff an.

“Sich selbstverletzen?”, schleudert meine Psychologin zurück und klingt dabei leicht pikiert oder gar schockiert. Ich kann es ehrlich gesagt nicht ganz deuten.

“Ja”, antworte ich und zucke mit den Achseln. “Sobald man jemanden in sein Leben hinein lässt, verletzt man sich doch damit selbst.”

Nun werden die Augen meiner Psychologin groß, als wollten sie nicht wahrhaben, was meinen Mund soeben verlassen hat.

“Empfinden Sie das so, Marie?”

Ich zucke wieder mit den Achseln. “Ist doch irgendwie so.”

8. Toad

“Von innen sehen Menschen viel schöner aus, als von außen."

In der Schule wurde ich früher oft als Kröte bezeichnet, weil ich schlimme Akne hatte. Als sonderbar wurde ich auch betitelt. Akne habe ich zwar keine mehr, aber sonderbar bin ich geblieben. Das bekomme ich so richtig zu spüren, als sexy Paul, Slogan: ein Schwanz wie ein Gaul, von meinem Bett aufsteht und ich allein darin liegen bleibe.

“Sag mal, machst du das eigentlich mit vielen Frauen?”, frage ich und höre mich piepsig dabei an, obwohl ich mir Mühe gebe, möglichst lässig und unbekümmert rüberzukommen.
“Das ist mein Beruf, Süße”, meint Paul leicht amüsiert, während er seine Hose über seinen prachtvollen Hintern schiebt.

“Ja, aber… hast du viele Kundinnen?”, bohre ich nach. In meinem Kopf hänge ich mich an dem Wort “Süße” auf, weil ich weiss, dass ich alles bin, aber ganz sicher nicht süß und auch, dass ich es nicht mag, wenn Männer mich anlügen. Aber Lügen ist wohl Teil von Pauls Profession als sogenannter Callboy. Lügen und Schönreden. Und ficken, ja, das auch.

“Du bist heute aber eine kleine Wundernase, bist doch sonst nicht so gesprächig”, plappert Paul los und scheint sein Shirt zu suchen. Auf meinem Schreibtisch wird er fündig. Ich beobachte ihn, wie er sich anzieht und schmolle innerlich, weil ich weiss, dass ich mir Paul erst wieder in zwei Monaten leisten kann und er in der Zeit viele Frauen wie mich beglücken wird.

Ich begleite ihn noch zur Tür und als er mir einen Abschiedskuss auf die Stirn gibt, wünsche ich mir, ich wäre so normal, wie all die anderen Frauen dort draußen, die einen Paul abbekommen, ohne dafür zahlen zu müssen.



9. Bounce

“Weisst du, was das Schlimmste ist, was eine Mutter ihrem Kind antun kann, Marie? Es hungern lassen. Es elendig verhungern lassen.”

Ich hätte Paul bitten sollen, die Glühbirne im Schlafzimmer auszuwechseln. Das wird mir so richtig bewusst, als ich mich hüpfend und fluchend auf der Matratze vorfinde, weil mir das Ding beim Versuch, sie auszutauschen, einen kleinen Stromschlag verpasst hat. Dann eben ohne Licht. Oder ich besorge mir Kerzen, auch wenn mein Budget mir sagt, dass Kerzen diesen Monat nicht drin sind, wenn ich auch etwas essen möchte und weil ich auf Paul nicht verzichten konnte.

Frustriert finde ich mich wenig später in der Badewanne vor. Natürlich ohne Wasser. Ich sitze einfach drin und starre geradeaus. Das Gefühl, dass mir die Zeit abläuft, bringt mich beinahe um. Als wäre mein Leben nicht ohnehin schon schwer, machst du es mir umso schwerer.


10. Fortune

“Ich wollte immer Doktor werden, aber um Doc zu werden, braucht man Grips. Hast du Grips, Marie? Soll ich einmal nachsehen?”

“Glauben Sie eigentlich an Glückskekse?”, frage ich meine Psychologin, während ich aus dem Fenster glotze und mich wie üblich in Gedanken über die Fassade aufrege.

“Sie wissen schon, diese Sprüche, die man in Glückskekse verpackt. Glauben Sie, dass das, was auf diesen Sprüchen steht, auch auf einen zutrifft?”

“Glauben Sie denn daran?”, nervt mich meine Psychologin mit einer Gegenfrage, als ob ihr wirklich wichtig wäre, zu wissen, ob ich daran glaube oder nicht, bevor sie ihre Antwort zu dem Thema abgibt. Blöde Kuh.

Ich lehne mich im Sessel zurück, gebe ein bockiges “Nö” von mir und gucke meine Psychologin an. Anders als ich, ist sie eine echt schöne Frau. Blond, blauäugig, tolle Figur, faltenloses Gesicht. Manchmal frage ich mich, ob eine Frau wie sie wirklich nichts Besseres den ganzen Tag zu tun hat, als sich das Gejammere von Menschen wie mir anzuhören - doch dann fällt mir wieder ein, dass sie wie Paul ist. Sie wird dafür bezahlt, sich mit mir abzugeben, also tut sie es, auch wenn sie sich insgeheim vor mir ekelt.

“Ich hatte mal einen Glückskeks, in dem stand, dass ich schön sei und viele von meiner Schönheit geblendet seien”, erzähle ich und erinnere mich gleichzeitig an den Moment zurück, als ich den Glückskeks ausgepackt, gefressen und die Verpackung davon in den Müll geworfen habe. Die Erinnerung treibt mir die Tränen in die Augen und das Lachen ins Gesicht. Ich lache unerwartet los und höre erst auf, als meine Psychologin sich zu mir vorlehnt und eine ernste Miene aufsetzt.

“Ist es Ihnen wichtig, schön zu sein, Marie?”, erkundigt sie sich bei mir.

“Ist es Ihnen denn wichtig, schön zu sein?”, kontere ich gekonnt,  denn wie man kontert, habe ich gerade von ihr gelernt. Ich sehe für einen kurzen Augenblick Verwirrung in ihrem schönen Antlitz aufblitzen, bis sich die Frau innerhalb weniger Sekunden wieder professionell gefangen und von meiner Gegenfrage erholt hat. Nochmals, blöde Kuh.

“Es gibt wichtigere Dinge im Leben als das Aussehen, Marie”, meint meine Psychologin. In einer fließenden Bewegung streicht sie sich eine blonde Haarsträhne nach hinten, die sich aus ihrer ach so tollen Frisur gelöst hat. Damit ist das Thema dann wohl beendet, weil so eine Aussage nur von schönen Menschen getätigt werden kann, die das Problem, nicht schön zu sein, nicht kennen und ich mein Pulver dahingehend verschossen habe, weil ich schon lange nicht mehr schön bin.

“Haben Sie wieder von den Käfern geträumt?”, lenkt meine Psychologin ab, und in ihren bezaubernden und allwissenden Augen sehe ich, dass sie die Antwort auf diese Frage bereits kennt.

11. Wander

“Jeder Mensch ist austauschbar, genauso wie seine Organe austauschbar sind.”

Eigentlich habe ich keine Lust mit der Schaufel durch den Wald zu wandern. Ganz besonders, weil es mal wieder regnet. Es sind nun mehr die Käfer geworden, die mich dazu treiben, weiterzumachen und weiter zu suchen, selbst dann, wenn es wie heute aus Eimern schüttet. Das Blätterdach über meinem Kopf fängt zwar das meiste ab, aber meine Schuhe stampfen trotzdem durch den ekligen Matsch. Zu allem Überfluss sind die nicht einmal wasserdicht. Naja. Nicht mehr. Sie waren es mal, aber jetzt sind sie alt und durchgelatscht und nach diesem Trip völlig hinüber.

Während ich so durch das Geäst wate, kommt es mir so vor, als wäre ich hier überall schon einmal gewesen. Alles wirkt irgendwie vertraut und dennoch fremd.

Ich muss an die Käfer denken und daran, dass sie mich nicht mehr in Ruhe lassen. Vielleicht ist das wie bei einer Sanduhr, nur halt umgekehrt. Statt dass die Biester weniger werden, vermehren sie sich unkontrolliert.



12. Spicy

“Ich habe mir den kleinen Finger abgeschnitten, einfach, um herauszufinden, wie er schmeckt.”

Ich mag kein scharfes Essen. Ich habe scharfes Essen noch nie gemocht. Man kann einen sogar quälen, wenn man ihn zwingt, etwas zu essen, was er nicht mag. Das ist wie eine Foltermethode, bloß ist sie auf den ersten Blick nicht als solche ersichtlich. Da bekommt der Spruch “Liebe geht durch den Magen” irgendwie einen bizarren Bei- oder Nachgeschmack. Je nachdem ob man noch kaut oder den Brei bereits hinunter geschluckt hat. Der Teller vor mir ist leer und dieser Umstand fühlt sich genauso an, wie wenn man von niemandem geliebt wird. Da sind keine Schmetterlinge im Bauch, nur Käfer in meinem Kopf. Ich stehe von meinem Stuhl auf und stelle mir die Frage, ob Mastschweine demnach ganz besonders geliebt werden und ob Liebe in dem Fall tödlich ist. Will man geliebt werden, wenn man davon sterben kann?

Der Gedanke lässt mich erst los, als ich die Kühlschranktür öffne und dort ein Foto von dir im Bilderrahmen sehe. Wirklich daran erinnern, wie es dort hinein gekommen ist, kann ich mich nicht mehr, ich weiss nur, dass ich es gestern noch für eine gute Idee gehalten habe, es vorerst dort zu belassen.

13. Rise / erheben

“Ich glaube, du bist die einzige Frau auf diesem gottverdammten Planeten, die mich versteht, Marie. Ob das an deinen Ohren liegt?”

“Marie, ich will Ihnen mit dieser Frage nicht zu nahe treten, aber kann es sein, dass Sie wieder abgenommen haben?”, erkundigt sich meine Psychologin bei mir. Ihre Stimme klingt tatsächlich ein wenig so, als würde ihr dieser Umstand etwas Sorgen bereiten. Ich antworte mit einem selbstsicheren “Nö”, nicht bereit ihr oder mir einzugestehen, dass mir Bumsen mit Paul wichtiger war, als an Gewicht zuzulegen. Ich ziehe instinktiv meinen dicken Oversize-Pullover tiefer und bis zu meinen Knien hinunter, als könnte ich so meine dürren Oberschenkel vor der Frau verbergen.

Dieses ungeschickte Manöver lässt die linke Augenbraue meiner Psychologin skeptisch in die Höhe schießen. Hat mich wohl verraten, dennoch pressen sich die Lippen der blonden Frau aufeinander, als müsste sie sich eine Bemerkung verkneifen. Statt mich zu belehren, dass Essen wichtig ist und ich mehr auf mich achten sollte, zückt die Psychologin ihr heißgeliebtes Notizbüchlein hervor, mit dem sie mich so gerne drangsaliert.

“Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir über ihr Gesicht reden und über das, was er Ihnen angetan hat, Marie. Was meinen Sie?”, startet sie nach einer kurzen Pause. In einer Parallelwelt sehe ich mich, wie ich mich von meinem Stuhl erhebe, zu ihr herüber gehe und sie mit ihrem Notizbuch erschlage. In meiner Welt sitze ich bloß da und hätte mich beinahe eingepisst. Die Blase ist schon seit geraumer Zeit voll, aber jetzt wird das Bedürfnis sie zu entleeren, drückend. Genauer gesagt: erdrückend.

“Ich finde nicht, dass wir darüber reden müssen”, piepse ich und kämpfe auf verlorenem Posten. Meine Psychologin ist gnadenlos. Ich wusste schon vorher, dass sie es liebt, in offenen Wunden herum zu puhlen, doch nun fühle ich mich wie auf dem Seziertisch.

“Was denken Sie, warum er Ihnen das angetan hat, Marie?”, beginnt Frau Erbarmungslos mit ihrem Verhör. Der Bleistift kratzt über das Blattpapier, noch ehe ich eine Antwort auf die unangenehme Frage formuliert habe, als wüsste das Miststück von einem Doktortitel bereits, was ich von mir geben werde.

“Was meinen Sie?”, versuche ich mich zu retten. Meine Psychologin lächelt nur träge. Sie kennt meine Spielchen. Schließlich spielen wir das schon lange.
“Was denken Sie, warum hat er Ihnen Säure ins Gesicht gekippt?"

14. Castle

“Und der Prinz führt seine Prinzessin in sein Schloss hinein. Es war schön, so wie es sich für eine Prinzessin gehört.”

Als Kind baut man sich gerne Luftschlösser. Als erwachsene Person merkt man, dass für jedes Schloss, das man sich erbaut, es auch die entsprechende Abrissbirne dafür gibt. Nein, warte, als erwachsene Person schaufelt man sich Gruben, in die man all seine Wünsche, Träume und Sehnsüchte hinein verfrachtet. Genau. So ist es richtig. Und dann schaufelt man das Loch einfach wieder zu. Oder man macht es wie ich, streift mit der Schaufel orientierungslos im Wald umher und sucht nach der Grube, die jemand zuvor geschaufelt und zugeschüttet hat.

Vielleicht muss ich es mehr wollen, dann würde das mit dem Finden auch endlich klappen. Die Zeit sitzt mir im Nacken, meine Füße tragen mich nicht mehr weit und die Schaufel gleitet aus meiner vom Schleppen müden Hand. Gerade als ich sie aufheben will, die Schaufel, nicht die Hand, kreuzt ein Käfer meinen Weg. Ein dickes Exemplar und ich kann die Art sogar benennen. Ein Borkenkäfer. Gehört zur Familie der Rüsselkäfer. Sie erreichen eine Größe zwischen 0.7 und 12 Millimeter und dieser ist hier besonders groß. Ich folge dem flinken Racker mit meinen Augen, vorbei an ein paar Steinchen, Tannenzapfen... und dann, von einer Sekunde auf die nächste, ist es, wie wenn ein Blitz in mich einfährt. Mir wird plötzlich ganz warm. Mein ganzer Körper brennt. Ist wie elektrisiert. Ja. Hier. Hier ist es. Das, wonach ich gesucht habe. Ich habe es gefunden.


15. Dagger

“Es gibt für jeden Menschen das passende Werkzeug. Es dauert nur ein wenig, bis man herausgefunden hat, welches Werkzeug für welchen Menschen passt.”

Ich sitze in der Wanne und heute nervt es mich ganz besonders, auf eine Armprothese angewiesen zu sein. Klar, ich habe noch die linke Hand, doch mit der linken Hand bin ich nicht geschickt genug, das Schloss der Schatulle zu knacken. Schon gar nicht mit dem Dolch, mit dem ich es schon seit gefühlt Stunden vergebens probiere. Entweder rutsche ich ab und steche mir dabei Ausversehen mit der Spitze in mein Bein oder ich stelle mich so ungeschickt an, dass die Schatulle in die Wanne fällt und die Keramik zerkratzt. Der ganze Dreck erschwert das Unterfangen zusätzlich auch noch ungemein.

Jetzt habe ich zwar gefunden, was ich gesucht habe, doch ich kriege das blöde Ding nicht auf.

16. Angel

“Du bist so schön, Mariechen, du hast bestimmt viele Verehrer.”

“Denken Sie nur schlechten Menschen widerfährt Böses?”, frage ich meine Psychologin. Diese stiert wie so oft in ihren Notizblock hinein. Ihr blondes Haar trägt sie heute offen und allgemein sieht sie so aus, als hätte sie heute nach unserem Termin ein Date. Die blauen Augen sind geschminkt. Auf ihren Wangen glänzt ein zart rosafarbenes Rouge. Die Lippen sind im gleichen Rosa-Ton bemalt.

“Können wir nochmal über die Käfer sprechen, Marie?”, lenkt meine Psychologin vom eigentlichen Thema ab, immer noch vertieft in ihre Notizen. Sie hebt nicht einmal ihren Blick. Normalerweise fällt mir sowas nicht auf, weil ich für gewöhnlich aus dem Fenster starre, während sie in ihr schlaues Büchlein glotzt. Seit unserer letzten Sitzung hat sich aber etwas Wesentliches geändert, denn ich komme mir nicht mehr vor wie eine Patientin, die Hilfe braucht, vielmehr wie ein Forschungsobjekt, was es zu studieren gibt.

„Was soll mit den Käfern sein?“, blaffe ich die Frau an. Diese guckt kurz über den Rand ihres Büchleins, nur um wenig später erneut mit der Nase zwischen den Seiten zu versinken.

„Wie fühlen sie sich, wenn die Käfer in ihrem Kopf sind? Aufgebracht?“, erkundigt sie sich und linst zu mir herüber. Ich verdrehe genervt die Augen.

„Natürlich wühlt mich das auf, wenn sie in meinem Kopf sind. Aber ich werde nicht aggressiv oder so.“

„Reden die Käfer mit ihnen, Marie? Die Käfer? Sagen sie etwas?“, bohrt meine Psychologin weiter. Ich höre das nervige Kratzen des Bleistifts und frage mich, was die Frau sich so wichtiges notiert. Etwa ihre eigene bescheuerte Frage?

„Käfer können nicht sprechen“, murmle ich und schiele zur Fassade. Brüchig wie eh und je.

„Also sind sie einfach da. In ihrem Kopf und in ihren Träumen? Sie sprechen nicht mit Ihnen.“

Ich nicke einfach, weil mir das Thema plötzlich unangenehm ist. Wahrscheinlich weil die Situation unangenehm an sich ist. Sie mit ihrem blöden Block. Ich - hier abgestempelt als diejenige, die Käfer im Kopf hat.

„Wissen Sie, was ich glaube, Marie?“, prompt landet der Notizblock auf dem Schoß und die blauen Augen auf mir. Nicht wortwörtlich.

„Was glauben Sie?“, frage ich nach und komme mir blöd dabei vor.

Meine Psychologin setzt ein komisches Lächeln auf, ehe sie lässig die Beine übereinander schlägt und sich in ihrem Sessel zurücklehnt.

„Ich glaube, Sie waren es selbst.“

„Was meinen Sie?“

„Sie haben sich selbst die Säure ins Gesicht gekippt.“

„Warum sollte ich das tun?“

„Weil sie auch kein Engel sind, Marie.“


17. Demon

“Eigentlich mag ich Menschen lieber, wenn sie ruhig und still sind. Glaubst du mir das, Mariechen?”

Die Worte der dämlichen Psychologin hallen auch noch zuhause nach. Wie ein unangenehmes Echo, das man nicht mehr los wird, dröhnen sie in meinen Ohren und zermürben meinen Käfer verseuchten Verstand. Ja, gut, ich bin kein Engel, ja, aber wenn ich kein Engel bin, dann ist meine Psychologin ganz klar ein Dämon oder irgendetwas anderes, was in der Hölle erschaffen worden ist und da fortan rumfleucht.

Eigentlich kann ich der Frau nicht böse sein. Sie kennt dich nicht. Sie weiß nur, dass du existierst und dein Name „du“ ist. Oder „er“ oder „ihn“. Ich will ihr deinen Namen nicht verraten. Der geht sie auch gar nichts an. Genauso wenig wie sie meine Narben angehen. Oder meine Prothesen. Keine Ahnung, warum ich überhaupt zu ihr gehe. Wahrscheinlich weil ich einfach mit irgendjemandem reden muss, weil du nicht mehr da bist. Und die Käfer können mir auch nicht weiterhelfen. Im Gegenteil. Sie gehen mir auf die Nerven. Sie piesacken mich die ganze Zeit, als hättest du ihnen den Befehl gegeben, genau das zu tun.

Jedenfalls habe ich nun eine Haarklammer und mit Haarklammern lassen sich bekanntlich Schlösser öffnen. Selbst die hartnäckigen. Doch manche Schlösser sollte man in Ruhe lassen. Besonders das hier.

Als es knackt, öffne ich langsam den Deckel der Schatulle und als ich erblicke, was dort auf mich gewartet hat, wird mir speiübel. So übel, dass ich mich über der Kloschüssel übergeben muss. Es dauert eine Weile, bis nichts mehr kommt und wenn wir einmal ehrlich sind, kam von Anfang an nur Magensäure raus.

Mit zittrigen Fingern fische ich den Schlüssel aus der Schatulle heraus. Er sieht aus wie ein normaler Schlüssel, wäre da nicht dieser kleine Käfer auf dem Schlüsselkopf, der die Käfer in meinem Kopf verrückt spielen lässt. Die feiern unter meiner Schädelrinde regelrecht eine Party. Nur ich bin nicht erfreut über meinen Fund. Natürlich schon, dass ich ihn endlich gefunden habe, aber das heißt auch, dass die Suche nun weitergeht.





18. Saddle / Sattel

“Immer wenn ich an einer Weide vorbeilaufe, male ich mir die absurdesten Dinge aus, Marie. Du weißt schon. Geht's dir auch so? Willst du es einmal ausprobieren?”

Ich war nie eins dieser klassischen Pferdemädchen, die sich nicht vom Sattel lösen konnten. Ich war schon immer irgendwie anders, meine Interessen unterschieden sich von den anderen Mädchen in meiner Altersstufe. Und ich hatte bereits als Kind diese Obsession mit dem Tod. Kadaver haben etwas Faszinierendes an sich. Ja, an den Geruch muss man sich erstmal gewöhnen. Der beißt in der Nase. Aber hat man diese Abscheu einmal überwunden, gibt es viel zu entdecken, denn jeder Tote erzählt eine Geschichte.

Ich hingegen werde nicht schlau aus dir, als ich in deiner Wohnung stehe, zu der mir der Schlüssel Zugang gewährt hat. Es riecht etwas muffig. Staubpartikel tanzen in der Luft herum, als ich die Vorhänge vorsichtig zur Seite ziehe und die Sonne in deine dunkle Gruft hinein lasse. Instinktiv frage ich mich, wie lange du nicht mehr hier gewesen bist und zähle die Tage. Ehrlich gesagt, kann ich nicht genau benennen, ab welchem Zeitpunkt du wirklich weg warst. Ich weiss nur, irgendwann sind die Käfer aufgetaucht. Und dann die Polizei.

In deinem Reich zu sein, überfordert mich ein wenig, weshalb ich mich auf dein Sofa fallen lasse und ein paar Sekunden brauche, um so richtig anzukommen. Statt eines Fernsehers an der Wand entdecke ich Chemikalien auf deinem Regal. Da sind auch Bilder, die auf so manchen vielleicht verstörend wirken könnten. Gerade als ich mich aufrichten und das eine ausführlicher betrachten will, huscht eine Kakerlake über den fleckigen Teppichboden.

“Na, kleiner Freund”, begrüsse ich das winzige Geschöpf, doch das sechsbeinige Insekt hat wohl keine Lust auf Smalltalk, es galoppiert unbeirrt weiter durch dein Wohnzimmer bis es hinter der nächsten Ecke verschwindet, als wäre es nie da gewesen.

Ich hole das Bild aus dem Regal. Es handelt sich um eine Fotomontage. Zu sehen sind Finger, die du zu einer Sonne oder einer Blume angeordnet hast. Beides ist möglich. Ich zähle neun an der Zahl. Zwei Zeigefinger, zwei Mittelfinger, zwei Ringfinger, zwei kleine Finger und einen Daumen. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin. Mittelfinger, Ringfinger und Zeigefinger sind nicht so leicht zu unterscheiden, aber der Daumen, der sticht hervor. Auf dem Nagel dieses speziellen Fingers ist eine Zahl eingraviert. Oder eingebrannt. Schwer zu sagen bei einer schwarz-weiss Aufnahme, die wirkt, als wäre sie mit einer sehr alten Kamera aufgenommen worden.

Mein Blick bleibt an der 9. eine Weile lang kleben. Neun Finger. Die Zahl neun. Eigentlich einleuchtend. Auch auf den restlichen vier Bildern finde ich Zahlen vor. Drei Zehen, ein weiblicher Torso, acht Zähne und eine Zunge.

Vielleicht ist das ein Zahlencode. Das würde irgendwie zu dir passen. Du liebst Zahlen. Bloss: Welches Schloss lässt sich damit knacken? Und was ist mit der Reihenfolge? Von rechts nach links oder links nach rechts oder hast du dir was ganz Ausgefallenes überlegt?


19. Plump / rundlich, mollig

“Dick und prall müssen sie sein. Dick und prall will ich in sie rein. Dick und prall und ohne Bein, ja, dick und prall, das finde ich fein!”

Im Supermarkt finde ich mich neben einer molligen Frau vor. Wir stehen beide vor dem Süßigkeitenregal. Mein Bauch tut weh. Ich habe gefühlt seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen. Blöder Paul. Warum muss der auch so teuer und ich so willig sein? Wobei ich mich mehr nach der Nähe sehne, wie nach dem Sex. Aber auch Nähe ist kostspielig. Entweder kostet sie Geld oder Zeit und beides ist bei mir rar.

Ich schiele zu der dicken Frau hinüber und frage mich, ob sie einen Paul zuhause hat, einen, für den sie nicht bezahlen muss. So dick, wie sie ist, wird sie jedenfalls genug Knete in der Tasche haben, um sich einen leisten zu können. Für einen kurzen Moment überlege ich, sie anstelle des Supermarkts zu überfallen - fühle mich aber schlecht dabei. Weshalb ich die Packung Kekse so unauffällig wie möglich versuche unter meinen dicken Pulli zu schieben. Im Augenwinkel nehme ich wahr, dass die Dicke zu mir herüber sieht, kurz mit sich hadert und dann beschließt, mich mit meinem Raub durchkommen zu lassen.

Im Stillen danke ich ihr dafür, ehe ich mit den Keksen erfolgreich davon stiefele. Wahrscheinlich hat meine Psychologin recht. Ich bin kein Engel. Engel klauen nicht.

20. Frost

“Ist dir etwa kalt, Mariechen?”

Tiefkühltruhen. Ja. Das ergibt Sinn, denn wo bewahrt man Dinge auf, die schnell vergänglich sind und anfangen können zu stinken, wie zum Beispiel so etwas wie Finger oder Zungen? In einer Tiefkühltruhe und genau so eine finde ich in deinem Kellerabteil vor. Öffnen lässt sie sich leicht und was ich darin vorfinde, überrascht mich tatsächlich ein wenig. Tiefkühlerbsen. Pizzen. Der gewöhnliche Schnickschnack. Ich muss tief wühlen, bis ich wirklich fündig werde und eine weitere Schatulle zwischen all den gefrorenen Speisen vorfinde.

Eine Schatulle mit Vorhängeschloss.

Nun brauche ich nur noch die richtigen Zahlen und die richtige Reihenfolge für des Rätsels Lösung.

Ich verkrümele mich mit meinem Fund in deine Wohnung und pflanze mich auf dein Bett. Die Laken sind zerwühlt und duften nach dir. Wie dein Teppichboden ist auch deine Matratze mit zahlreichen Flecken übersät. Ich betrachte die Rot- und Brauntöne etwas ausgiebiger, stutze, als ich auch Haare an einer besonders verkrusteten Stelle vorfinde. Ich puhle sie mit dem Fingernagel frei und lege sie anschließend auf meine Handfläche - dann komme ich mit meinem Gesicht ganz nah und rieche vorsichtig daran. Normalerweise riechen Haare, aber wenn es nur so wenige an der Anzahl sind, riechen sie irgendwie nach gar nichts. Sie sind blond und lang wie die meiner Psychologin. Die Erkenntnis erheitert mich unwillkürlich. Ich spüre sogar ein kleines Lächeln auf meinen Lippen, ein minimales Ziehen an meinen Mundwinkeln. Vielleicht drehe ich wirklich so langsam durch.

Ich verwerfe den Gedanken und widme mich wieder der Schatulle, die vor mir liegt. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit und trotzdem nehme ich es mir heraus, einige Kombinationen auszuprobieren. Das mache ich so lange, bis ich die Lust daran verliere und mich rückwärts in deine Matratze sinken lasse. An der Decke hängen Poster aus Erotikmagazinen, die du dir wahrscheinlich schon etliche Male angesehen hast. Wenn du… diese speziellen Dinge getan hast. Kaum denke ich an sowas, spielen die Käfer in meinem Kopf verrückt. Ich höre ihre Beine kratzen, ihre Flügel schlagen und andere Geräusche, die mich dazu verleiten, meine linke Hand fest gegen mein linkes Ohr zu pressen. Beinahe hätte ich mir auch die Prothese ins Gesicht gehauen, doch bevor es dazu kommt, wird mir etwas ganz plötzlich klar.

Eigentlich ist es total offensichtlich.

Man muss dich nur kennen.

Dann errät man, wo du dein Geheimnis versteckt hast.


21. Chains

“Hast du dich jemals gefragt, warum die Klopapier mit sowas wie Blumen bedrucken, Mariechen? Als ob’s dann weniger nach Scheisse riecht, wenn man sich mit Blumen den Arsch abwischt.”

Die Poster liegen zerfetzt neben mir, die Schatulle ist geöffnet und deren Inhalt fängt allmählich an, aufzutauen. Ich glotze auf den Finger hinab, den du mit einem rosafarbenen Schleifchen versehen hast. Auch der Nagel ist rosa lackiert. Automatisch sehe ich meine Psychologin vor mir. Ihre rosafarbenen Lippen, das rosafarbene Rouge. Ja, der Finger würde zu ihr passen - und nicht nur das fällt mir auf, sondern auch, dass ich nie wieder zu meiner Psychologin gehen werde. Eigentlich war mir das schon klar, als wir uns, also sie und ich, das letzte Mal gesehen haben. Sie ist mir zu nahe getreten und ich mag es nicht, wenn man mir zu Nahe tritt. Das darfst nur du. Besser gesagt, das durftest nur du. Mir nahe treten. Das war dein Privileg. Außerdem verabscheue ich diese dämliche und brüchige Fassade, die ich immer anstarren muss, wenn ich bei dieser Psychologin bin. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich die einzige Person bin, die sich an dieser brüchigen Fassade stört und warum nichts dagegen unternommen wird. Man könnte das Gebäude dem Erdboden gleich machen und ein neues dorthin bauen. Eins mit einer schönen Fassade. Das ist doch das, was Menschen gerne tun. Unschöne Dinge kaputt machen und gegen schöne Dinge ersetzen.

Wie so oft, wenn ich mich aufrege, fängt mein Gesicht an zu jucken. Ich will kratzen, doch kratzen bringt nichts. Kratzen bringt nur was, wenn der Juckreiz echt ist. Dann bringt Kratzen was, zumindest hast du mir das so beigebracht. Ich soll nicht kratzen, das seien nur Phantomschmerzen, die ich da spüre. Ich hasse es, wenn du recht hast, genauso wie ich es hasse, dass die Käfer in meinem Kopf plötzlich allesamt die Klappe aufreißen und kein Einziger was sagt. Da kommt kein Laut aus ihnen raus.

Kurzerhand beschließe ich sie zu ignorieren und mich dem Finger zu widmen. Irgendwann wird er anfangen zu stinken. Bis dahin muss ich herausfinden, wo der Rest vom Finger ist. Dafür schleiche ich aus deiner Wohnung und zurück in meine. Dort hole ich die selbstgebastelte Karte und finde mich wenig später auf deinem fleckigen Teppich vor. Mit Finger und Wegweiser.

Ich klappere alle Stellen, an denen ich bereits gesucht habe, nochmals mit den Augen ab und mache einen Kreis um die Fundstelle. Wahrscheinlich wäre dieses Unterfangen viel einfacher, wenn ich wüsste, was genau ich suche. Ich habe einen Schlüssel und einen Finger und eine Menge Fragen. Und da sind auch noch die Bilder in deinem Wohnzimmer. Ich werfe nochmals einen Blick auf die Kunstwerke.

Neun Finger. Drei Zehen, ein weiblicher Torso, acht Zähne und eine Zunge.

Wo der zehnte der neun Finger ist, ist selbsterklärend. Den hab ich. Hier. Also fehlen mir noch sieben Zehen, zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf, und wahrscheinlich 24 Zähne. Das ist ganz schön viel Mensch, was mir fehlt, in Anbetracht der Zeit, die mir noch bleibt.

Wenn man alles zusammen addiert, kommt man auf die Zahl 36. 36 Teile. Was fällt mir zu der Zahl 36 ein? Na los. Streng dich an Marie. Denk nach.

Gesunde Menschen haben eine Körpertemperatur von 36 bis 37 Grad Celsius. Der Finger wurde heruntergekühlt auf ungefähr - 18 Grad Celsius und ist dann acht bis 12 Monate haltbar. Moment mal. Vielleicht muss ich den Finger kochen? Ist es das, was du von mir willst?

Ich schiele zu deiner Küche, dann hieve ich meinen Körper vom Boden hoch und dackele mitsamt Finger Richtung Herdplatte. Wenn ich den jetzt koche, zerstöre ich Beweismaterial. Andererseits… wenn ich ihn nicht koche, komme ich auch nicht weiter. Außerdem weiss ich sowieso nicht, in welchem Team ich spiele. Spiele ich für dich oder gegen dich?

Ich ziehe Schubladen auf und es dauert, bis ich einen geeigneten Kochtopf zwischen all den Messern und anderen Werkzeugen finde. Ich fülle ihn mit Wasser und stelle ihn auf die heiße Platte. Kurz überlege ich noch, den Nagellack vom Finger zu entfernen, ist mir aber schlussendlich egal. Landet der Finger halt mit pinkem Lack im siedenden Wasserbad. Essen werde ich ihn ja sowieso nicht. Sowas kann man echt nicht von mir verlangen. Nach ungefähr fünfzehn Minuten hole ich das Stück Fleisch aus dem Sud.

Wirklich schlauer als zuvor, bin ich nicht, als ich den Finger auf dem Teller betrachte. Andere Farbe, andere Konsistenz. Tja, vielleicht liegt die Lösung des Rätsels darunter. Unter der Haut.

Ich nehme einen Schäler aus der Besteckschublade und beginne zu schälen. Schicht um Schicht und als mir das zu lange dauert, nehme ich ein Messer. Erst als der Knochen freiliegt, realisiere ich, wie blöd ich bin. Als ob du dort einen Hinweis hättest verstecken können. Wie denn? Ist doch gar nicht möglich.

Ich will den Finger und seine Überreste schon wutentbrannt in der gesamten Küche verteilen, da macht es wie aus Geisterhand Klick in meinem Kopf. Der Daumen. Auf dem Bild in deinem Wohnzimmer war auf dem Daumen eine Zahl eingraviert. Was ist, wenn auf dem Nagel dieses Fingers hier ebenfalls eine Zahl eingraviert ist? Unter dem scheußlichen, pinken Nagellack?

Dem Nagellack ist das Wasserbad nicht gut bekommen, trotzdem schaffe ich es, den Nagel mit Nagellackentferner vom bösen Lack zu befreien. Und siehe da. Auf dem Nagel ist etwas eingraviert. Keine Zahl, nein, ein Gegenstand. Ein kleiner Kochtopf. Ich haue mir mit der Hand einmal fest gegen die Schläfe  und verfluche mich, dann renne ich schnell zurück in die Küche und nehme den Kochtopf ins Visier. Ich drehe ihn einmal um und finde den nächsten Hinweis, … der mich überhaupt nicht weiterbringt.

Ein Symbol ist in die Beschichtung eingeritzt und das Symbol sieht aus wie eine Kette. Eine Art Rundstahlkette.

Was willst du mir denn nun damit sagen?





22. Scratchy

“Mariechen, du musst aufhören, dich selbst zu verletzen. Ich kann das für dich tun. Ich bin sehr gut darin, andere zu verletzen.”

Ich habe überall in deiner Wohnung nach einer Kette gesucht und keine gefunden. Aber ich bin der kleinen Kakerlake begegnet und habe ihr die Überreste des Fingers geschenkt. Immerhin ein Käfer ist zufriedengestellt, die anderen toben noch immer in meinem Kopf und kratzen an meiner Schädelrinde herum, als wollten sie endlich in die Freiheit entlassen werden.

Doch du machst es mir schwer.

Sehr schwer.

Nun sitze ich mit deinem Topf und meiner Karte im Wohnzimmer herum, während Kaki, die Kakerlake, ein Festmahl neben mir genießt. Ja, so habe ich sie getauft und du kannst rein gar nichts dagegen tun, weil du nicht da bist. Geschieht dir recht. Selbst schuld, wenn du mich und dein Haustier alleine hier zurücklässt.

Genug davon. Was ist mit der Kette? Ja, was soll mit ihr sein? Wohin soll sie mich führen? Ich erinnere mich daran, dass du mir mal eine Kette geschenkt hast. Also ein Schmuckstück, keine zum Festbinden oder fürs Handwerk. Sie hatte so einen süßen kleinen Anhänger. Ein Käfer. Genauer: ein Hirschkäfer. Aus Gold. Hirschkäfer sind selten in der Natur. Sie sehen gefährlich aus, sind aber ganz harmlos. Bei dir ist es andersrum, das hast du mir damals gesagt, als ich das Geschenk ausgepackt habe. Du siehst harmlos aus, bist aber gefährlich. Selten bist du auch, sogar eher einzigartig. Ich kenne zumindest keinen, der so ist wie du. Was auch noch besonders am Hirschkäfer ist, ist, dass Hirschkäfer-Männchen mit seinen Geweihzangen versuchen, potentielle Rivalen zu vertreiben. Das stärkere Hirschkäfer-Männchen bekommt dann das Weibchen. Bei Menschen ist es irgendwie ähnlich, nur dass das dort Weibchen mitbestimmen darf.

Ich seufze und starre auf die Karte hinunter. Irgendetwas übersehe ich, ich weiss nur nicht was.

Kaki neben mir hat derweil vom Daumen abgelassen. Angewidert nehme ich die Überreste etwas genauer unter die Lupe. Keine Ahnung wieso. Nennen wir es eine makabere Faszination für das Makabere. Ich schiebe den Teller ganz nah an mich heran, dann beuge mich hinunter, bis meine Nasenspitze fast die Keramik-Platte berührt und strecke dabei wie beim Yoga meinen Hintern in die Luft. Eklige, zerfetzte Fleischstücke, runzlige Haut und mittendrin in dem abscheulichen Massaker schimmert der weisse, dünne Knochen hervor. Prompt fallen mir mit einem Schlag die Tomaten von den Augen. Das ist es! Eine Kette hat Glieder und ein Finger respektive ein Daumen hat ebenfalls Glieder. Das ist der gemeinsame Nenner, nach dem ich vielleicht nicht gesucht, aber den ich nun gefunden habe.

Ein Daumen hat zwei Glieder und die Kette auf dem Topf hat…. Ich drehe den Topf um und begutachte mit einem viel zu breiten Grinsen im Gesicht das Kunstwerk, das du in der Beschichtung hinterlassen hast. Ich tippe mit meinem Finger dagegen und beginne laut zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Sechs Glieder. Die Kette hat insgesamt sechs Glieder. Und zusammen addiert ergibt das acht Glieder an der Zahl. Und wovon habe ich noch acht Stück? Genau. Die Zähne.

23. Celestial / himmlisch, überirdisch

“Käfer haben sechs Beine und einen Körper mit drei Abschnitten: Kopf, Brust und Hinterleib. Sie können fliegen, schwimmen, laufen, graben. Viele Arten haben besondere Strategien entwickelt, die ihnen das Überleben in ihrem speziellen Lebensraum sichern. Und ganz wichtig: Käfer haben ein Herz. Ich habe keins.”

Ja, Zehen haben auch Glieder, aber in deinem Bad werde ich fündig, nachdem ich es einmal komplett auf den Kopf gestellt habe. Es sind die Zähne. Die acht an der Zahl. Ich finde sie in einem Glas unter der Spüle, gut versteckt in einer Klopapierrolle, diejenige und die einzige mit Blumenaufdruck. Blumige Muster auf Klopapier konntest du noch nie leiden, hast diese stets hinterfragt und trotzdem hast du so ein Exemplar hier. Wahrscheinlich genau deswegen. Du warst schon immer sehr widersprüchlich in deinen Aussagen.

Meine erste Amtshandlung besteht darin, die Zähne aus dem Glas und auf den Boden zu verteilen. Auch das Glas untersuche ich und finde unter dem Deckel einen Sticker. Es ist ein Lollipop darauf abgebildet. Der Hinweis ist so offensichtlich, dass ich ihn schon anzweifeln will. Ich meine, der Lollipop weist eindeutig auf die Zunge hin, denn wie bearbeitet man einen Lollipop? Ja, genau, mit der Zunge. Doch wie geht’s weiter? Mir fehlen schließlich noch Torso und die Zehen. Aus einem Impuls heraus watschele ich zurück ins Wohnzimmer und nehme das Bild mit der Fotografie der Zunge an mich. Ich drehe und wende es, bis ich die Fotografie schlussendlich aus dem Rahmen heraus hole. Erst betrachte ich die Vorderseite, aber da ich diese schon kenne, weckt die Rückseite schnell mein Interesse. Ich halte die Luft an, als ich dort deine kleine Kritzelei in der linken unteren Ecke erblicke. Ich runzle die Stirn. Schaue wie mechanisch nach oben zur Decke und erstarre. Es fällt gar nicht so auf, nur wenn man sich wirklich darauf achtet. Dort oben an der Decke finde ich winzig klein die gleiche Bleistift-Kritzelei wie auf der Fotografie vor. Drei Wolken, die für dich den Himmel symbolisieren. Das weiss ich, weil du mir davon erzählt hast. Vom Himmel. Dass er über den Wolken sei. Und auch, dass es für dich was Besonderes ist, Menschen in den Himmel zu bringen. Und du hast recht damit behalten. Du brauchst dafür lediglich deine Hände. Mehr ist es nicht. Schließlich hast du ja bewiesen, dass du es kannst. Menschen mit deinen Händen nach oben in den Himmel zu bringen. Ich bin damals auf dem Boden geblieben. Vielleicht sogar zum Trotz.


24. Shallow / seicht, flach

“Das Schönste an dir sind deine Haare, wenn wir die auch noch abschneiden, ist nichts mehr an dir schön.”

“Hallo, spreche ich da mit der Polizei?”, flüstere ich in den Telefonhörer hinein und fühle mich elendig dabei. Aber wenn mir der Hausmeister nicht helfen will, dann muss ich wohl oder übel zu einem anderen Hilfsmittel greifen, selbst wenn es mir widerstrebt.

“Ja, du sprichst mit der Polizei. Ich bin Ben. Und du bist?”, antwortet der Mann in der anderen Leitung mit einer Gelassenheit in der Stimme, als würde der Typ gerade am Strand sitzen und einen Cocktail schlürfen..

Ich stutze. “Ist es üblich, dass die Polizei einen duzt und sich mit dem Vornamen vorstellt?”, hake ich nach und komme mir dämlich vor, überhaupt so eine Frage stellen zu müssen. Irgendwie habe ich mir das Gespräch anders vorgestellt. Professioneller und nicht so, nicht so… plump?

“Ist nicht üblich, aber bei mir schon, also, wer bist du und wie kann ich dir helfen?”, blubbert der Möchtegern-Polizist in den Hörer hinein.

“Ich bin Marie”, quetsche ich mühsam heraus.

“Marie, okay. Und ich bin Ben. Also, wie kann ich dir helfen, wo drückt der Schuh?”

“Sicher, dass Sie Polizist sind?”, versuche ich es ein letztes Mal und kontrolliere sogar nochmal die Nummer, die ich eingegeben habe. Ja. Die ist richtig, bloß der Typ, der den Anruf entgegengenommen hat, wirkt so falsch. Vielleicht hat dieser Kerl das Polizeipräsidium überfallen und ist in Wirklichkeit ein Verbrecher. Ja. Das würde es erklären. So muss es sein. Ich telefoniere gerade mit einem Gauner.

Als Antwort erhalte ich zuerst ein Lachen, gefolgt von einem “Klar bin ich Polizist. Und mein Name ist Ben.”
“Ich traue Ihnen nicht.”

“Na gut, Polizei *Beep*, Ben Eulenstein am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen, Marie?”

“Schon besser”, murmle ich leise und schiele zu meinem kleinen Notizblock hinunter, auf dem nur wenig geschrieben steht. “Sie müssen mir helfen”, dringt es aus meinem Mund.

“So weit waren wir schon”, meint der Möchtegern-Polizist nur und den Geräuschen nach zu urteilen, die der Mistkerl dabei macht, hört es sich so an, als würde der Mistkerl sich einmal ausgiebig strecken und als würde ihm mein Anruf am Allerwertesten vorbei gehen.

“Mein Freund,... also mein Exfreund wird bald jemanden töten, wenn ich ihn nicht aufhalte”, beginne ich und höre, wie der Kerl am anderen Ende der Leitung die Luft schlagartig anhält, als ob er jetzt damit anfängt, das Gespräch doch ernst zu nehmen.

“Ihr Exfreund will jemanden umbringen. Sind Sie sicher, Marie, wie kommen Sie zu dieser Annahme?”

“Er hat es schon einmal getan”, piepse ich.

“Er hat es schon einmal getan?”, wiederholt der Möchtegern-Polizist. “Was? Jemanden getötet, meinen Sie?”

Ich nicke erst, bis mir auffällt, dass mein Gesprächspartner mich gar nicht sehen kann, also sage ich: “Ja, er hat schon einmal getötet.”

“Und er will es wieder tun. Jemanden töten?”, schlussfolgert der Möchtegern-Polizist.

“Genau. Und Sie müssen mir helfen, ich komme nicht weiter.”

“Wie -  Sie kommen nicht weiter? Wissen Sie, wo sich ihr Exfreund gerade aufhält? Ist er bei Ihnen? Sind Sie in Gefahr?”

So viele Fragen… dabei will ich doch nur eins. Warum muss das denn alles so kompliziert sein?

Ich seufze leise.  “Das versuche ich herauszufinden.”

“Wie heißt ihr Exfreund denn?”, erkundigt sich der Möchtegern-Polizist. Ein Rascheln ist am anderen Ende des Hörers zu vernehmen. In meinem Kopf sehe ich meine Psychologin vor mir, wie sie ihren Notizblock herausholt, anfängt zu schreiben und dabei mit ihrem nervtötenden Bleistift meine Nerven killt. Automatisch befällt mich eine Gänsehaut, die sich innerhalb kürzester Zeit auf meinem gesamten Körper ausbreitet. Ich spüre sie sogar bis zu meinem kleinen Zeh. Oder in meinen kleinen Zeh. Er kribbelt. Ganz fürchterlich.

“Seinen Namen hat er sich selbst ausgesucht”, gebe ich von mir und bin nicht überrascht über die Antwort, die folgt.

“Wie bitte?”

“Er hat sich seinen Namen selbst ausgesucht.”

“Wie meinen Sie das?”

Ich zucke mit den Schultern, auch wenn mich der Möchtegern-Polizist nicht sehen kann. Es ist ein Reflex von mir. Keine Ahnung, warum ich das immer mache. Vielleicht hat sich das einfach so festgesetzt. Dinge, die mich überfordern, werden mit einem Schulterzucken quittiert.

“Er hat keinen Namen, ich kenne nur den, den er sich selbst ausgesucht hat”, probiere ich es nochmals. Ein leises Lachen kitzelt in meinem Ohr.

“Kann es sein, dass Sie mich ein bisschen verarschen, Marie?”, dringt es plötzlich angefressen aus dem Hörer, als wäre ich meinem Gesprächspartner mit meiner Äußerung irgendwie auf den Schlips getreten.

“Kann es sein, dass Sie gar kein Polizist sind?”, kontere ich frech und werde prompt mit einem Lachanfall seinerseits überrollt.

“Okay”, der Möchtegern-Polizist macht eine kurze Verschnaufpause, dann höre ich es rascheln. “Welchen Namen hat sich ihr Exfreund denn ausgesucht?”

Ich überlege, ob ich dem Gauner am Telefon die gleiche Antwort geben soll wie meiner Psychologin damals. Dass du “du” heißt, oder “er” oder “ihn”, doch ich beschließe, dass das hier Wichtiger ist, als meine mentale Gesundheit. Hier geht es nicht mehr um mich, sondern um dich. Und einmal mehr verstehe ich nicht, warum ich ausgerechnet jetzt Gespräche mit dir in meinen Gedanken führe.

“Er hat sich den Namen Marek ausgesucht, weil er zu meinem Namen passt”, plaudere ich los und obwohl ich nicht viel von mir gebe, fühle ich mich am Ende des Satzes atemlos. Als hättest du mir die Luft geraubt, weil ich es gewagt habe, deinen Namen preiszugeben.

“Marek”, wiederholt der Polizist. Ein Stift kratzt über Papier. Ich hasse dieses Geräusch so abgrundtief.

“Und den richtigen Namen kennen Sie nicht, Marie?”, bohrt der Möchtegern-Polizist nach.

“Er hat keinen Namen.”

“Jeder hat einen Namen.”

“Er nicht. Nur den, den er sich ausgesucht hat”, beharre ich. Ein Seufzen dringt durch den Hörer, eins, das klingt, als hätte der Möchtegern-Polizist endlich kapituliert und akzeptiert, dass du Marek heißt und sonst keinen anderen Namen besitzt. Ich grinse, obwohl es nicht sonderlich lustig ist.

“Okay, haben Sie eine Telefonnummer oder eine Wohnadresse von Ihrem Exfreund? Irgendetwas worüber er erreichbar ist? Wie haben Sie sich kennengelernt? Übers Internet”

“Er hat kein Telefon und auch keinen festen Wohnsitz. Er wohnt immer woanders und doch nirgendwo.”

“Das müssen Sie mir erklären, Marie. Ist ihr Exfreund etwa obdachlos?”

“Das kann ich nicht, also, es Ihnen erklären. Noch nicht, aber Sie müssen mir helfen, in eine Wohnung reinzukommen.”

“Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Wie meinen Sie das?”

“Um herauszufinden, wo er ist, muss ich in diese Wohnung und das Rätsel lösen.”

“Ganz sachte, Marie. Über was für eine Wohnung reden wir hier und was hat es mit diesem Rätsel auf sich?”

Alles in mir sträubt sich, dem Möchtegern-Polizist von dir zu erzählen. Aber ich muss. Du lässt mir keine andere Wahl.



25. Dangerous

“Das perfekte Opfer muss gemacht werden. Das läuft einem nicht einfach so über den Weg. Verstehst du das, Mariechen?”

Ich staune nicht schlecht, als Ben Eulenstein vor mir steht. Ja. Mir steht die Kinnlade regelrecht offen. Weit offen. Und er sieht mich an, wie mich die meisten Menschen ansehen. Fasziniert von meiner Abscheulichkeit und etwas angeekelt von meiner Erscheinung. Wir sind wie Tag und Nacht. Eulenstein und ich. Ich, die Nacht und er… die heißeste Sonne, die mir jemals untergekommen ist und an der sich bestimmt so manch eine oder einer verbrannt hat. Wie unverschämt gut kann ein Mann eigentlich aussehen? Sowas sollte doch verboten sein.

“Ich will Sie nur vorwarnen, Marie. Das, was wir hier tun, ist sowas von gegen die Vorschrift. Wie gut für Sie, dass ich gerade auf meine Kollegen und den ganzen Laden scheisse”, meint Ben Eulenstein, der offenbar so sehr auf den Laden scheisst, dass er in seinen normalen Straßenklamotten zu unserem Treffen aufgekreuzt ist. Bestehend aus einer engen Jeanshose, einer dicken braunen Lederjacke, einem schwarzen Hemd, Boots in der gleichen Farbe und einer Packung Zigaretten, die er sich aus der Hose friemelt, um sich einen der Glimmstängel anzuzünden. Unnötig zu erwähnen, dass ich diesen Mann immer noch für einen Möchtegern-Polizisten halten würde, hätte er mir nicht seine Polizeimarke unter die Nase gehalten, die - ich bin keine Expertin - den Anschein macht, als wäre sie echt.

“Rauchen Sie?”, erkundigt Ben sich, als der Sargnagel fest in seinem Mund steckt. Ich schüttele den Kopf. Der Mann nickt und nimmt einen kräftigen Zug von seiner Fluppe. Er inhaliert den Rauch förmlich, als wäre die graue, unheilvolle Giftwolke “Medizin” gegen irgendeine fiese Krankheit, die tief in seinem Inneren vor sich hin köchelt und ausgeräuchert werden will.

“Hier wohnen Sie?”, Ben deutet mit einer Geste Richtung Wohnkomplex.

“Hier wohne ich”, bestätige ich. Der Polizist mustert mich noch einmal ausgiebig von oben bis unten, als hätte er sich noch nicht an mir satt gesehen. So geht es irgendwie den meisten, die mir zum ersten Mal begegnen. Rechts ist mir der Arm abhanden gekommen, da trage ich eine Prothese. Links fehlt mir das Bein, nicht ganz, aber ein erheblicher Teil. Der Teil unterhalb des Knies, auch hier trage ich eine Prothese, die zum Glück, außer im Hochsommer, unter meiner Hose verschwindet und der Fuss im Schuh. Lediglich mein Gang verrät, dass mit mir etwas nicht stimmen könnte. Naja. Mein Gang und mein Gesicht natürlich. Das ist durch die Säure entstellt. Auf der linken Seite, weil links das Herz ist. Rechts ist es zwar auch nicht mehr schön, aber links ist es ganz übel. Und sieht man mich nackt, wird’s noch schlimmer, aber Ben wird mich nackt nicht zu sehen bekommen, genauso wenig wie ich ihn nackt zu sehen bekommen werde und irgendwie glaube ich, ich bin die Einzige, die über diese Tatsache frustriert ist.

“Und Sie müssen in die Wohnung eine Etage über ihrer Wohnung, weil Sie vermuten, dass Ihr Exfreund dort etwas versteckt haben könnte, was Ihnen bei der Lösung des Rätsels weiterhilft?”, fasst Ben die aktuelle Situation zusammen.

“Nicht über meiner Wohnung, sondern über seiner, die gegenüber meiner Wohnung liegt”, korrigiere ich.

“Also hat ihr Exfreund doch einen festen Wohnsitz”, klugscheisst Ben, der absolut keine Ahnung hat, wie gerissen du wirklich bist. Ich lächle ein müdes Lächeln, mehr fällt mir dazu auch nicht ein.

“Habe ich recht?”, bohrt der Möchtegern-Polizist schließlich nach, der sich sein siegessicheres Grinsen von mir aus sonstwohin schieben kann. Da er das aber wohl nicht freiwillig tun wird, übernehme ich das für ihn, indem ich ihm eins deiner vielen Geheimnisse offenbare.

“Er hat die Wohnung nur beschlagnahmt.”
“Er hat die Wohnung beschlagnahmt?”

“Er wohnt dort, also nicht immer, nur für eine Weile. Dementsprechend sieht er sie als seine eigene Wohnung an und nutzt sie, als wäre es die seine, aber sie gehört ihm nicht, sie gehört eigentlich jemand anderem.”

Nun sieht mich Ben Eulenstein an, als hätte ich ihm eine mathematische Formel vorgelegt, aus der er nicht ganz schlau wird, egal, wie sehr er sich anstrengt, sie zu verstehen.

“Sie verwirren mich etwas, Marie”, meint der Mann. Die Verwirrung ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, die hätte er nicht extra erwähnen müssen. Ich seufze und schiele zum Fenster deiner Wohnung hinauf. In meinem Kopf stelle ich mir vor, wie du dort hinter dem Vorhang stehst und auf mich wartest. Der Gedanke lässt mich frösteln und ehe ich meine dünnen Arme und meinen dürren Körper schlingen kann, bettet mich der Möchtegern-Polizist in seine braune Lederjacke ein. Er legt sie mir ungefragt einfach um und drückt sie an mich, ehe er mich unerwartet dicht an sich herandrückt. Schlagartig empfängt mich eine Wärme, die ich bisher noch nie erlebt habe und ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr gefühlt habe. Ja, das muss er sein, jetzt ist er gekommen - der Moment, in dem ich mich zum ersten Mal und unsterblich in Ben Eulenstein verliebe.

Ich bin auf irgendeinem Planeten, der rosa ist, als mich Ben Eulenstein durch den Eingang schiebt und an die Tür des Hausmeisters klopft. Ich tanze noch immer auf Wolke Sieben herum, als Ben Eulenstein dem Hausmeister erklärt, dass wir Zugang zu einer Wohnung benötigen und die Diskussion losgeht, dass wir dafür einen Durchsuchungsbefehl und die Erlaubnis der Vermieter benötigen. Doch Ben Eulenstein ist gerissener als ich und fast gerissener als du. Er hält dem Vermieter wie zuvor mir seine Polizeimarke unter die Nase und erzählt mit aufgebrachter Stimme irgendetwas von einem vermissten Kind. Und dass sie dieses mit Hochdruck suchen und jedem noch so kleinen Hinweis nachgehen würden, aber die Behörden zäh und lahm-arschig wären, wenn es darum ginge, Durchsuchungsbefehle und Co. auszustellen und das erst durch diverse Abteilungen und Ämter gehen müsste, bis sie den Wisch haben und auch, dass bei einem Vermisstenfall jede Minute zählen würde. Bei der letzten Aussage ist der Hausmeister weichgekocht und rückt schweren Herzens den Schlüssel heraus und verzichtet sogar darauf, uns bei unserer Mission zu begleiten.

Im Lift nach oben grinst der Möchtegern-Polizist wieder sein Siegerlächeln und obwohl ich nicht will, lasse ich mich davon anstecken. Ich glaube, Ben Eulenstein ist nicht nur fast so gerissen wie du, sondern auch beinahe so gefährlich und irgendwie macht mir das Angst, aber es ist auch aufregend.


26. Remove

“Was entfernen wir als Nächstes? Hmmm… wie wäre es damit?”

Oben angekommen, bleiben wir vor der Wohnung stehen und starren beide auf das Namensschild an der Tür herunter. Finja Nilsson.

Die linke Augenbraue im Gesicht von Ben Eulenstein hebt sich leicht, als er über die Schulter blickt und mich ansieht. Ich zucke bloß mit den Achseln.

“Er mag Blondinen”, sage ich wie beiläufig, als würde diese Aussage alle Fragen beantworten. Was sie nicht tut, denn ich sehe Ben an, dass sich bei ihm die Fragezeichen häufen, statt zu klären.

“Finja Nilsson ist blond?”, erkundigt er sich bei mir. Wieder zucke ich mit den Achseln.

“Bestimmt”, antworte ich, habe die Frau aber noch nie gesehen. Denke ich zumindest. Ich gehe nicht oft raus. Also, in letzter Zeit schon, aber sonst nur, wenn’s unbedingt sein muss.

“Also Sie sind sich nicht sicher”, schlussfolgert Ben.

“Er steht auf blond, also wird sie blond sein”, murmle ich und höre mich bissiger an, als beabsichtigt.

“Aber Sie sind nicht blond”, stellt Ben, pfiffig wie er ist, fest. Nun gesellt sich auch noch die rechte Augenbraue zur linken hinauf.

“Ich war lange Zeit blond.”

“Und was ist ihre natürliche Haarfarbe?”

“Nicht blond.”

“Dann haben Sie sich die Haare wegen ihm blond gefärbt? Um ihm zu gefallen?”

“Denken Sie wirklich, ich könnte irgendjemanden gefallen?”, maule ich den Möchtegern-Polizisten unfreundlich an. Die Worte sprudeln einfach so aus mir heraus und entlocken meinem unfreiwilligen Partner bei dieser blöden Mission ein lautloses Lachen. Mir sind sie peinlich. Zumindest im Nachhinein betrachtet.

“Sie sind doch gar nicht so übel”, lügt Ben Eulenstein und besitzt dabei auch noch die Frechheit, mir einen Augenaufschlag zu schenken, der für gewöhnlich Herzen bricht. Oder erobert. Was er mit diesem Womanizer-Manöver erreichen will, kann Ben sich von mir aus selbst aussuchen. Damit hält er sich aber gar nicht länger auf, sondern macht sich am Türschloss zu schaffen. Kaum ist die Pforte offen, empfängt uns ein Odeur, mit dem Ben zu kämpfen hat. Ich hingegen rausche an ihm vorbei, zielstrebig auf den Ort zu, wo ich den Himmel vermute und werde im Wohnzimmer fündig.

Ja. Du hast sie wahrhaftig in den Himmel gebracht. Wie ein Engel hast du sie mitten im Raum aufrecht drapiert, mit weit aufgerissenem Brustkorb, ausgehöhlt wie ein Baum, der an einen Holzkäfer geraten ist. Die Organe liegen ausgebreitet und präpariert wie Opfergaben auf dem weißen, flauschigen Teppich. Die blonden Haare stehen kranzartig vom Schädel ab und hängen gleichzeitig wie Fäden und an Fäden von der Decke. Es wirkt, als hättest du so deinem Engel einen abstrakten Heiligenschein verpassen wollen. Und so wie es aussieht, hast du dir Zeit gelassen. Viel Zeit. Zeit, die ich nicht habe.

Tja, nun habe ich auch den Rest vom Rätsel gefunden. Torso, Arme, Beine, Zehen, Zähne und… ich überlege und stiere deinen Engel an, so wie ich oft angestiert werde. Mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Dann… macht es plötzlich Klick.

“Ich glaube, die Lösung ist in ihrem  Kopf”, rufe ich nach hinten zu Ben, der mit vorgehaltener Hand vor Mund und Nase den Flur entlang stolpert und dabei laut flucht.
“Fuck,..... fuck… fuck…. Scheisse, verdammt.”

Ich rücke erst mit meiner Erkenntnis heraus, als Ben neben mir steht und mit weit aufgerissenen Glubschern und einer Fassungslosigkeit auf seinen Gesichtszügen auf das Massaker vor uns glotzt. Er blinzelt und hat sichtlich Mühe, das, was du da gezaubert hast, zu verarbeiten. Ich kann es ihm nicht einmal übel nehmen. Er kennt dich nicht so, wie ich dich kenne.

“Es ist in ihrem Kopf”, rücke ich also nach einer Weile mit der Sprache raus. Wie in Zeitlupe fixiert mich der Möchtegern-Polizist mit seinen fantastisch dunkelblauen Augen, die durch die Tränenflüssigkeit funkeln wie ein wunderschöner Bergsee.

“Was?”, piepst Ben, während in seinem Schädel vermutlich gerade genauso viele Käfer wüten, wie in meinem. Nur tragen die Viecher bei ihm einen anderen Namen. Nämlich Chaos.

“Das, was ich brauche, ist in ihrem Kopf, wir müssen es aus ihr heraus holen, jetzt, bevor die Zeit abläuft”, erkläre ich und deute, um es ganz offensichtlich zu machen, mit meinem Finger auf den Engel, falls Ben mir immer noch nicht folgen können sollte. Sein Verstand scheint ganz schön zu hinken, seit wir diese Wohnung infiltriert haben. Entweder das, oder die Leichen- und Chemikalien Dämpfe machen ihm zu schaffen.

Die zwei wunderschönen Bergseen weiten sich unwillkürlich. Die Lippen formen sich zu einem Strich, die Nase rümpft sich, ehe aus Ben ein empörtes “Ernsthaft jetzt?” heraus platzt. Dicht gefolgt von einem. “Du willst etwas aus ihrem Kopf holen?!”

Ich nicke, doch er schüttelt sich. Dann lacht er, dann weint er.

“Du holst rein gar nichts aus ihrem Kopf, ich rufe jetzt die Spurensicherung verdammt. Das hier ist ein Tatort. Wehe, du fasst hier irgendetwas an. Oder hast du, oh fuck…verdammt…”, Ben’s Gefluche wird von einem jähen Kotzreiz unterbrochen.

Ich nutze die Chance, um Ben daran zu erinnern, dass er doch auf seine Kollegen und den ganzen Laden scheißen wollte, komme aber nicht dazu, weil der Möchtegern-Polizist wie aus heiterem Himmel von selbst seine Meinung ändert.

“Okay, scheisse, ich weiss, ich werde es bereuen, aber bevor ich die Kavallerie rufe, was zur verdammten Hölle gedenkst du in ihrem Kopf zu finden?”

“Käfer”, sage ich ganz plump.



27. Beast

“Ich habe schon immer gespürt, dass da was in mir ist. Ich konnte es nur nicht so ganz erfühlen. Doch jetzt fühle ich es. Fühlst du es auch?”

“Käfer”, krächzt Ben und sieht mich an, alle hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank und Latten im Zaun.

An der Stelle muss ich ausholen und Ben von uns erzählen. Also von dir und mir, hauptsächlich von dir. Ich bin irrelevant, so irrelevant, wie nur jemand sein kann. Ich erzähle ihm, was damals in Italien passiert ist, als wir uns das allererste Mal begegnet sind. Ich erzähle ihm vom Urlaub mit meinen Eltern. Campingferien. Ich werde ihm auch vom Biest erzählen. Doch bevor ich ihm vom Biest erzähle, fange ich mit dem Wohnwagen an. Dafür machen wir eine kleine Reise in die Vergangenheit.

Ich bin vierzehn Jahre alt und ich habe echt fiese Akne im Gesicht, wegen der ich auch regelmäßig in der Schule gehänselt werde. Aber der Rest von mir ist ganz okay. Ich habe einen schönen Körper, der so langsam zur Frau wird. Das fällt nicht nur mir auf, sondern auch ein paar Jungs vom Campingplatz. Die laden mich einige Male zum Volleyballspielen ein. Ich freue mich total, das ist neu für mich, weil ich ziemlich schüchtern und  dazu auch noch etwas sonderbar bin und ich normalerweise nie von jemandem zu irgendwas eingeladen werde. Aber hier auf dem Campingplatz scheinen mich zumindest die Jungs wirklich zu mögen. Für die bin ich okay. Und okay sein, reicht mir völlig aus.

Die Tage vergehen wie im Flug und ich habe eine Menge Spaß, bis das Biest auf mich aufmerksam wird. Das Biest ist ein bisschen älter als ich. Zwei Jahre. Und das Biest ist bildschön. Lange, blonde Haare, blaue Augen, eine Figur, die viel weiblicher ist als meine. Auch sie wird von den Jungs zum Volleyballspielen eingeladen und ich versuche mich notgedrungen mit ihr zu arrangieren und tatsächlich entwickelt sich so etwas wie eine Freundschaft zwischen uns Mädchen. Auch das ist neu für mich. Wir lachen, wir kichern, wir reden über die Schule, über die Jungs. Das Biest bringt mir sogar das Schminken bei und gibt mir Tipps, wie ich mich anziehen soll und wie ich die Akne verstecken kann. Ich habe mich noch nie so wohl und gleichzeitig so schön gefühlt dank ihrer Hilfe und in der Nähe eines anderen Mädchens. Das Biest holt das Beste aus mir heraus und ich habe sie richtig gern, bis zu diesem einen Abend, als das Blatt sich wendet.

Wir treffen uns abends alle in dieser Stranddisco, das Biest, die Jungs und ich. Ich habe was sehr Aufreizendes angezogen. Ein schwarzes, kurzes Kleid, das ich extra für diesen Anlass von meiner Mama stibitzt habe - denn sonst trage ich nur Hosen. Doch diese eine Nacht soll eine besondere Nacht werden.

Die Jungs, das Biest und ich haben ein bisschen was getrunken, obwohl wir das nicht dürfen. Wir haben viel getanzt, miteinander, mit den Jungs, bis wir uns ein paar Drinks später eine ruhige Ecke gesucht haben, um zu chillen. Oder abzuhängen: so sagen sie dazu. Wir haben dieses Flaschenspiel gespielt, was Teenager eben so spielen. Ich habe einen Jungen geküsst. Das Biest hat einen Jungen geküsst. Wir haben uns gegenseitig geküsst. Das Biest und ich. Noch mehr Alkohol ist geflossen und irgendwann bin ich sehr betrunken. Ich lalle, ich kichere. Ich bin anhänglich, sehr anhänglich. Besonders von Jordan komme ich nicht mehr los, dem Jungen, den das Biest so sehr mag. Das hat sie mir anvertraut, genauso wie sie mir anvertraut hat, dass sie mit Jordan bereits geschlafen hat und sie sich mehr davon erhoffe, als nur einen Urlaubsflirt.

Ich weiss nicht wieso, aber irgendwie finde ich Jordan plötzlich auch ganz gut. Also so richtig gut - wahrscheinlich weil er mir das Gefühl gibt, genauso schön und toll zu sein wie das Biest und obwohl mir schwindelig ist, gehe ich mit ihm mit. Zu den Klippen. Dort machen wir es uns gemütlich. Nur wir zwei, Jordan und ich. Er zieht mich aus und tut mit mir genau das, was er auch mit dem Biest schon getan hat.
Ich finde es nicht so schön, wie es das Biest beschrieben hat, aber dass es Jordan mit mir macht, heißt, dass er mich schön findet, was mit ihm zu Schlafen irgendwie auf eine skurrile Art und Weise unheimlich schön macht. Doch als Jordan fertig ist, wird mir kalt und das, obwohl mir zuvor noch heiß gewesen ist. Jordan fragt mich, ob ich Durst habe und ich sage einfach aus Prinzip ja, während sich die ganze Welt um mich herum dreht. Dann geht er uns Getränke besorgen und ich bleibe liegen, warte auf ihn. Ich muss die ganze Zeit grinsen, weil ich es jetzt getan habe und nun eine Frau bin. Das wiederum bedeutet, dass ich mehr in Ordnung bin, als ich es bisher immer angenommen habe. Ich bin nun schließlich genug wert, um flachgelegt zu werden.

Jordan taucht nicht mehr auf, also nicht so richtig, dafür kommt das Biest irgendwann und sie hat was zu trinken dabei. Ich weiss nicht mehr, was ich gesagt oder getan habe, aber irgendetwas ist anders zwischen dem Biest und mir. Wir lachen nicht mehr. Wir kichern nicht mehr. Sie schreit mich an und da ist Wut in ihren schönen, blauen Augen und eine Flasche in ihrer Hand und wenig später ist die Flasche in mir drin und ich schreie, strample, schlage wild um mich und weine dazu bitterlich. Ja. Da sind Abertausende Tränen in meinem Gesicht, aber auch die halten das Biest nicht auf. Ich habe Angst, ich habe Schmerzen, ich blute, verblute, aber das Biest hört einfach nicht auf. Sie tut mir weh. Rammt die Flasche immer und immer wieder in mich hinein. Sie macht mich kaputt. Sie zerstört mich. Und sie macht weiter, und weiter, immer weiter. Bis du kommst. Und sie grob an ihren blonden Haaren packst. Du reißt sie von mir runter. Du zerrst sie von mir weg. Du schleifst sie mit dir mit, als würde sie nichts wiegen. Du sagst mir noch, lachend, grinsend, sie gehöre nun dir und du drückst ihr Käfer jetzt in ihren Kopf. Denn das ist das, was du mit schönen Mädchen machst. Du drückst ihr Käfer in den Kopf. In den Kopf. Tief hinein. Bis es knackt.

Ich wache irgendwann wieder auf. Im Krankenhaus. Dort, wo sie Menschen reparieren. Und ja. Sie haben mich repariert, also nicht ganz, aber zwei Wochen später finde ich mich trotzdem wieder auf dem Campingplatz vor. Besser gesagt im Wohnwagen, weil wir, meine Eltern und ich, nach Hause fahren. Endlich.

Ich sitze auf dem Bett und starre aus dem Fenster hinaus, während ich darauf warte, dass meine Eltern zurückkehren. Die müssen den Trip, der ihre Tochter beinahe gekillt hat, nämlich noch bezahlen. Was makaber ist. Ich musste auch Fragen beantworten. Über das Biest und wie das passiert ist. Ich habe denen erzählt, dass ich nicht weiß, wie das passiert ist und wer mir das angetan hat und weil ich so viel Alkohol im Blut hatte, haben die mir das auch geglaubt. Glaube ich. Das Biest ist seither verschwunden. Wird gesucht. Und da stehst du, du tauchst plötzlich auf. Stehst vor dem Wohnwagen. Siehst mich an. Und ich weiß, dass du genauso überrascht darüber bist wie ich, dass wir uns wiedersehen und ich tatsächlich überlebt habe.

Denn heute weiß ich, du hast mich damals zum Sterben zurückgelassen und könnte ich die Zeit zurückdrehen, hätte ich dir diesen Gefallen vielleicht gemacht. Aber Zeitreisen existieren nur in Geschichten. Außerdem hast du das Problem mit meinem Überleben anders gewusst zu lösen. Du bist klug. Und gerissen. Und allen anderen weit überlegen.

28. Sparkle

“Träumt nicht jedes Kind davon, die anderen Kinder eines Tages so richtig fertig zu machen?”

“Moment, du kennst denjenigen, der das gemacht hat, schon seit du vierzehn Jahre alt bist?”, platzt es aus Ben heraus. Sein ausgestreckter Finger zittert, als er auf den Engel zeigt, den du uns so hübsch hergerichtet hast.

Ich nicke und bringe mit dieser Geste noch mehr Entsetzen in Bens schönes, angespanntes Gesicht hinein.

“Und du bist nie auf die Idee gekommen, diesen Mistkerl anzuzeigen?”, kläfft mich der Möchtegern-Polizist an, als wäre ich diejenige, die in diesem Szenario etwas falsch gemacht hat. Nicht das Biest. Nicht du. Sondern ich. Vor lauter Frustration ballt Ben auch noch die Hand zur Faust. Instinktiv ducke ich mich weg, aber Ben schlägt nicht zu. Ben guckt mich nur an. Lange. Viel zu lange. Dann, eine Ewigkeit später, sagt er: „Du hättest das hier verhindern können. Hättest du nur irgendwas gesagt, hättest du all das hier verhindern können.“

Ich glaube, Ben ist einer dieser Menschen, die sich das Leben einfach vorstellen und noch nie wirklich jemanden gehasst haben. So abgrundtief gehasst haben und hassen. So aus tiefstem Herzen heraus. Ben ist einer dieser Menschen, die Probleme rational lösen wollen. Wahrscheinlich ist er deswegen Polizist geworden. Weil er Probleme lösen will, ohne dass jemand zu Schaden kommt. So einfach ist das aber manchmal nicht. Ja, manchmal ist es schwer und zäh.

„Hätte ich was gesagt, dann wäre ich nun im Himmel oben“, werfe ich in den modrig riechenden Raum hinein. Bens wunderschöne Bergsee Augen weiten sich unwillkürlich.

„Wie meinst du das?“

Ich deute mit meinem Finger nach oben zur Decke, als wäre dies der Himmel, in den du mich, hätte ich die Klappe nicht brav gehalten, gebracht hättest. Was du nicht getan hast. Wie man sieht. Ich bin immer noch hier. Unten auf dem Boden. Zwar nicht auf zwei Beinen, sondern auf dem, das du mir gelassen hast.

„Weil Schweigen nunmal Gold ist“, gebe ich von mir und quittiere die Aussage mit einem meiner vielen  Schulterzuckereien.

Bens Miene verfinstert sich und verzieht sich zu einer ungläubigen Fratze. „Und es ist auch nicht alles Gold was glänzt und Scheisse bleibt Scheisse auch wenn man Glitzer draufstreut. Ernsthaft, Marie?! Bist du noch ganz dicht?“

„Ich bin mir sicher, das Sprichwort geht anders“, murmle ich kleinlaut und werde prompt mit einem bösen Blick bestraft.

„Macht dir das überhaupt nichts aus, dass der verdammte Wichser deine Nachbarin gekillt hat?! Und das auf eine abscheuliche Art und Weise? Und sie nicht sein erstes Opfer gewesen ist? Hast du gar kein Gewissen?!“, brüllt Ben Eulenstein mich an. Abermals fliegt die Faust in die Luft und verharrt, ohne jemals auf mir zu landen.

Ich hätte gerne mit dem Kopf geschüttelt, doch stattdessen tue ich das, was alle guten Opfer tun. Ich weine. Ich schluchze und schüttele mich und wenig später tue ich dasselbe in Bens starken Armen.

29. Massive

“Es gibt mehrere Arten, im Gedächtnis zu bleiben. Ich schätze, meine Art ist die Effektivste von allen.”

Ich hätte Ben gerne gesagt, dass ich finde, dass das Biest genau das verdient hat, was sie von dir bekommen hat und dass ich deswegen nichts gesagt habe. Das hätte jedoch kein gutes Licht auf mich geworfen und nur die Dunkelheit in mir hervorgebracht.

Ich sehe zwar abscheulich aus, aber Ben Eulenstein muss nicht wissen, dass der Jähzorn meine Seele und der Hass den Rest von mir zerfressen hat. Und Neid. Der Neid, der noch immer an mir nagt und das obwohl ich scheußlich schmecke. Oder vielleicht gerade deswegen.

Ich hätte Ben Eulenstein erzählen können, dass meine Eltern damals zurückgekehrt sind, bevor du das, was du tun wolltest und wofür du gekommen bist, in die Tat umsetzen konntest. Sie haben dich vertrieben. Und Jahre später, keine Ahnung wie, du hast es mir nie verraten, hast du mich wiedergefunden.

Es war an einem Tag, an dem es geregnet hat und du bist einfach so und wie aus dem Nichts aufgetaucht. So wie du es immer tust. Ich bin nach Hause gelaufen und wenig später hast du mich in deinem Auto in mein neues Zuhause gebracht. Ein Zuhause, das gleichzeitig auch mein Grab werden sollte.

Ja. Du hast mich von der Straße weggemopst und ich hätte enden sollen wie das Biest. Mit einem Haufen Käfer im Kopf und einem toten Herzen in der Brust.

Ich weiß noch, wie du mich gefragt hast, warum ich niemandem von dir erzählt habe. Warum ich nicht gesagt habe, was mit dem Biest passiert ist. Warum ich so ein dummes Mädchen bin und du hast mir auch verraten, dass du mich nie vergessen hast. Dass ich wie eine Motte in deinem Schädel herum schwirre und dich nicht in Ruhe lasse. Denn normalerweise reißen Mädchen wie ich die Klappe auf. Weit auf. Ganz besonders dann, wenn sie etwas Schreckliches erlebt und viel zu erzählen haben. Aber dir hat es gefallen, dass ich den Mund halten kann. Dir hat es gefallen, was du alles mit mir anstellen kannst und besonders hat dir gefallen, dass mich keiner großartig vermisst hat.

„Reicht es nicht, dass ich jetzt hier bin und das Richtige tue?“, piepse ich und komme mir vor wie eine Lügnerin. Oder eine Heuchlerin. Keine Ahnung, was schlimmer ist. Wahrscheinlich ist beides gleich schlimm.

Bens Faust lockert und sein zerknirschter Gesichtsausdruck verändert sich. Tatsächlich erinnert mich Ben ein wenig an einen Hund, der weiß, dass er irgendeinen Blödsinn angestellt hat und dem das nun schrecklich leid tut.

„Er hat sie so zugerichtet. Er hat ihnen das angetan“ (realisierend), analysiert Ben mich und glotzt mich an. Mustert mich. Von oben bis unten und diesmal mit einer Traurigkeit auf seinen Zügen, dass er mir schon beinahe leid tut und ich ihn in den Arm nehmen will. Doch eine weitere Umarmung bleibt aus. Stattdessen geben wir uns mit Stillschweigen zufrieden, obwohl ich Ben echt gerne gesagt hätte, dass du wegen mir einen Goldzahn trägst und ich die Einzige bin, die dir jemals einen Zahn ausgeschlagen hatte und ungestraft davonkommen durfte. Wobei ungestraft wahrscheinlich der falsche Ausdruck dafür ist, wenn man sich meine Ruine, die sich Körper schimpft, einmal genauer ansieht.

„Also, da sind Käfer in ihrem Kopf?“, meint Ben nach einer Weile. Ich nicke und muss beinahe lachen, weil mich die Situation irgendwie an meine Psychologin erinnert. Nur, dass ich mich bei Ben viel wohler fühle und das vermutlich an seinem Aftershave liegt. Das ist herb und nicht so süßlich grausam wie das Parfum der blonden Frau mit Doktortitel.

„Dann holen wir es heraus?“, schlägt Ben zögerlich vor. Ich merke, dass er mit sich hadert und als ich in der Küche verschwinde und mit einem Messer zurückkehre, wird die Farbe auf seinen Wangen ganz fahl.

„Das ist so falsch, was wir hier tun“, flüstert Ben noch, als er mit hoch erhobener Klinge auf dein Kunstwerk zu schreitet. Vorher hat er sich natürlich noch blaue Gummihandschuhe angezogen. Ich beobachte den Möchtegern-Polizist und seine Entschlossenheit mir zu helfen mit einer Begeisterung, die meinen Puls in die Höhe treibt und mein Höschen, so abstrus wie es klingt, feucht werden lässt. Ohne, dass ich bezahle, tut jemand etwas für mich und das gefällt mir. Sehr sogar. Normalerweise muss man für alles bezahlen. Für jede noch so kleine Kleinigkeit, sei es Kekse, Gebäck, ein bisschen Liebe oder eine Therapie, aber Ben tut das, was er tut, einfach so für mich. Um mir zu helfen. Und um dein Rätsel zu lösen. Für andere mag das nichts Besonderes sein, für mich jedoch schon. Das bedeutet mir die Welt.

„Ben?“ piepse ich.

„Hm?“, antwortet Ben Eulenstein und hält in der Bewegung inne.

„Danke“, piepse ich noch leiser. Der Polizist dreht sich um und lächelt mich schief an.

„Du hast echt einen massiven Schaden, Kleines. Aber wir kriegen den Mistkerl versprochen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

30. Rush

“Insekten können nicht nur akuten Schmerz empfinden, sie leiden auch unter chronischen Schmerzen. Selbst wenn eine Nervenverletzung schon lange verheilt ist, reagieren sie übersensibel auf Schmerzreize.”

„Es wird vielleicht das letzte sein, was du tun wirst“, denke ich leicht betrübt und umklammere das, was ich zusätzlich zum Messer aus der Küche geholt habe, fest hinter meinem Rücken. Eigentlich sollte man die Substanz nicht frisch aus dem Kühlschrank in den Körper hinein pumpen. Das führt zu Komplikationen. Zumindest hast du mir das so erklärt, ob es stimmt, weiß ich nicht, aber ich werde es wohl oder übel herausfinden, denn mir bleibt keine andere Möglichkeit. Es tut mir auch leid, als ich mich an Ben Eulenstein, so gut wie es eben mit einer Prothese geht, heranschleiche, und ihm eiskalt die Spritze in den Hals hinein ramme, die du in Finja Nilsons Wohnung hinterlassen oder für mich zurückgelassen hast. Ich weiß, wie sich die Spritzen anfühlen und ich kann nachempfinden, was Ben fühlt, als er sich wankend und den Hals haltend zu mir umdreht und mich mit seinen Bergsee-Augen wie erstarrt angafft, als hätte ich mich soeben vor seinen Augen in ein schauriges Monster verwandelt. Was ich auch bin. Ein Monster. Zumindest in diesem Moment. Sonst nicht so wirklich.

Der Mann torkelt mit letzter Kraft auf mich zu, ehe er endlich das Gleichgewicht verliert, auf die Knie sinkt und wenig später, wahrscheinlich zehn Sekunden später, wie ein Dominostein umkippt, und dann auf dem Boden wie tot liegen bleibt.

Ich steige mit einem schweren Gewissen über Ben Eulenstein hinweg und auf dein Kunstwerk zu. Jetzt muss es schnell gehen. Schließlich läuft immer noch die Zeit ab.

Also beeile ich mich und ich muss mich richtig lang machen, um an das, was du in Finja Nilssons Kopf versteckt hast, zu gelangen. Vor allem muss ich der zum Engel gemachten Frau weit in den Rachen hinein fassen, um es zu bekommen, und als es schleimig und stinkend in meiner Hand liegt, hätte ich vor Frustration gerne losgeschrien und laut geflucht.

Wieder ein Käfer. Eigentlich sollte es mich nicht überraschen, denn das ist genau das, was du anderen antust, du schmückst sie mit Käfer und schaffst ein Zuhause für dein geliebtes Ungeziefer. Doch dieser Käfer hier ist aus Holz. Er mieft ein bisschen nach Leichenfäule, aber auch ein wenig nach Apfel und die Kombination bereitet selbst meinem abgehärteten Magen etwas Unbehagen. Oder es ist die Tatsache, dass dieser Käfer ein besonderer Käfer ist. Es handelt sich nämlich um meinen Käfer. Der Marienkäfer. Weshalb ich den Namen Marie trage, weil ich dein Käfermariechen bin. Ja, den Namen hast du mir damals ausgesucht, vor vielen Jahren, als du mich einfach von der Straße weggemopst hast. Und dieser Käfer hier, der eklige aus Finja Nilssons Mund, hat sechs Punkte auf dem Rücken, also ein Glücks-Marienkäfer, bei dem man sich etwas wünschen darf, wenn er davon fliegt. Der Wunsch geht irgendwann in Erfüllung, natürlich nur, wenn man Glück hat.

Es ist unmöglich, dass dieser Holz-Marienkäfer von selbst aus meiner Hand fliegt, außer ich würde ihn werfen, was ich nicht tun werde, es sei denn, du erwartest genau das von mir.

Doch ich weiß nicht, was du von mir erwartest und dieser Umstand bringt mich unwillkürlich zur Weißglut. Es leuchtet mir erst ein, dass ich mit meiner Vermutung völlig richtig liege, als ich den Käfer mangels Alternativen gegen die nächstgelegene Wand werfe und er daraufhin in seine Einzelteile auseinander springt. Siehe da. Wunsch ist prompt in Erfüllung gegangen. Ich Glückspilz. Ich poltere zu den Überresten des Käfers hin und fische zwischen den Holzstückchen ein kleines zusammengefaltetes Briefchen heraus. Es ist so klein, dass ich es vorsichtig öffnen muss und wie auf dem Topf finde ich bloß ein Symbol auf dem Papier vor. Eine Videokassette. Ein letzter Hinweis, der mich hoffentlich meinem Ziel näher bringen wird.


31. Fire

“Ich glaube nicht an den Phönix aus der Asche. Nur Loser stehen wieder auf. Menschen wie ich, die hinterlassen Geschenke, an die man sich ein Leben lang erinnert.”

In der Not entwickelt man bekanntlich Superkräfte. Ich nicht. Ich bekomme den bewusstlosen Ben Eulenstein kaum in Finja Nilssons Schlafzimmer getragen. Wobei getragen das falsche Wort für das ist, was ich mit dem Polizisten angestellt habe. Ich habe Ben Eulenstein an seinen Füßen mühselig über den Fußboden gezogen und ihn dann unter vollem Körpereinsatz, Schweißausbrüchen, Gefluche und Rückschlägen auf das Bett gezurrt. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, habe ich Ben zusätzlich an seinen Handgelenken an den beiden Bettpfosten am Kopfende festgebunden und den Rest vom Seil, das ich im Wandschrank gefunden habe, um Körper und Hals gewickelt, so wie du es mir gezeigt hast. Sollte Ben also wider erwarten gleich wach werden und sich freikämpfen wollen, würde er sich statt sich zu befreien, nur selbst würgen. Man könnte sich so, wenn’s blöd läuft, sogar erwürgen. Kommt drauf an, wie hartnäckig man versucht, sich die Fesseln herunter zu reißen. Aber die meisten geben auf, wenn’s drückt und die Luft knapp wird. Ich habe jedenfalls damals aufgegeben.

Doch jetzt sieht es anders aus. Diesmal werde ich kämpfen, weshalb ich wenig später im Finja Nilssons Wohnzimmer und vor dem Fernseher stehe. Ich kenne nicht viele, die heutzutage noch einen Videorekorder besitzen, umso erstaunter bin ich, dass ich tatsächlich unter dem Fernseher so ein Teil vorfinde. Es ist auch angeschlossen und ein rotes Blinklicht blinkt mir entgegen. Ich drücke das Knöpfchen, das dafür sorgt, dass Kassetten ausgespuckt werden, sollte sich eine Kassette im Rekorder befinden. Wie geheissen verabschiedet sich der gefrässige Rekorder von der gehamsterten Kassette nur um wenig später von mir wieder damit gefüttert zu werden. Ich schiebe sie nämlich zurück in den Schlitz und mache den Fernseher an. Als hätten Fernseher, Kassette und Rekorder nur auf mich gewartet, wird ein Film abgespielt. Die Qualität ist schlecht und krisselig. Der Ton lässt auch zu wünschen übrig, aber das Bild bereitet mir dennoch eine Gänsehaut und wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, dass die Temperatur in Finja Nilssons Wohnzimmer gerade um mindestens 10 Grad Celsius gefallen ist.

Eine verängstigte und blonde Frau blickt mir entgegen. Literweise Rotz läuft von ihrer Nase, Tränen rinnen über ihr schönes Gesicht. Und obwohl du mir eingetrichtert hast, dass ich für solche Frauen kein Mitleid empfinden soll, empfinde ich in diesem Moment zu tiefstes Mitleid mit Finja Nilsson, die das Pech hatte, dir zu begegnen. Auch du bist in der Aufnahme zu sehen. Wie ein schwarzer Schatten prangst du über der Frau auf, die du mit Gewalt vor ein Scheinwerferlicht gezwungen hast, und du hältst das Ding in der Hand, mit dem du die Käfer in den Kopf machst. Es sieht ein bisschen aus wie eine Pistole, altmodisch, golden, nur die Munition ist anders, die Munition und der Lauf. Statt mit Blei füllst du deine Waffe mit Larven und Eier und statt uns das Hirn wegzupusten, füllst du es mit Ungeziefer und siehst zu, wir leiden. Du pumpst die Viecher einfach in unseren Schädel hinein und beobachtest, was passiert. Und es passiert immer was, was genau, kann ich nicht sagen. Vielleicht will ich es auch nicht sagen. Ich weiss nur, dass es grauenvoll ist. Und auch Finja Nilsson sieht man an, dass sie denkt, dass das, was du mit ihr vorhast, grauenvoll sein wird. Weshalb sie gleich Folge leisten wird. Sie wird sich dir nicht widersetzen, weil wir alle anfangs die Hoffnung haben, dass du Erbarmen haben wirst. Aber wenn es etwas gibt, was du nicht hast, dann ist es Erbarmen.

Ich schiele über meine Schulter zu dem präparierten Engel hinüber und schüttele mich. Für Finja Nilsson kommt jede Hilfe zu spät und ich stehe unter Zeitdruck, weshalb ich das Video, auch wenn es mir das Herz bricht, vorspule, bis zu dem Punkt, als Finja Nilsson endlich ihren Mund öffnet und direkt zur Kamera spricht.

"Mein Name ist Finja Nilsson und ich soll dir sagen....  ich soll dir sagen,... er weiss, dass dein Bauch leer bleiben wird. Er hat aber einen Weg gefunden, ihn voll zu machen. Denn du bedeutest ihm viel, Marie.... sehr viel. Und er wird deinen Bauch voll machen... Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, er zwingt mich dazu, dir das zu sagen. Bitte hilf mir, bevor es zu spät ist.... Du musst mich finden. Du. musst. mich. finden. Er sagt, es habe etwas mit Italien zu tun und du würdest wissen, was du zu tun hast…”

Ich brauche einige Minuten, um zu verdauen, was ich gesehen und gehört habe. Der Schock nagt an mir wie ein Hund an einem Knochen und genauso fühle ich mich auch, angenagt und mit Zähnen in mir drin.

Italien. Es hat etwas mit Italien zu tun. Ich muss an den Strand denken, an das Biest, an meine Eltern und den Wohnwagen. Daran, wie ich dir zum ersten Mal begegnet bin und was für ein Gefühl diese Begegnung in mir ausgelöst hat. Herzklopfen. Ich habe dich für meinen Retter gehalten. Derjenige, der das Biest von mir herunter reißt. Dann warst du der Schatten, der mir vor dem Wohnwagen auflauert und dann… warst du derjenige, der mich aus dem Leben stibitzt und zu seinem Käfermariechen gemacht hat. Keine Ahnung, was du jetzt bist. Wahrscheinlich der Typ, den ich aufhalten muss, aber nicht kann, weil du alles in der Hand hast, selbst mich.

Manchmal frage ich mich, warum ich ausgerechnet dir begegnet bin. Genauso wie ich mich frage, wie ich an das Biest habe geraten können oder warum ich mit Jason geschlafen habe. Und jetzt, als ich in Finja Nilssons Schlafzimmer stehe und Ben Eulenstein so angaffe, gefesselt auf dem Bett, ergibt es für mich nur wenig Sinn, dass ich von allen Polizisten, die ich hätte erwischen können, Ben Eulenstein erwischt habe. Ein anderer hätte sich von mir eventuell nicht so linken und aufs Kreuz nehmen lassen. Ein anderer wäre mit der ganzen Meute groß aufgelaufen hier und wer weiss, ob ich dann den letzten und entscheidenden Hinweis hätte finden können. Es ist beinahe so, als wäre es Schicksal, dass Ben Eulenstein und ich uns begegnet sind und diese Erkenntnis bereitet mir Unbehagen. Gleichwohl erfüllt sie mich mit Freude, denn die Dinge sind nie sonderlich gut für mich gelaufen. Ich bilde mir sogar ein, dass du deine Finger im Spiel und Ben Eulenstein zu mir geschickt hast. Als so eine Art sonderbarer Test, den ich bestehen muss, aber nicht will. Alleine der Gedanke, dass du Ben Eulenstein manipuliert haben könntest oder er mit dir unter einer Decke stecken könnte, löst in mir den Wunsch aus, Ben Eulenstein zu töten.

Ich habe noch nie jemanden getötet, aber umringt vom Tod verspüre ich dieses seltsame Verlangen plötzlich. Ich brauche einige Versuche, um mich zu fangen und mich auf etwas anderes zu konzentrieren, als Ben Eulenstein mit einem Küchenmesser an die Gurgel zu gehen. Ich meine, ich weiss, dass man so etwas wie Töten nicht tun sollte, doch die Käfer in meinem Kopf toben. Sie schreien, brüllen, schlagen wild um sich, bohren und bersten… zerbersten mich.

Egal. Zurück zu Italien. Oder nach Italien. Italien ist ganz schön weit, viel zu weit weg, als dass eine Frau mit Prothesen so schnell oder einfach dorthin kommen könnte. Also gibt es nur einen anderen Ort, an den du mich schicken könntest, der mit Italien zu tun hat - und das wäre der Wohnwagen. Der Wohnwagen, der übrig geblieben ist. Der Rest ist in Flammen aufgegangen. Mein Zuhause, meine Eltern, sogar unser Hund Fifikus und ich hätte eigentlich auch elendig verbrennen sollen, hättest du mich nicht vorher mit dir mitgenommen. Mich hast du mitgenommen und den Wohnwagen. In diesem Wohnwagen haben wir viele Jahre gelebt. Du und ich. In diesem Wohnwagen hast du mir die schrecklichsten Dinge angetan. Ich hasse diesen Wohnwagen. Und dir muss klar gewesen sein, dass ich niemals zu diesem Wohnwagen zurückkehren wollen würde, würdest du mich nun nicht dazu zwingen.

Eigentlich ist es naheliegend, dass du mich genau an den Ort locken willst, an dem alles seinen Anfang gefunden hat. Es soll enden, wie es begonnen hat. Richtig?

Ich überlege kurz, ob ich Ben Eulenstein mitnehmen soll. Das “Wie” um Himmels Willen ich das anstellen soll, erstickt die Idee im Keim. Es gibt kein mögliches “Wie”. Ich werde Ben wohl oder übel gefesselt auf dem Bett zurücklassen müssen. Wäre ich du, würde ich versuchen, ihm deinen Mord irgendwie in die Schuhe zu schieben, aber da ich ich bin und nicht du, lasse ich Ben Polizist sein und kein Mörder werden. Das hast du dir bestimmt anders vorgestellt. Und auch die Käfer in meinem Kopf eskalieren und sind dagegen, als ich allein und ohne jemanden abgestochen zu haben, Finja Nilssons Wohnung verlasse.

Die Käfer tanzen auch noch wild unter meiner Schädelrinde herum, als ich durch den Wald stapfe, den ich bereits etliche Male abgesucht habe. Ich habe bisher immer einen weiten Bogen um den Wohnwagen gemacht - auch wenn es naheliegend gewesen wäre, genau dort zu suchen. Dennoch - wer kehrt schon gerne an den Ort des Geschehens zurück, wenn man ihm einmal entkommen ist. Und es hat mich viel gekostet, ihm zu entkommen. Von zwei meiner Extremitäten einmal abgesehen. Oder meinem Gesicht.

An meinem Ziel angekommen, mustere ich die verhasste alte Schrottkiste einmal von oben bis unten. Weiss, ranzig, dreckig und im Innern noch abscheulicher. Doch anders als in meiner Erinnerung ist die Tür nun von außen und nicht mehr von innen verschlossen. Das gleiche Modell Vorhängeschloss wie an der Schatulle prangt unter dem Türgriff. Das Schloss, für das ich eine Zahlenkombination benötigt habe, die, die ich unter den Postern über dem Bett gefunden habe. Die Frage ist, ob die Kombination auch bei diesem Schloss funktioniert?

Ich zucke mit den Schultern und probiere es einfach aus. Es funktioniert und nicht nur das. Mein Magen rebelliert. Die Käfer in meinem Kopf summen eine merkwürdige Melodie. Beinahe so, als hätten sich die Mistviecher alle zu einer Einheit verschworen und bewegen sich fortan im Gleichtakt. Von links nach rechts und rechts nach links. Kein Durcheinander mehr, nein, das Chaos verläuft nun in geregelten Bahnen. Das muss dieser Trigger sein, dieses Trauma, von dem meine Psychologin gesprochen hat. Diese lähmende Angst, die zu Schweißausbrüchen und starren Augen führt. Als hätte ich plötzlich vergessen, wie Blinzeln geht, stehe ich vor der Tür und glotze Türgriff sowie Schloss ungläubig an.

Obwohl ich nicht genau weiss, was mich erwarten wird, weiss ich, dass der Wohnwagen schallisoliert ist. Gut abgedichtet. Dafür hast du gesorgt. Weder Geräusche noch Gerüche dringen nach außen. Was du dort drin versteckst, das bleibt versteckt, außer du willst, dass man es findet. So wie jetzt.

Ich muss daran denken, wie oft ich versucht habe, diese Tür zu öffnen. Ich habe so lange gekratzt, bis mir die Fingernägel abgefallen sind. So lange geschrien, bis meine Kehle ganz wund gewesen ist. Ich habe getreten, ob mit Bein oder Stumpf. Ich habe geschlagen, gehämmert, meinen Kopf als Rammbock benutzt. Ich hätte mir sogar einen Finger abgebissen, ihn vom Fleisch getrennt und mit einem Knochensplitter versucht, das Schloss zu knacken, wäre ich dafür nicht zu feige gewesen. Witzig, wie schnell man den unmittelbaren Tod hinnimmt, wenn es darum geht, ein Körperteil zu verlieren. Man möchte ganz bleiben und das um jeden Preis. Natürlich gibt es auch noch diejenigen, denen das egal ist, aber ich wollte nie entstellt sein. In meiner Vorstellung war entstellt sein, das Schlimmste, was man mir antun könnte. Du hast mich eines Besseren belehrt. Es gibt weitaus schlimmere Dinge, als nicht mehr schön zu sein. Und eines dieser Dinge bist Du. Das merke ich umso mehr, als ich es endlich schaffe, die Türklinke herunter zu drücken und dein bittersüßes Geheimnis dahinter vorfinde. Es verschlägt mir nicht nur die Sprache, sondern auch den Atem. Es ist eigentlich unmöglich und doch sehe ich es vor mir und erkenne es oder besser gesagt sie wieder. Das Biest. Dort auf dem Schragen. Zumindest das, was du von ihr noch übrig gelassen hast. Ein zappelnder Fleischklumpen ohne Beine und Arme. Zappelnd wie ein Fisch an Land.

Ich traue mich erst gar nicht, den verfluchten Wohnwagen zu betreten. Es ist so surreal und dennoch bin ich mir zu tausend Prozent sicher, dass dieser Fleischklumpen dort drüben das Biest sein muss. Es kann nur das Biest sein, denn du hast Finja Nilsson sagen lassen, dass es mit Italien zu tun hat. Außerdem würde ich das Biest unter vielen Biestern wiedererkennen. Sie hat eines dieser außergewöhnlichen Merkmale. Ein Muttermal an einer ganz besonderen Stelle. Ich muss näher rangehen, einfach, um mir wirklich sicher sein zu können. Ich stolpere über einen klebrigen Boden, inhaliere Verwesungsgerüche und Chemikalien, bleibe an widerlichen Erinnerungen hängen, die an mir ziehen und zerren. Weine und zittere. Ich bin erst vollkommen ruhig, als ich direkt vor dem Biest stehe und auf sie herabsehe. Da ist es. Das herzförmige Muttermal über ihrem Bauchnabel, um das ich sie damals beneidet habe, weil es so niedlich aussieht und so gut zu ihr passt. Der Bauch sieht aber nicht mehr so aus wie damals. Nicht mehr flach und straff. Jetzt ist er gewölbt, dick und prall. Mein Bein ist wackelig, selbst die Prothese steht nicht mehr fest. Mein Puls rast. Die Schläuche rund um das Biest herum pumpen Substanzen in das Biest hinein. Vielleicht Kochsalzlösung, vielleicht etwas anderes. Da sind auch Drähte, Nähte und schlecht verheilte Wunden, das ganze Biest von Kopf bis Rumpf zerschunden. Narben und Farben zieren ihre Haut und aus ihrem Mund kommt kein Laut. Mehr. Er ist zwar weit offen, zu einem Schrei verzogen. Doch im Innern ihrer Mundhöhle fehlt ein entscheidendes Organ. Die Zunge. Und wer weiss, was du dem Biest noch entnommen hast. Vielleicht hast du an ihren Stimmbändern rumgewerkelt. Oder irgendetwas anderes mit ihr gemacht. Ich traue dir absolut alles zu. Nur hätte ich dir nicht zugetraut, dass du sie über all die Jahre am Leben gelassen hast.

In meiner Traumvorstellung hast du das Biest kalt gemacht. In der Realität schlägt ihr Herz nach wie vor, auch wenn es noch das Einzige ist, was vom Biest schlagen kann. Du hast sie wehrlos gemacht und wäre dieses Bild, was du gezeichnet und zu dem du sie gemacht hast, nicht so entsetzlich schrecklich, hätte ich applaudiert. Ich weiss, ich wiederhole mich, aber bisher habe ich sowas für unmöglich gehalten. Du hast es möglich gemacht. Wahnsinn. Ja, du bist komplett wahnsinnig geworden. Oder du warst es schon immer. Und es ist auch der Wahnsinn, dass ein Mensch so eine Prozedur überleben kann. Überleben muss.

Der Drang, dem Biest über ihr blondes, nicht mehr schönes Haar zu streicheln, ist überwältigend. Ich habe noch nie so viel Mitleid für jemanden empfunden wie für das Biest in diesem abscheulichen Moment. Ja. Meiner Meinung hat sie den Tod verdient und nicht das, was du ihr stattdessen gegeben hast. Und ja, den Tod verdient eigentlich niemand, weil das Leben kostbar ist. Dennoch schlummert der Hass in mir, obwohl ich ihn gerade - in diesem Augenblick- vergeblich suche. Es ist beinahe so, als hätte ich den Hass vor dem Wohnwagen stehen gelassen und wäre alleine und davon losgelöst durch die Tür gegangen.

Die blauen, mit roten Adern versehenen und unterlaufenen Augen des Biest starren mich an. Flehend. Fixieren mich. Ich bilde mir auch ein, eine Spur Hoffnung darin aufblitzen zu sehen. Die Frage ist nur, worauf hofft das Biest? Dass ich ihrem Elend ein Ende bereite oder ihr helfe zu fliehen? Ich bin mir nicht sicher, ob man in diesem Zustand, in dem sich das Biest befindet, wirklich weiterleben möchte. Oder ob das irgendein Arzt wieder heile machen könnte. Ich seufze, nicht weil ich herzlos bin, sondern verzweifelt. Nun habe ich gefunden, was du jahrelang vor mir versteckt hast, doch ich weiss nicht, was ich mit meinem Fund anfangen soll. Ich dachte immer, ich bin die Einzige für dich. Diejenige, die du behalten wolltest. Die, die auf der Erde geblieben und nicht wie alle anderen von dir Himmel gebracht worden ist. Ich will nicht sagen, dass ich enttäuscht bin, aber ein wenig bin ich es schon. So viele Jahre habe ich dich ausgehalten, so viel Schmerz ertragen, Ängste ausgestanden, ich habe mich selbst verloren. Bin zu etwas anderem geworden. Zu dem, was du aus mir gemacht hast. Zu einem Krüppel. Zu einer Abscheulichkeit. Und für was? Für das hier?

Ich glotze das Biest missmutig an. Malme mit dem Kiefer. Nebenbuhlerinnen, das ist das, was wir sind. Eigentlich waren wir das schon von Anfang an. Ich hasse dich. Ja. Ich hasse dich wirklich. Also nicht das Biest, sondern dich. Ich denke an den Brief zurück, den du hinterlassen hast, bevor du verschwunden und nicht mehr zurückgekehrt bist.

Es waren nur drei lächerliche Worte, drei Punkte und dahinter ein dämliches Lachsmiley.

“Finde es, sonst… Grins.”

Ich könnte mir vor Wut jedes Haar einzeln ausreißen, weil ich nun weiss, was du mit “es” gemeint hast.

“Denkst du, es gibt noch mehr Frauen wie uns?”, frage ich das Biest, das ohnehin nicht antworten kann und auf dem Schragen keine gute Figur macht. Ja. Ob es noch mehr von uns gibt? Frauen, die er nicht in den Himmel gebracht hat. Geschenke, die er irgendwo hinterlassen hat. Die gefunden werden wollen.

Dann leuchtet mir urplötzlich etwas ein. Allzu lange kannst du das Biest nicht allein gelassen haben. Nicht in ihrer Verfassung, nicht an diesen Drähten und Schläuchen. Und wer weiss, wann du wiederkommen und nach ihr sehen wirst? Prompt beginnt mein Puls abermals zu rasen. Zu hetzen. Und da ist sie, wie auf Knopfdruck, wie angerührt, die Panik, die mein Blut im Schnelltempo in meinen ganzen Körper transportiert. Ich bebe, ich schaudere und als hätte es nun auch endlich in meinem Kopf Klick gemacht, schalte ich um.

“Wir müssen hier raus”, flüstere ich dem Biest zu, die weder gehen, krabbeln noch kriechen kann. Und die definitiv zu fett ist, um von mir getragen zu werden. “Ich muss hier raus”, korrigiere ich mich im Stillen. Aber das Biest hier zurücklassen, das kann ich nicht. Nicht mehr. Nicht, nachdem ich nun weiss, dass ich nicht die Einzige bin, die er am Leben gelassen hat und ich hätte enden können wie das Biest. Halblebendig und dennoch tot. Ich muss uns hier raus- und in Sicherheit bringen und retten. Keine Ahnung wie. Irgendwie. Und zwar schnell. Verdammt. Ich hätte Ben doch mitnehmen sollen. Der hätte das Biest ohne Probleme hier raushieven können. Vielleicht nicht unter Drogen. Aber im nüchternen…

Ich kreische, als plötzlich besagter Polizist mich von hinten in seine Arme hineinzieht. Ich erkenne ihn an seiner Lederjacke. An seinem Geruch, der ein bisschen nach abgestandenem Zigarettenqualm riecht und an der Art, wie er mich umarmt. Genauso, wie er es schon einmal getan hat.

“Gefällt dir mein Geschenk?”, schnurrst du durch Ben Eulensteins Mund in mein Ohr. Mein Herz bleibt stehen, versagt seinen Dienst.. Bist du,... bist du…

“Bist du überrascht?”, hauchst du leise und raubst mir den Atem. “Wir sind wieder hier… erinnerst du dich?”, sprichst du weiter und hörst dich ganz anders an. Anders als gewohnt. Falsch und nicht richtig. Das hier ist nicht richtig. Das ist beschissen nochmal nicht richtig.

“Das weckt schöne Erinnerungen, findest du nicht?”

Finde ich nicht. Doch ich sage nichts. Die Käfer singen in meinem Kopf. Sie jubeln, lassen allesamt die Korken knallen, sie haben dich vermisst. Ganz furchtbar vermisst.

Und dann sehe ich sie, spüre sie ganz nah an meinem Gesicht. Deine Waffe - die, mit der du Käfer in den Kopf machst und ich verstehe, was passiert ist. Du bist nicht mehr Marek, du bist nun…

“Marie”, raunst du und ziehst dabei die Vokale ganz lang. “Nun können wir endlich vollkommen sein, verstehst du? Eine Familie.”

Ich kapiere absolut nichts. Ich will nur hier weg. Ich muss hier weg.

Du deutest mir deiner Hand auf das Biest und drückst mich fester an dich heran.

“Du kleines, unschönes Dummerchen. Kannst du es dir denn nicht denken? Sie hat dir einst etwas sehr Wichtiges genommen - damals in Italien, bei den Klippen. Natürlich hast du das nicht vergessen. Wie könntest du? Sie war grausam zu dir, weil solche Biester nunmal grausam sind. Ich kann dich zwar nicht reparieren, Marie, denn was kaputt ist, bleibt kaputt, aber ich habe es für dich wiedergeholt. Das, was sie dir genommen hat. Sozusagen aus dem Himmel zurückgeholt und wieder in Ordnung gebracht. Dein Bauch war wegen diesem Biest jahrelang so leer und du konntest ihn nie füllen, egal wie sehr du dich bemüht hast. Und das war und ist nicht fair. So wie die Welt nie fair zu dir oder mir gewesen ist. Wir sind gleich. Verstehst du, Mariechen? Wir sind uns so ähnlich. Und jetzt,...  bekommst du das, was du vielleicht nicht gewollt, aber dir gewünscht und umso mehr verdient hast. Und das Beste an der ganzen Sache ist, du bekommst es von mir. Und es wird unser sein. Ja. Ich bin mir absolut sicher. Du wirst eine wundervolle Mutter für mein Kind sein.”

„Glauben Sie an Zufälle?“, frage ich meine neue Psychologin. Die alte ist wie durch Zauberhand verschwunden und mit ihr auch die dämliche Fassade - denn wenn ich hier aus dem Fenster gucke, sehe ich nur ein Maisfeld. Ein ewig langes Maisfeld wie aus einem Horrorfilm.

„Oder glauben sie an eine göttliche Fügung, so etwas wie Schicksal?“, schiebe ich schnell hinterher und sehe die Frau mir gegenüber hoffnungsvoll an. Fast so, als wäre mir ihre Meinung wichtig. Was sie nicht ist. Jedenfalls nicht so richtig. Ob Schicksal oder Zufall - was ändert das schon. Das Resultat bleibt dennoch gleich.

Die neue Psychologin kontert wie die alte mit einer Gegenfrage. Woran ich denn glaube. Als hätten sich diese Psychologen untereinander abgesprochen oder als wären sie allesamt geklont. Wie zermürbend. Doch anders als meine alte Psychologin ist diese hier brünett, etwas rundlich, in ihren Vierzigern und sie trägt eine Brille.

„Ich glaube an Pech“, sage ich plump und meine es auch so. Pech. Schlichtweg Pech.

„Ich habe diesen Mann kennengelernt, oder nein, nicht unbedingt kennengelernt. Wir sind uns einfach… begegnet“, beginne ich und sehe dich vor mir. Irgendeine Version von dir. Die, die mir am besten gefällt. „Wobei ich nicht glaube, dass er wirklich ein Mann ist. Er ist vielmehr ein Parasit“, fahre ich fort und spüre, wie die Käfer in meinem Kopf herum krabbeln und meinen Verstand infiltrieren.

„Und ich komme einfach nicht von ihm los. Es ist fast so, als würde er mich verfolgen. Egal, wo ich hingehe und was ich mache. Er ist ein Teil von mir, als hätte er sich in mich hinein gepflanzt und würde fortan in mir wohnen“ - ich hole einmal tief Luft und starre aus dem Fenster. „Klingt das schräg?“, frage ich, keine Antwort erwartend.

„Ich meine“, hänge ich rasch hinten an und positioniere mich auf dem Stuhl neu, dann tippe ich mit dem Finger gegen meine kahle Schädelhälfte. „Wie will man von jemandem loskommen, der tief in einem drin steckt und einen die abartigsten Dinge tun lässt, egal ob man sie tun will oder nicht? Dinge, die sich andere nicht einmal vorstellen können?“

„Über was für Dinge reden wir, Marie?“, erkundigt sich meine Psychologin vorsichtig, nachdem sie den anfänglichen Schock über das von mir Gesagte erst einmal verdaut hat.

Ich muss an das Biest denken und an das, was wir dem Biest angetan haben. Und ich muss auch an Ben Eulenstein denken. Ja. Ich denke sehr oft an ihn und daran, dass ich ihn dir ausgeliefert habe und dass ich es bereue, ihn in Finja Nilssons Wohnung zurückgelassen zu haben.

„Sagt ihnen der Schmetterlingseffekt etwas?“

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