Jeff the Killer 2 - 10 Jahre später

Creepypasta 21. Jan. 2022

Warnung:

Wir erinnern uns daran, dass dies nur eine fiktive Geschichte ist. Der Inhalt soll schockieren, abschrecken und Angst auslösen.  Das Leben ist kostbar. Das Leben ist ein Geschenk und man sollte andere so behandeln, wie man selbst gerne behandelt werden möchte. Mit Respekt, Liebe und Verständnis. Solltest du dunkle Gedanken haben, die dich drohen einzunehmen, dann suche dir bitte Hilfe. Es gibt immer eine helfende Hand, man muss danach nur greifen wollen.

"Der brutale Schlitzer ist noch immer auf freiem Fuss! Und alle fragen sich, wo und wann wird er wieder zuhacken? Bild ist an dem Fall dran! Seit 10 Jahren schlitzt der brutale und unaufhaltsame Schlitzer überall und ohne Muster noch immer wahllos gute Staatsbürger auf! Die Polizei konnte ihn bisher noch nicht fassen. Was ist nur los? Warum passiert nichts? Wie viele Menschen müssen brutal abgeschlachtet werden, bis man dem Schlitzer endlich das Handwerk legt? Das Volk lebt weiterhin in Angst!
Bild spricht nochmals mit dem kleinen, tapferen Jungen, der vor 10 Jahren dem brutalen Messerangriff des Schlitzers um Haaresbreite entkommen ist!
Der kleine Sebastian hat gerade seine Ausbildung zum Krankenpfleger angefangen und ist seit dem Vorfall von vor 10 Jahren stark traumatisiert. Falls Sie Hinweise haben bezüglich des Verbleibs des Schlitzers oder Spenden möchten, wenden sie sich bitte an unsere Geschäftsredaktion. Achtung zum Schutz der Privatsphäre wurde die folgende Szene nachgestellt. Wir bitten um ihr Verständnis und danken Ihnen im Voraus, dass Sie uns, der BILD, ihr Vertrauen schenken. Und denken Sie immer daran, wir von der BILD sind für sie da."

////////////// INTERVIEW /////////////

"Erinnerst du dich noch an die Nacht vor 10 Jahren, Sebastian?“
„Ja, ich war damals noch sehr klein. Aber ich kann mich noch genau an sein Gesicht erinnern. Es war unmenschlich. Diese grossen, schwarzen, leblosen Augen und dieses abscheuliche Grinsen in seinem Gesicht…. Es war furchtbar. Mein Vater und ich sind nur knapp mit dem Leben davongekommen…“
„Wie geht es dir heute, Sebastian?“
„Seit dem Tag, als der Schlitzer in unser Haus eingedrungen ist, bin ich in psychologischer Betreuung. Ich kann nicht mehr ruhig schlafen, bin auf Medikamente angewiesen und mein Vater… sie können sich nicht vorstellen, wie wir uns fühlen. Ich kann einfach nicht nachvollziehen, wieso die Polizei dieses Monster noch nicht geschnappt hat! Wie kann man dieses polizeiliche Versagen überhaupt tolerieren? Die trinken den ganzen Tag nur Kaffee und fressen Donuts, währenddessen wir hier….“

Ich schalte den Fernseher aus und schiebe den Rest meines angefangenen Donuts in meinen Mund. Nach ein paar Mal Kauen spüle ich den Brei mit einem Schluck Kaffee herunter. Lügenpresse. Ich reisse mir seit 10 Jahren den Allerwertesten auf, um diesen Mistkerl zu schnappen und diese verdammte Boulevard-Presse hat nichts Besseres zu tun, als eine Hetzkampagne zu starten, sich in unsere Ermittlungen einzumischen und diese sogar zu behindern. Wir von der BILD sind für sie da. Bla. Bla. Bla. Wo war die Bild, als mein Sohn Randy sie gebraucht hätte? Ich schiebe die Kaffeetasse beiseite und mache auf meinem Schreibtisch Platz für ein härteres Kaliber. Scotch. Als ich anfangen will, den teuren Whiskey in meinen Flachmann abzufüllen – unterwegs sind die Dinger wirklich Lebensretter – wird die Tür von meinem Büro aufgerissen und Timo erscheint mit einem Stapel Akten vor mir. Na super. Der Psychofitze hat mir gerade noch gefehlt.
„Ist schon wieder Donnerstag?“ begrüsse ich ihn unfreundlich und fahre mit meinem Vorhaben unbekümmert weiter. Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass ich ein deutliches Alkoholproblem habe.
Timo schenkt mir ein träges Lächeln, dann schleppt er seinen dünnen Körper an diversen Dingen, die auf dem Boden rumliegen (ich werde nicht dafür bezahlt, mein Büro sauber zu halten) vorbei und bugsiert den Aktenstapel direkt vor meine Nase. „Nein, Leon, es ist Dienstag. Aber ich wollte mal nach dir sehen. Offensichtlich war das keine schlechte Idee. Ist das etwa Whiskey?“, fragt er mich und rümpft die Nase. Ich zucke lediglich mit den Achseln. „Yep, guter Scotch.“
„Du solltest während der Arbeit nicht trinken, das weisst du.“, argumentiert er und breitet die Akten vor mir auf dem Tisch aus. Diverse Gesichter blicken mir entgegen. Alle kaltblütig abgeschlachtet.
„Ich arbeite nicht. Siehst du doch.“, sage ich trocken, nehme einen Schluck Whiskey direkt aus der Flasche und schraube danach den Flachmann zu.
„Ich sehe so einiges, was ich lieber unkommentiert lassen würde. Aber ich kann nicht. Ich mache mir wirklich Sorgen um dich, Leon.“
„Mir geht’s gut, Doc. Alles paletti.“
„Dir geht es gar nicht gut. Letztes Jahr wolltest du das Büro mit deiner Hirnmasse tapezieren. Erinnerst du dich? Allmählich bereue ich es, dich vor deiner Suspendierung gerettet zu haben. Ich dachte, es würde dir helfen, wenn du weiterhin im Dienst bleiben und nach dem Mörder deines Sohnes suchen könntest, aber ich befürchte so langsam, dass ich mich geirrt habe.“ Timo seufzt. „Ich weiss wirklich nicht mehr weiter.“
„Achwas, Sohn weg, Frau weg, mir könnt’s nicht besser gehen, Doc. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ausser vielleicht meinen Job. Aber wenn du mir den auch noch wegnehmen willst. Nur zu.“  Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und schwinge meine Füsse auf meinen Schreibtisch. „Die BILD regelt das schon.“, murmle ich träge und wünsche mir, sie hätten mir die Dienstwaffe nicht weggenommen. Aber wozu beschweren, wenn man auch einen Schluck Scotch trinken könnte. Müde kippe ich den Rest der Flasche in meine Kaffeetasse und gebe meinem Leben wieder einen Sinn. Trinken.
Timo sieht mich an, schüttelt mit dem Kopf und versucht die Dokumente, die zwischen meinen Fusssohlen und der Schreibtischplatte eingeklemmt sind, zu retten. Als ich vor ein paar Jahren die Therapie bei ihm gestartet habe, sind wir den Fall Schlitzer gefühlt Tausend mal durchgegangen. Timo ist kein normaler 0815 Seelenklempner. Zuhören, Nicken, Ja und Amen sagen und Pillen verschreiben sind nicht so sein Ding. Er nimmt die Dinge lieber selbst in die Hand.
„Komm schon, Leon! Irgendetwas müssen wir übersehen haben. Der Kerl kann doch nicht einfach zig Menschen abmurksen und sich danach in Luft auflösen. Jeder hinterlässt Spuren. Der Typ war gerade mal… puh, ein verdammter Teenager als er seinen ersten Mord begangen hat.“
„Ja, er hat meinem Sohn das Genick gebrochen und die haben den Psychopathen einfach wieder zurück zu Mami und Papi gelassen. Kuscheljustiz. Ein tragischer Unfall soll das gewesen sein! Dass ich nicht lache. Er hätte in diesem Feuer elendig verbrennen sollen. Das wäre Gerechtigkeit nach meinem Geschmack gewesen.“
Timo verzieht das Gesicht und blättert die Dokumente durch. Dann hält er abrupt inne und zupft ein Blatt heraus. Mühsam kämpft er sich durch den Müll auf meinem Boden zum Whiteboard an der Wand vor, angelt sich einen Magneten von der Ablage und heftet das Stück Papier in seiner Hand damit an das Brett. Das traurige Gesicht von Keith Anderson blickt mir entgegen. Das Foto ist direkt nach dem Brand damals vor 10 Jahren entstanden. So ein kleiner Junge, Billy war sein Name, hat behauptet Keith sei mit Randy, Troy und dem Killer unterwegs gewesen und aufgrund seiner Aussage ist man zuerst davon ausgegangen, dass die vier Jungs zusammen aus Spass den Brand in Frau Connors Badezimmer gelegt haben. Es hat sich erst ein paar Wochen später herausgestellt, was wirklich an diesem Tag passiert ist. Das war den Medien aber egal, gleich am ersten Tag nach dem Brand musste darüber berichtet werden. Warten kostet Geld und die sensationsgeile Leserschaft muss schliesslich befriedigt und gefüttert werden. Die Schlagzeilen waren herzergreifend: „Junge nach Brand grausam entstellt! Nur knapp mit dem Tod entkommen! Die Schutzengel haben über ihn gewacht!“ Über Keith wurde kein Wort in der Presse verloren. Dabei leidet der Junge bis heute noch an den Folgen. Uns wurde nur gesagt, dass er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und zu seiner eigenen Sicherheit einen anderen Namen angenommen hat. Soviel ich weiss, sitzt er in der Geschlossenen und wird doch auch so schnell nicht mehr rauskommen. Wieso auch, der Bastard, der dafür verantwortlich ist, läuft schliesslich immer noch draussen rum und schlachtet friedlich Leute ab.
„Keith Anderson, der einzige Überlebende. Wir haben bisher nicht mit ihm gesprochenen, vielleicht kann er uns etwas sagen, was wir noch nicht wissen. Irgendein Anhaltspunkt.“, meint Timo und tippt mit seinem Finger gegen das Foto von Keith. Ich bin zwar angesoffen, aber selbst in meinem Zustand merke ich, dass Timo lediglich versucht mich zu trösten und mir neuen Lebenswillen einzuflössen, in dem er so tut, als gäbe es irgendeine Chance, den verdammten Killer doch noch irgendwie zu schnappen. Aus diesem Anlass, nehme ich einen weiteren Schluck Whisky aus meiner Kaffeetasse und gähne anschliessend herzhaft.
„Er ist nicht der einzige Überlebende, es gibt da noch diesen Sebastian, der zusammen mit seinem Daddy mit der BILD kuschelt. Die wurden bereits befragt, mehrmals. Da kommt nix raus ausser buhuhuuhuuu fast hätte er uns gekriegt buhuhuhuu uns geht es gar nicht gut, es war sooooo schlimm buhuhuhu. Letztes Jahr wollte mir der Kerl und sein Vater nicht mal mehr die Tür öffnen, weil sie den Glauben an die Polizei verloren haben. Und Keith, den können wir nicht befragen, offiziell existiert Keith Anderson nicht mehr. Der sitzt in der Geschlossenen unter anderem Namen. Keine Chance, da einfach rein zu marschieren und eine Befragung durchzuführen. Wer weiss, wie Matsche der schon in der Birne ist.“, argumentiere ich und verfluche mich dafür, keinen Dartpfeil zur Hand zu haben.
„Hmmm“, erwidert Timo nachdenklich und wirft nochmal einen Blick in die Akten. Dann fängt er an Fotos der Opfer des Schlitzers auf das Whiteboard  zu heften. Mit einem roten Filzstift malt er Kreise um ein paar der Fotos und zieht Striche sowie Pfeile, sieht zwar schön aus, aber weiterhelfen wird das auch nicht. Nachdem er fertig ist mit seinem Kunstwerk, geht er ein paar Schritte zurück und wäre beinahe dabei über einen Tennisball gestolpert, der auf dem Boden herumliegt. Grübelnd begutachtet er sein Meisterwerk und massiert sich dabei die Schläfe.
„Hmmm“, wiederholt er und ich schaue derweil interessiert dem Tennisball  zu, wie er durch mein Büro rollt. „Wir haben den Fall schon gefühlt 1000 Mal durchgekaut, es gibt keine Zeugen, keine Spuren, kein Muster. Absolut nichts, was wir nicht schon versucht und untersucht haben. Der Typ ist wie ein Geist. Er taucht auf, hinterlässt ein Massaker und löst sich dann in Luft auf.“
„Dann kauen wir den Fall halt 1001 Mal durch.“
„Logisch. Beim 1001 Mal stolpern wir garantiert über eine altmodische Öllampe, diese reiben wir dann und wünschen uns vom Dschinni , dass er den Schlitzer auf einem Teppich in unsere Arme fliegen lässt, damit wir ihn einbuchten können und die Sache endlich gegessen ist. Ach ja und danach gönnen wir uns zu dritt ein bisschen Opium in einer Shishabar und feiern unsern Sieg.“ Ich muss lachen, hole mein Handy aus meiner Hosentasche und drücke auf den Bildschirm. „Siri, wo ist die nächste Shishabar?“
Timo schüttelt mit dem Kopf und wirft mir einen giftigen Blick zu, während Siri mich fröhlich über die nächsten Sishabars in meiner Umgebung in Kenntnis setzt. Zufrieden und topinformiert stecke ich das Handy zurück in die Hosentasche und schaue Timo erwartungsvoll an. „Vielleicht sollten wir den Part mit der Öllampe und der Einbuchtung überspringen und direkt in die Bar gehen! Ich finde die Idee grossartig!“
Timo wendet sich mit einem genervten Stöhnen von mir ab und widmet sich wieder seiner Recherche auf dem Whiteboard. „Irgendetwas müssen wir übersehen haben. Es MUSS eine Verbindung zwischen den Opfern geben. Ein Motiv. Ein Auslöser. Kein Killer killt einfach so. Vielleicht müssen wir beim Killer selbst anfangen und uns weniger auf die Opfer konzentrieren. Gehen wir mal davon aus, dass dieser Brand vor 10 Jahren tatsächlich ein Unfall gewesen ist. Eine Rauferei zwischen Jugendlichen. Vielleicht eine Mutprobe. Schliesslich war der Junge vorher niemals auffällig. Er ist neu in die Stadt gekommen und wollte Anschluss finden. Vielleicht wurde er gemobbt.“
„Kann ich niemandem verübeln.“, sage ich nur trocken und stelle mir vor, was ich dem Mistkerl alles antun würde, wenn ich ihn in die Finger kriege und keinen Eid geschworen hätte.
„Leon! Mobbing ist eine ernstzunehmende Sache. Niemand hat es verdient, gemobbt und ausgeschlossen zu werden.“, belehrt mich Timo mit ausgestrecktem Finger. Ich zucke lediglich mit den Achseln.
„Die Kids an seiner Schule haben nur gemeint, er hätte sich, ich zitiere „komisch“ verhalten. Sein Mathelehrer sagte, er wäre unkonzentriert gewesen. Ein Tagträumer. Ausserdem war er auffällig, bevor er mit dem Morden angefangen hat. Er hat meinen Jungen und seine Kumpels versucht an der Bushaltestelle abzustechen. Haben wir auch erst herausgefunden, als wir das Tagebuch seines toten Bruders Liu gefunden haben. Warum er den abgemurkst hat, weiss auch kein Schwein und die Leiche hat man auch nie gefunden nur literweise Blut.“
„Soviel ich weiss haben dein Sohn und seine Kumpels ihn provoziert. Steht zumindest so in meinen Unterlagen.“ Meine Augen formen sich zu Schlitzen. „Willst du damit etwa sagen, mein Sohn hat verdient, was der Mistkerl ihm angetan hat?“, fauche ich Timo an und er hält abwehrend die Hände vor sein Gesicht. „Nein, das will ich nicht sagen, ich versuche nur zu verstehen, wieso aus diesem Jungen ein abscheulicher Mörder geworden ist. Beruhige dich, Leon.“
„Ich habe mich auch oft in meiner Schulzeit geprügelt, keiner der Kerle, denen ich damals die Fresse poliert habe, bringt heute wahllos Leute um die Ecke.“, knurre ich und wuchte meine Füsse vom Tisch.  Als ich von meinem Stuhl aufstehe und auf Timo zugehe, wie ein aufgestachelter Bulle auf einen Stierkämpfer, versucht dieser verzweifelt seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, in dem er mir ein Foto von meinem Sohn vors Gesicht hält, als ich vor ihm zum Stehen komme.
„Ich will doch nur den Mörder deines Sohnes verstehen, damit wir ihn schnappen können und er endlich eine gerechte Strafe erhält.“, fiepst der Psychiater leise. Ich halte inne, starre auf das Foto meines Sohnes. Mein Sohn. Tränen schiessen mir in die müden Augen und ich muss den Blick abwenden.
Timo legt eine Hand auf meine Schulter. Für einen Moment verharren wir in dieser Position.
„Ich vermisse Randy.“
„Ich weiss.“, flüstert Timo und nimmt die Hand von meiner Schulter. „Wir schaffen das zusammen. Wir müssen uns nur konzentrieren.“
Ich nicke und schaue auf das Whiteboard hinter Timo. Vielleicht hat er recht. „Na gut. Also, ignorieren wir mal die Opfer und fokussieren uns auf den Mistkerl.“
„So ist’s recht. Gehen wir mal davon aus, dass der erste richtige, geplante Mord nach seinem Krankenhausaufenthalt stattgefunden hat. Der Mord an seiner Familie. Warum hat er sie umgebracht? Was könnte der Auslöser gewesen sein?“
„Was schaust du mich so an? Du bist der Psychologe von uns beiden. Ich kann nur sagen, dass wir in Lius Tagebuch keine konkreten Hinweise gefunden haben. Naja, im letzten Eintrag vor seinem Tod hat er geschrieben, dass sein Bruder aussieht wie Frankensteins Monster und balla balla im Kopf ist. Vielleicht hat das Feuer nicht nur sein Gesicht gefressen sondern auch die Masse darunter verkokelt. Wir haben natürlich den behandelnden Arzt diesbezüglich nach seiner Meinung gefragt, der meinte auch, dass der Schlitzer wohl ein leichtes Trauma davongetragen hat, wäre aber anscheinend nicht unüblich, dass man ein bisschen Plemplem im Schädel ist, sobald man frisch aus dem künstlichen Koma erwacht.“  Ich zucke mit den Achseln. „Aber ob das als Ansporn reicht, seine ganze Familie abzuschlachten, ich weiss ja nicht.“
Timo kratzt sich über das Kinn und notiert die Begriffe Koma, Trauma, auffälliges Verhalten in Klammer verrückt und Frankensteins Monster mit einem roten Stift auf das Whiteboard. Dann dreht er sich wieder zu mir um und sieht mich an. „Stand sonst noch etwas Erwähnenswertes in Liu’s Tagebuch? Irgendetwas über die Zeit davor, über den alten Wohnort vielleicht?“
Ich überlege und gehe im Kopf nochmals den Inhalt des Tagebuchs durch. Was sich als eine Herausforderung herausstellt. Ich habe das Ding nur einmal komplett durchgelesen und dabei das meiste auch nur überflogen. Schliesslich fiel sowas nicht in mein Fachgebiet. Klar, man muss jedem Hinweis nachgehen, aber ein psychologisches Gutachten erstellen aufgrund eines Tagebuchs von einem Teenager, der nicht mal selbst der Killer ist, gehört definitiv in eine andere Abteilung und soviel ich weiss, hat diese Abteilung auch nichts Verwertbares herausgefunden. Zumindest nichts, was geholfen hätte diesen Mistkerl von Killer zu schnappen.
„Normaler 0815 Teenieshit halt. Ab und zu gab es ein bisschen Zoff zwischen Mutter und  Vater. Sie waren immer etwas knapp bei Kasse, konnten sich nicht so viel leisten, bis der Vater dann einen neuen Job gefunden hat.“, erwidere ich und Timos Augen weiten sich, als hätte ich ihm gerade den entscheidenden Knochen hingeworfen.  „Das ist es!“ Timo strahlt mich an und zeigt mit seinem roten Filzstift auf meine Brust. Dann widmet er sich dem Whiteboard und schreibt in Grossbuchstaben das Wort ARM auf die Mitte der Tafel. Ich ziehe die Stirn in Falten und verstehe absolut nicht, was das zu bedeuten hat.
„Arm?“, frage ich skeptisch. „Arm!“, wiederholt Timo laut und klopft mir auf die Schulter. „Das ist die Lösung, mein Freund.“
„Aha?“
Timo fängt an zu lachen. „Du solltest deinen Blick sehen. Du siehst mich an, als hätte ich dir gerade einen Kackhaufen für 100 Euro verkauft.“
„Was?“
„Pass auf!“, beginnt der Psychologe und zieht ein paar rote Kreise um das bahnbrechende Wort ARM auf dem Whiteboard. „Die Familie des Schlitzers war arm. Sie hatten nie viel Geld. Höchstwahrscheinlich konnten Vater und Mutter ihren Kindern dadurch auch nie viel bieten. Das heisst, es könnte ja sein, dass, nennen wir ihn mal beim richtigen Namen, er ist schliesslich nicht Voldemort, also, es könnte sein, dass Jeff und Liu in ihrem alten Wohnort aufgrund ihrer billigen Klamotten und ihres Lebensstandards von den anderen Kindern gehänselt worden sind. Man könnte vielleicht so weit gehen, dass Jeff es auch seiner Mutter und seinem Vater übel genommen hat, dass sie so wenig Geld haben und er und sein Bruder deswegen ständig in der Schule gemobbt werden. Kinder können ziemlich grausam sein, was sowas angeht. Da habe ich schon Fälle erlebt,…puh… das kannst du dir nicht vorstellen. Ich denke, die beiden Jungs haben viele abfällige Bemerkungen zu hören bekommen. Sowas wie, sie stinken, sind hässlich, kaufen ihre Klamotten bei Kik, etc. Das könnte auch erklären, warum Jeff auf deinen Sohn und seine Freunde losgegangen ist, vielleicht aus Eifersucht oder weil sie ihn auch gehänselt haben. Dein Sohn, sorry dass ich das jetzt so sage, aber dein Sohn hat ja sehr grossen Wert auf Markenklamotten und Co gelegt und….“
„Woher willst du das wissen?“, unterbreche ich Timo schroff und spüre, wie ich wieder wütend werde.  „Ich habe die Fotos von deinem Sohn auf deinem Schreibtisch gesehen. Randy war ein guter Junge, Leon, er hat garantiert nicht verdient, was Jeff ihm angetan hat. Aber wir konzentrieren uns jetzt nur auf Jeff und versuchen uns in Jeff hineinzuversetzen. Denn wenn wir ihn verstehen, können wir ihn vielleicht auch aus seinem Versteck locken.“
„Aus seinem Versteck locken?“, wiederhole ich fragend. Timos Augen funkeln angriffslustig. „Ja, mir ist vorhin ein Plan in den Sinn gekommen. Wir müssen ihn mit einem Köder aus seinem Versteck locken und ihm eine Falle stellen. So können wir ihn schnappen. Dafür müssen wir aber herausfinden, womit wir ihn ködern können.“
Meine Augenbrauen schiessen in die Höhe und ich merke, wie mir der Mund offen steht. Der Plan gefällt mir. Besonders der Teil mit der Falle und dem Schnappen.
„Aber mir ist immer noch unschlüssig, wieso er dann seinen Bruder Liu getötet hat. Gemäss Tagebuch kamen sie sehr gut miteinander zurecht.“ Ein Schatten legt sich auf Timos Gesicht. „Ja, das kann ich dir auch nicht so genau sagen. Vielleicht weil er ihn nach seiner Gesichtsrekonstruktion ein Monster genannt hat? Frankensteins Monster? Ich weiss es nicht. Könnte ja sein, schliesslich war Jeff leicht traumatisiert und unter Einfluss von starken Medikamenten. Eine Kurzschlussreaktion. Oder er hat geglaubt, dass sein Bruder Liu ihn nun auch nicht mehr leiden kann, weil er verunstaltet ist? Dass sein Bruder ihn jetzt genauso hänselt, wie alle anderen?“
„Krass.“, erwidere ich nur und muss schlucken. Mit dem Wissen, werfe ich nochmals einen Blick auf das Whiteboard und gehe im Kopf nochmals alle Opfer von Jeff the Killer durch. Vielleicht hat jedes Opfer beim Anblick seines verunstalteten Gesichts angefangen zu schreien oder ihn zu beleidigen. Oder sie waren einfach nur von ihm angeekelt und das hat schon gereicht, dafür mit dem Leben zu bezahlen. Das könnte auch erklären, warum es absolut keinen Zusammenhang zwischen den Opfern gibt und alle auf den ersten Blick wahllos gewählt wirken.
„Verdammt! Gib’s zu, du hast hinter meinem Rücken doch heimlich an einer Öllampe gerubbelt, oder?“ sage ich euphorisch. Timo sieht mich nur fragend an.
„Na, wir haben gerade sein Motiv herausgefunden, du Nase. Er murkst die Leute ab, weil sie angewidert von ihm sind. Weil er seit dem Brand so eine hässliche Visage mit sich rumträgt. Verstehst du? Deswegen sind die Opfer alle so wahllos gewählt. Deswegen hatte bisher alles absolut nichts einen Sinn ergeben! Gott, ich könnte dich abknutschen!“
Timo fängt an zu lächeln und hält abwehrend die Hände vor sein Gesicht. „Ich glaube, da hätte meine Frau etwas dagegen.“
„Das war ja auch nicht wörtlich gemeint! Scheisse man. Und wie ködern wir diesen Mistkerl jetzt?“
„Ja,… ich hätte da eine Idee, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir diese umsetzen sollen, geschweige denn können.“  Timos Stimme klingt ernst.  Ich schaue ihm zu, er das Foto von Keith wieder vom Whiteboard nimmt. Mit einem Seufzen drückt er es mir in die Hand.
„Er ist der Einzige, ausgenommen von diesem Sebastian und seinem Vater, der noch auf der Liste des Killers stehen sollte. Wahrscheinlich geht Jeff davon aus, dass Keith bei dem Brand gestorben ist. Du hast ja gesagt, er hätte einen neuen Namen angenommen und wäre seit der Entlassung aus der Untersuchungshaft in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Er wäre der ideale Köder. Wenn wir ihn dazu bringen, öffentlich ein Statement zu machen und den Killer zu provozieren, könnten wir Jeff an einen Ort unserer Wahl locken und ihm eine Falle stellen. Ich würde  Keith selbstverständlich psychologischen Beistand leisten und ihn von Sekunde eins an betreuen. Die Frage ist nur, wollen wir das und können wir das überhaupt.“
Mein Kampfgeist war entfacht. Natürlich waren Timo und ich uns bewusst, dass unsere Idee, Keith als Köder zu benutzen, rechtlich sowie ethisch und moralisch nicht einfach sein wird, bei der Oberschaft durchzubringen. Also habe ich meine Vorgesetzten informiert und auch Timo hat sich Rat und Meinungen bei anderen Psychologen eingeholt. Zur Diskussion stand, ob es wirklich notwendig ist, Keith als Köder zu benutzen oder ob wir Jeff auch mit einem anderen Köder ausreichend provozieren können, um ihn in eine Falle zu locken. Nach einigen Recherchen im Internet gab es schon mehrere Leute, die sich im Internet unter diversen Plattformen negativ zu Jeff geäussert haben und ihn durch Beleidigungen zu einem Mord hätten animieren können. Selbst die BILD hat vor zwei Jahren einen provokanten Artikel  über Jeff the Killer verfasst, ohne Konsequenzen davonzutragen. Aufgrund dieser Tatsachen waren sich einige der Psychologen sowie Profiler einig, dass Jeff the Killer höchstwahrscheinlich in den Medien nicht aktiv ist und nur tötet, wenn er bei einer direkten Begegnung aufgrund seines Erscheinungsbildes gedemütigt wird. Andererseits waren sie auch der Meinung, dass Jeff,  wenn man ihn mit der Tatsache konfrontiert, dass Keith den Brand überlebt hat, definitiv hellhörig werden würde. Keith wäre ein sogenannter Trigger und das würde alte Wunden aufreissen. Wir haben nur diese Chance. Wir müssen Keith dem Killer ans Messer ausliefern. Natürlich nicht wortwörtlich gemeint nur im metaphorischen Sinn. Als wir das OK von den Behörden sowie der psychiatrischen Anstalt, in der Keith untergebracht ist, bekommen haben, fingen wir an mit den Vorbereitungen.
Ich durfte Timo begleiten, als er Keith einen Besuch abgestattet hatte. Man hatte Keith schon im Vorfeld darüber informiert, was ihn erwarten würde, wenn er zustimmt bei unserem Plan mitzuspielen. Natürlich war er sich der Tatsache bewusst, dass wenn er nicht einwilligen würde, weiterhin Menschen wahllos abgeschlachtet werden würden. Der Druck auf dem Jungen war immens. Aber es blieb uns nichts anderes übrig. Keith war der Schlüssel, nach dem wir jahrelang verzweifelt gesucht hatten. Das Ziel war so nah.
Zugegeben, als wir am Dienstag die psychiatrische Klinik betreten hatten und durch die weissen, sterilen Korridore liefen mit den vielen, schwarzen Türen, war mir schon mulmig zu Mute. Der Augenblick, als ich Keith nach 10 Jahren wiedergesehen hatte, liess mir das Blut in den Adern gefrieren. Der Junge wuchs mit meinem Sohn Randy auf. Sie waren seit Kindergartenzeiten eng miteinander befreundet und Keith war  damals so oft bei uns zu Besuch, dass er schon fast zur Familie zählte. Er war sozusagen wie ein zweiter Sohn für mich. Aber als ich durch seine Zimmertür schritt und ihn eingeschüchtert auf seinem Bett sitzen sah, erkannte ich ihn nicht mehr wieder. Aus dem fröhlichen, aufgeweckten jungen Teenager, war ein magerer, verzottelter junger Mann geworden, mit tiefen Ringen unter den geröteten Augen und fahler Haut. Er sah so zerbrechlich aus. Automatisch meldete sich mein schlechtes Gewissen zu Wort. Der Vater in mir wollte diesen Jungen nicht den Hunden zum Frass hinwerfen, aber der Cop in mir, war sich sicher, dass es keine andere Option gab. Keith erzählte Timo von seinen Albträumen, sagte uns, dass er nicht mehr richtig geschlafen hätte, seit dem Vorfall auf der Geburtstagsparty. Immer wieder würde er mitten in der Nacht aufwachen, Jeffs Gesicht sehen und ihn lachen hören. Dieses abscheuliche Lachen, dass durch das Badezimmer hallte, als Jeffs Kleidung Feuer fing. An schlimmen Tagen bildete er sich ein, die Flammen auf seiner Haut zu spüren. Oft habe er versucht, sich das Leben zu nehmen und sich selbst zu verletzten, aber die Ärzte liessen ihn nicht. Keith machte sich Vorwürfe, redete sich ein, er wäre Schuld am Tod von Randy und Troy und am Tod von so vielen Menschen. Er hätte schliesslich Jeff angezündet und das könnte er sich nicht verzeihen. Der Junge weinte und zitterte am ganzen Körper, als er uns das alles anvertraute. Ich musste einige Male schlucken und war froh, dass Timo das Gespräch leitete. Die Schuldgefühle trieben Keith dazu, bei unserem Plan mitzumachen. Vielleicht würde ihm das helfen, meinte der Junge. Vielleicht könnte er anfangen, zu vergessen, was an diesem Tag passiert ist. Wieder Ruhe finden, weiterleben und endlich schlafen können. Während des Gesprächs  entschuldigte er sich immer wieder bei mir. Es würde ihm so leidtun, dass er Randy nicht hatte beschützen können. Ich konnte nicht anders und nahm den jungen Mann in den Arm auch wenn ich Angst hatte, ihn dabei zu zerbrechen. Er war so furchtbar dünn.
Nach dem Aufenthalt in der Klinik fragte ich dann Timo im Auto, ob die Leute dort drinnen nicht darauf achten würden, dass ihre Patienten genug essen. Er schüttelte lediglich mit dem Kopf und erklärte mir, dass Keiths „Dämonen“ höchstwahrscheinlich Schuld an seinem Untergewicht wären. Seine Schuldgefühle würden zu sehr an ihm nagen und Schlafmangel würde einen Körper auf Dauer ausmergeln und ihm jegliche Kraft entziehen. Ich war mir da nicht so sicher, aber schliesslich bin ich kein Psychologe. An diesem Tag schwor ich mir, dass ich wenn alles vorbei wäre, Keith regelmässig besuchen gehen würde. Privatsphäre hin oder her. Ich hatte den Jungen 10 Jahre lang im Stich gelassen.

Wir vereinbarten einen Termin mit der BILD. Ja, mit der BILD. Auch wenn ich nicht viel von der skandalösen Lügenpresse hielt, waren sie die beste Anlaufstelle, wenn es um provokante Verbreitung von Informationen ging. Immerhin beruhte der Hass auf Gegenseitigkeit. Die BILD war nicht erfreut darüber mit der Polizei kooperieren zu müssen, nachdem sie so viel Zeit und Energie darin investiert hatten, uns als  inkompetente donutvernichtende Nichtsnutzschweine hinzustellen. Ich liess es mir selbstverständlich nicht nehmen, eine Packung Donuts und einen Thermobecher Kaffee mitzunehmen. Während die Geschäftsleitung mit unserer Führungsebene die Einzelheiten durchging, kaute ich fröhlich auf einem mit pinken Zuckerguss überzogenen Kringel rum und winkte hin und wieder dem Pressesprecher zu, der angesäuert neben Timo stand und sich widerwillig Notizen machte. Eigentlich hatte er gar keinen Grund den eingeschnappten Köter zu spielen, schliesslich erwartete ihn ein bombastisches Interview mit Keith Anderson, dem verschollenen Jungen, von dem nicht einmal Jeff wusste, dass er noch lebte.

Eine Woche später….
Alle beteiligten Personen waren gebrieft und bereit für das Interview. Die Fragen und Antworten waren von verschiedenen Psychologen abgesegnet worden und darauf ausgerichtet, Jeff zu erreichen und zu provozieren. Zwei Tage zuvor ist das Interview bereits in allen Nachrichtenkanälen angekündigt worden. Lediglich die Information, dass es ein Interview mit einem längst vergessenen Opfer von Jeff the Killer geben wird und ein Datum. Keine genaueren Angaben. Die Meldung ging viral und es dauerte nicht lange, da war das Netz überflutet von Theorien, um wen es sich bei dem Opfer handeln könnte. Der Köder war gelegt.
Als Ort, an dem das Interview stattfinden würde, ist ein leerstehendes Haus direkt neben der alten Kirche, in der Wohngegend in der Jeff früher gelebt hatte, ausgewählt worden. Der Zeitpunkt ist so abgestimmt, dass man während des Interviews die Kirchenglocken im Hintergrund hören kann, die das letzte Mal um Punkt 20 Uhr erklingen werden. Jeff würde sich an den Klang dieser Glocken erinnern, das würde es ihm vereinfachen, den Standort von Keith zu lokalisieren. Das Ziel war es, Jeff in dieses Haus zu locken, was wir ihm als Keith Andersons Zuhause verkaufen würden. Ringsherum um das Haus sind versteckt Wachposten aufgestellt und auch im Haus sind Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Kameras, Mikrophone, Infrarotmeldesystem, etc. wir haben das komplette Arsenal ausgefahren. Ein S.W.A.T Team ist auf Abruf bereit, um zu zuschlagen. Wir haben sogar Polizei in der Nachbarschaft eingeschleust, getarnt als normale Bürger. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit unbemerkt in dieses Haus einzudringen und falls es doch widererwarten zu einem Eindringen kommt, ist eine Flucht ausgeschlossen. Lebendig wird Jeff the Killer dieses Grundstück zu 100 % nicht verlassen. Ach ja, und meine liebe Trixi, meine Dienstwaffe, habe ich auch wieder in meinem Holster. Möge der Kampf beginnen.
Immer wieder schiele ich zu Keith rüber, der gerade in der Maske sitzt und zurecht gemacht wird, für seinen grossen Auftritt vor der Kamera. Ich weiss nicht, wer in diesem Augenblick nervöser ist. Selbst Timo, der sonst die Ruhe selbst ist, ertappe ich dabei, wie er im 5 Sekunden Takt einen Blick auf die Uhr wirft, nur um festzustellen, dass erst 5 Sekunden vergangen sind, seit er das letzte Mal auf das Ziffernblatt geschaut hat.  Lediglich die Crew von der BILD wirkt entspannt. Der Pressesprecher löst gelassen ein Sudoku in einem Promiklatschheftchen auf seinem Schoss. Die Kameramänner putzen ihre Linsen und die Typen, die zuständig für Licht und Ton sind, bombardieren sich gegenseitig mit schlechten Wortwitzen. Wie schon vermutet liegt Empathie nicht im Blut der BILD Redaktion und Mitgefühl scheint bei denen sowieso ein Fremdwort zu sein. Insgesamt sitzen wir zu zwölft hier rum und warten nur darauf, dass es endlich losgeht. Zwei Polizisten, zwei Psychologen, Keith und das BILD-Team inklusive Reporter. Ein Glück für uns, dass das Wohnzimmer riesig ist und wir alle Platz hier drin haben, ohne uns gegenseitig auf die Füsse zu treten. In der Mitte des Raumes sind zwei Sessel aufgestellt, auf denen gleich Keith und der Reporter, Udo Polakski, es sich gemütlich machen werden für das Interview. Um die Sessel herum ist der Rest der Mannschaft verteilt. An den Wänden sind Regale mit diversen Büchern über deutsche Literatur. In der linken Ecke ist eine grosse offene Küche, direkt daneben steht ein Esstisch mit vier Stühlen und weiter hinten befindet sich eine Kommode mit einem Fernseher darauf, auf dem gerade MTV läuft. Der riesige persische, runde Wohnzimmerteppich verleiht dem Raum eine gemütliche Atmosphäre und die Farbe des Teppichs ist perfekt auf die dunklen Vorhänge vor den Fenstern abgestimmt.  Da wir den Dreh abends machen, sind die Vorhänge zugezogen und es ist bereits dunkel draussen. Dunkelheit ist ein entscheidender Faktor. Wir gehen davon aus, dass Jeff bisher nur nachts zugeschlagen hat.  Die Dunkelheit der Nacht ist seine Komfortzone. Er wandelt in den Schatten, fühlt sich sicher, unsichtbar. Wie ein schwarzer Panter der sich an seine ahnungslose Beute heranpirscht. Aber Jeff verfügt nicht über die gleiche Ausrüstung wie wir. Nachtsichtgeräte werden uns den entscheidenden Vorteil verschaffen. Wir werden ihn sehen und auf dem Radar haben, sobald er die Liegenschaft betritt und er wird die Schützen auf den Dächern sowie in den Nischen und Büschen nicht bemerken.
Als Polakski das Promiheftchen zur Seite legt und auch Keith fertig geschminkt ist, geht’s endlich los. Die beiden Männer begeben sich auf ihre Plätze. Keith sieht gut aus. Seine Haare sind frisch frisiert und auch sein Gesicht wirkt nicht mehr so ausgemergelt und fahl, wie bei unserem ersten Zusammentreffen. Die Augenringe sind fast komplett unter dem Make-Up verschwunden und die Klamotten, die er trägt, kaschieren seinen schlanken, zerbrechlichen Körper. Sogar die Wunden an seinen Armen verschwinden unter den langen Ärmeln seines dunkelblauen Hemds. Als Tüpfelchen auf dem „i“ haben sie ihm auch noch eine Brille auf die Nase gesetzt, die dafür sorgt, dass seine müden Augen hinter den gelblichen Gläsern etwas verschwinden und dadurch aufgeweckter wirken, als sie in  Wirklichkeit sind. Ausserdem sorgt die Brille dafür, dass er gebildet rüberkommt. Zumindest wurde uns das so erklärt. Warum das unbedingt von Nöten ist, habe ich nicht verstanden, aber mir soll es recht sein.
Alle Kameralinsen werden auf die Beiden in der Mitte gerichtet, das Licht wird angepasst und eine Melodie erklingt aus dem Lautsprecher aus meinem Kopfhörer, mit dem ich die Sendung verfolgen kann, auch wenn ich mich nicht gerade im Haus aufhalte. Der Kameramann gibt mit seinen Finger einen Countdown an, die Klappe schnappt zu und wir sind live.
„Wir begrüssen sie alle herzlich zu unserem heutigen Interview! Wie bereits angekündigt werden wir ihnen gleich das längst vergessene Opfer von Jeff the Killer vorstellen.“ Polakski lehnt sich zu Keith rüber und schüttelt ihm die Hand. „Scheint so, als wäre der Schlitzer bei ihnen nicht so gründlich vorgegangen wie bei seinen anderen Opfern! Wie geht es Ihnen Keith? Stellen Sie sich uns doch kurz vor.“, witzelt Polakski und schenkt der Kamera sein schönsten Zahnpastalächeln. Die Linse wird auf Keith gerichtet und ich spüre, wie die Zeit für ein paar Sekunden stehenzubleiben scheint. Alle Augen sind auf den jungen Mann gerichtet. Erwartungsvoll. Das Interview wurde so oft geprobt. Jede Antwort und jede Frage gefühlt tausend Mal durchgekaut. Alles musste sitzen. Wir durften uns keinen Fehler erlauben. Keith musste überzeugen und er durfte sich nicht anmerken lassen, wie zerrüttet er im Innern war und wie viel Angst in ihm schlummerte. Aber er meistert den entscheidenden Augenblick wie ein Profi. Von Nervosität keine Spur. Ein Lächeln schmiegt sich auf seine Lippen und lässig wie Elvis Presley auf der Bühne schwingt er ein Bein über das andere. Dann lehnt er sich in seinem Sessel zurück und schmiegt einen Ellbogen auf die Armlehne des Sessels.
„Tja, mir geht es blendend. Und bitte, nennen sie mich nicht Opfer. Mein Name ist Keith Anderson und zurzeit studiere ich Jura an der Steinhausen Akademie hier im Ort. Ich bin im letzten Semester.“
Polakski nickt mit dem Kopf und nimmt die gleiche Haltung ein wie Keith. Die beiden Herren führen  ein bisschen Smalltalk, reden über Keiths nicht existentes Jurastudium. Timo und ich werfen uns während des Interviews immer wieder Blicke zu. Er sieht zufrieden aus und auch ich entspanne mich allmählich. Alles läuft wie am Schnürchen. Aber noch keine Spur von Jeff. Draussen ist es ruhig und auch drinnen gibt es keinen Anlass für Panik. Die Sicherheitskräfte sind alle über Funk miteinander verbunden und regelmässig hört man durch den Kopfhörer Statusmeldungen von den Einsatzkräften vor Ort sowie auf den Aussenposten. Auch auf den versteckten Kameras und Infrarotbildern ist nichts Ungewöhnliches zu erkennen.
„Warum hat man lange Zeit nichts von ihnen gehört?“
„Naja, wissen sie, ich musste mich auf Wichtigeres fokussieren, ich hatte keine Zeit mich mit Jeffyboys Rachefeldzug zu beschäftigen.“
„Hatten Sie denn gar keine Angst, dass er zu Ende bringen könnte, was er an diesem Tag angefangen hatte?“
„Neeee, Jeff ist ein hässlicher Feigling. War er schon immer. Ich wusste, dass er nicht den Mumm haben wird, sich nochmal bei mir blicken zu lassen. Grosse schwarze Augen und fieses Grinsen? Ich bitte sie. Der Typ war zwar schon immer nicht schön anzusehen, aber wie ein Monster sieht der garantiert nicht aus. Kein Plan, wieso er mit einem grossen Messer Amok läuft und so tut, als wäre er Ted Bundy auf Extasy. Wenn sie mich fragen, hat die Bleiche damals einfach sein Hirn weggerotzt. Der Typ ein raffinierter, brutaler Serienkiller? Neee, nie im Leben. Sonst wäre ich nicht mehr hier, aber mir geht’s ausgezeichnet. Sehen sie doch.“
Keith streckt die Arme von sich und präsentiert sich. Dann fängt er an zu lachen und Polakski stimmt mit ein.
„Aus dieser Perspektive habe ich das Ganze noch gar nicht gesehen, Keith. Denken sie, die Opfer von Jeff the Killer waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort oder wie erklären sie sich die vielen Todesfälle?“
„Ich denke, die Bullen wissen es einfach nicht besser und schreiben dem Kerl jeden Mord zu der mit einem Messer begangen worden ist. So nach dem Motto, oh nein, da wurde wieder jemand abgestochen. Das war bestimmt Jeff! So müssen sie sich nicht anstrengen, nach dem wahren Mörder zu suchen und können sich noch ein paar Donuts hinter die Luke werfen. Sie wissen ja, die kompetent die Polizei heutzutage ist. Ich glaube Jeff….“
Die Kirchenglocken fangen an zu Läuten und Keith hält kurz inne. Sein Gesichtsausdruck verändert sich und für eine paar Sekunden sieht man die selbstgefällige, coole Fassade bröckeln. Ich werfe Timo einen hilfesuchenden Blick zu, aber bevor dieser reagieren kann, ist es Polakski der uns aus der Misere befördert.
„Wow, diese Kirchenglocken sind ganz schön laut. Ich hätte mir beinahe in die Hose gemacht vor Schreck. Wie in so einem Horrorfilm. Buhuhuuu. Geisterstunde!“ Polakski lacht, lehnt sich nach vorne und legt Keith eine Hand auf seinen Oberschenkel. „Ich glaube, ich brauche eine Pause, möchten Sie auch einen Kaffee?“ Keith bemüht sich um ein Lächeln und nickt. „Sehr gut, dann schalten wir in die Pause!“Polakski steht auf und geht auf Kamera 1 zu. „Bleiben Sie dran! Nach der Pause reden wir über Jeffs Vergangenheit und es gibt etwas zu gewinnen! Und vergessen Sie niemals, die BILD ist für sie da. Jederzeit.“ Polakski endet und der Kameramann schliesst die Klappe. Wieder ist Musik durch meinen Stecker in meinen Ohren zu hören. Dann die Werbung.
Erleichtert atme ich die abgestandene Luft in meiner Lunge aus und bin zum ersten Mal dankbar, dass wir den Mistkerl von der BILD am Sett haben.

„Ganz schön knapp.“, sage ich zu Timo, als ich ihm einen Kaffee in die Hand drücke. Timo nickt und nimmt einen zaghaften Schluck von der heissen Brühe. „Ja, aber Keith macht das fantastisch. Er wirkt sehr authentisch.“
Ich stimme Timo lautlos zu und schütte ebenfalls einen Schluck brauner Sünde meinen Rachen hinunter. Die Werbung dauert 15 Minuten. Diese Chance ergreife ich, um kurz zu Keith zu gehen, der wirkt, als wäre er mit dem Sessel unter seinem Hinterteil verwachsen und nicht mehr im Stande aufzustehen. „Alles klar?“, frage ich. Der Junge zuckt kurz zusammen, ehe er sein Kinn hebt und zu mir hochsieht. „Ich glaube schon.“, erwidert er leise und bevor ich genauer nachhaken kann, rennt schon die Frau von der Maske auf pinken Stilettos zu uns herüber und fängt an Keiths Gesicht zu pudern, bis er glitzert wie der Vampir aus Twilight. Ich verziehe das Gesicht zu eine Fratze. Ob das wirklich notwendig ist? Wortlos beobachte ich das Geschminke und als die Dame ihr Werk verrichtet hat, gehe ich vor Keith in die Hocke. „Sicher, dass alles klar ist?“, hake ich nach. Wie erwartet, schüttelt Keith den Kopf. „Ich habe ein ungutes Gefühl. Nehmen sie es mir nicht übel, ich helfe wirklich gerne. Ich bin es Randy und Troy schuldig, aber ich …. Ich…“
In dem Moment geht das Licht aus. Ich spüre Keiths Hand an meinem Oberarm. „Keine Sorge… ich bin bei dir. Das ist bestimmt nur ein technisches Problem“, flüstere ich und greife nach dem Holster an meiner Hose. Keiths Griff wird fester und seine Nägel bohren sich tief in meine Haut. Sein Atmen geht stossweise und ich höre wie er anfängt neben mir zu hyperventilieren. Der Junge hat einen Panikanfall. Scheisse. „Sorry!“, brüllt es aus einer Ecke und das Licht geht wieder an. „Ich bin ausversehen auf den Lichtschalter gekommen. Mein Fehler!“ Neben der Wohnzimmertür steht einer der Kameramänner und winkt entschuldigend zu uns herüber. Am liebsten hätte ich ihm den Kopf weggeballert und ich scheine nicht der Einzige zu sein, der Lust gehabt hätte, dem Kerl das Licht auszuknipsen. Gefühlt die ganze Mannschaft hat sich in die Hose geschissen, als das Licht ausgegangen ist. Ein Satz mit X, das war wohl Nix. Timo und sein Kollege eilen mit einer Papiertüte zu uns herüber und fangen an, sich um Keiths Wohlbefinden zu kümmern. Mit einem Stein in der Magengrube beobachte ich das Ganze und fühle mich elend. Ob wir hier wirklich das Richtige machen?
Als wir uns alle wieder beruhigt und die Pause geschlagene 20 Minuten überzogen haben, setzt sich Polakski Keith gegenüber wieder auf den Sessel. Der Kameramann gibt Polakski ein Handzeichen und der Reporter setzt wieder sein Strahlemannlächeln auf.
„Herzlich Willkommen zu…. Was zum…“ Wieder geht das Licht aus und ich höre Polakski schreien. Ein markdurchdringender Schrei. Wie mechanisch starre ich durch die Schwärze zu der Tür, neben der sich der Lichtschalter befindet. Für einen kurzen Augenblick überlege ich, ob ich durch den Raum sprinten soll, um das Licht einzuschalten. Entscheide mich aber anders, als wieder verzweifelte Schreie  durch das Zimmer hallen. „Timo?!“, brülle ich und erhalte als Antwort nur einen weiteren Schrei, begleitet von einem erstickenden Röcheln. „Wir brauchen Hilfe!“, krächze ich durch das Mikrophon an meiner Weste und greife nach meiner Pistole. Ich gehe in die Hocke und versuche irgendetwas zu erkennen, aber die Dunkelheit verschlingt den ganzen Raum. Mit schweissgetränkten Händen taste ich nach der Taschenlampe in meiner Gürteltasche, aber sie ist nicht mehr da. Panisch wühle ich nach meinem Handy und als ich es finde, lässt mich das Rauschen aus meinem Kopfhörer zusammenzucken. Das Geräusch ist so laut, dass es mir beinahe das Trommelfell zerreisst. Ich lasse mein Handy fallen und reisse mir einhändig die Stecker aus den Ohren. Dann kann ich es hören. Ein melodisches Pfeifen aus der Richtung der Tür. Ein Kratzen und ein Schleifen. Bevor ich reagieren und die Taschenlampe auf meinem Handy aktivieren kann, geht das Licht an und das Pfeifen verstummt. Was meine Augen daraufhin erblicken, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Das ganze Wohnzimmer ist in einem Tiefrot getränkt. Blutspritzer ziehen sich in Fäden über die Wände. Eingeweide verteilt über den ganzen Boden. Körper, die sich vor Schmerzen winden. Ich starre mit offenen Mund auf die schauderhafte Kulisse, die sich mir bietet. Weit und breit kein Killer zu sehen. Ich kann das nicht glauben, reibe mir über die Augen. Das kann nicht wahr sein. Das ist unmöglich. Eine einzelne Person kann nicht so ein Massaker anrichten. Die Pistole zwischen meinen zitternden Fingern fühlt sich plötzlich endlos schwer an. Ich versuche mich zu sammeln, suche zwischen all dem Rot nach Timo und Keith. Der Sessel auf dem Keith gesessen hat, ist leer, der von Polakski ebenso. Ich drehe mich nach links und als ich Timo erblicke, wie er neben der Kommode auf dem Boden liegt, mit aufgeschnittener Kehle und vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, spüre ich, wie meine Knie drohen unter meinem Gewicht nachzugeben. Timo…. Ich renne zu ihm, auch wenn ich weiss, dass es bereits zu spät ist. Timo… Nein. Tränen quellen aus meinen Augen und rinnen über mein Gesicht. Reiss dich zusammen, Leon. Du musst dieses Monster finden. Du musst, höre ich eine Stimme in meinem Kopf sagen, immer und immer wieder. Aber ich kann meinen Blick nicht von Timo lösen. Der Geruch von Tod steigt mir in die Nase und treibt mir die Galle in den Mund. Das ist ein Albtraum. Das muss ein Albtraum sein. In Wirklichkeit sitze ich hinter meinem Bürotisch und habe einfach wieder einen über den Durst getrunken. Zu viel Scotch, das ist alles. Gleich wache ich auf und… wieder erklingt diese Melodie. Diese fröhliche Melodie. Ich reisse meinen Kopf herum in Richtung des Geräuschs und starre direkt in Kamera 1.
„Lächeln, Leon. Lächeln Sie für die Kamera.“
Ruckartig stehe ich auf und richte den Lauf meiner Pistole auf den Mann hinter der Kamera. Der Tränenschleier mindert meine Sicht, aber das ist mir egal. Ich muss einfach schiessen. Ich muss. Doch gerade als ich den Abzug drücken will, taucht der Mann hinter der Kamera auf und schleift einen Körper neben sich her. Fassungslos starre ich in das Gesicht des Mannes. Es ist weiss wie Schnee. Übersät mit ausgeblichenem Narbengewebe. Die leeren, kalten Augen versinken in schwarzen Augenhöhlen und sein Mund… sein Mund ist zu einem unmenschlichen, abstrakten und furchteinflössenden Grinsen verzogen. Er trägt einen mit Blutflecken übersäten weissen Kapuzenpullover und dazu eine schwarze, ausgefranste Hose. Die Erzählungen über ihn sind alle wahr. Das ist Jeff. Das ist Jeff the Killer und er hat Keith als Geissel genommen. Jeff hält dem am Boden knienden Keith ein blutiges Messer an seine Kehle und zieht mit der anderen Hand an seinen Haaren.
„Bitte nicht.“, sage ich japsend und halte meine Hände inklusive Waffe kapitulierend in die Höhe. Ich
kann nicht riskieren, Keith mit der Kugel zu treffen und ich kann nicht riskieren, dass Jeff ihn tötet.
„Gefällt Ihnen, was sie sehen, Leon? Finden Sie mich schön?“, flötet Jeff und entblösst dabei seine Zähne. Ich muss schlucken, bei dem Anblick. Hat er sich selbst so zugerichtet?
„Lassen sie bitte den Jungen los!“, flehe ich, gehe in die Hocke und lege meine Waffe auf den Boden. „Ich werde nicht schiessen. Aber bitte, lassen sie den Jungen los.“
„Warum sollte ich das tun?“, fragt Jeff und legt unschuldig seinen Kopf schief, während er das Messer fester an Keiths Kehle drückt. Keiths vor Panik aufgerissene Augen starren mich an. Seine Lippen beben vor Angst und ich sehe ihm an, dass er wieder einen Anfall hat. Sein Brustkorb hebt und senkt sich unnormal schnell und unregelmässig. Lange würde sein Körper das nicht mehr mitmachen, das ist mir bewusst.
„Hören Sie, Jeff.“, beginne ich und versuche ruhig zu klingen, was mir nur minder gelingt. „Das ist gar nicht Keith. Das ist ein Lockvogel. Wir haben versucht sie zu provozieren und sie eine Falle zu locken. Keith ist schon seit Jahren tot. Er ist unschuldig. Glauben sie mir. Alles was er gesagt hat, war nach Drehbuch. Wenn sie einen Schuldigen wollen, dann nehmen sie mich. Ich bin für das alles hier verantwortlich! Aber lassen sie den Jungen gehen.“
Jeff sieht mich an und für ein paar Sekunden herrscht tödliche Stille zwischen uns. Dann fängt er an hysterisch zu lachen, dabei läuft Blut aus dem klaffenden grinsenden Mund in seinem Gesicht. Ich halte die Luft an.
„Waffe. Sofort.“, herrscht Jeff mich schmatzend an und leckt sich das Blut von den Lippen. Ich nicke, entsichere die Pistole und schiebe die Waffe zu ihm herüber.
Ein langgezogenes „Daaaaaankeeeeeschöööööön“ verlässt seinen Mund, dann verschwindet die Waffe unter seinem schwarzen Stiefel. Hoffnungsvoll schaue ich zu dem Killer hoch.
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Leon.“
„Welche Frage?“
Der Killer lächelt mich an. „Finden Sie mich schön, Leon? Bin ich schön?“
Ich weiss nicht, was ich antworten soll. Timo wüsste bestimmt eine passende Antwort darauf. Ich überlege. Fragen prasseln auf mich nieder. Als hätte mein Kopf beschlossen, genau in diesem Moment, zu explodieren. Leben die anderen Polizisten noch? Was ist mit dem S.W.A.T-Team passiert? Ist die Kamera an und sehen uns gerade Menschen zu? Sitzen sie vor ihren Fernseher und sehen dieses Massaker? Ist Hilfe unterwegs? Soll ich Zeit schinden? Wie schinde ich Zeit? Was ist richtig und was ist falsch und wie kann ein einzelner Mensch, so etwas anrichten? Was soll ich tun?
„Ja, Jeff. Ich finde dich schön.“, lüge ich und hoffe, die richtige Wahl getroffen zu haben.  Jeff bricht in Gelächter aus.
„Ich bin schön! Ich bin schön! Hast du gehört, Keith? Ich bin schön! Wunderschööööön!“
Keiths Augenlider fangen an zu flattern. Scheisse. Der Junge wird sterben, wenn das so weitergeht. Ich muss irgendetwas tun.
„Bitte Jeff, lass ihn los!“, bitte ich den Killer und rutsche auf den Knien etwas näher an ihn heran.
„Okay.“, sagt Jeff emotionslos und lässt Keith los. Der junge Mann sackt in sich zusammen und bleibt auf dem Boden liegen wie ein zappelnder Fötus, nach Luft ringend. Ohne den Blick von mir zu lösen, bückt sich Jeff zu der Pistole unter seinem Stiefel herunter, entsichert sie und richtet den Lauf auf mich.
„Warum lügen Sie mich an, Leon?“, fragt er mit unschuldiger Miene. Bevor ich irgendetwas erwidern kann, feuert Jeff die Waffe ab und die Kugel trifft mich an der Schulter. Ich schreie vor Schmerz auf und spüre, wie ich ein kleines Stück nach hinten geschleudert werde, durch den Aufprall der Kugel in meinem Fleisch. Die Wunde brennt sich durch meinen Körper und mir wird schwindelig. Ein Durchschuss. Nichts tödliches.
„Ich lüge nicht!“, brülle ich und drücke meine Hand auf die Einschussstelle. „Ich schwöre es! Ich finde dich schön!“
„Sie lügen schon wieder, Leon.“
Ein weiterer Schuss löst sich von der Waffe und durchbohrt Keiths Schläfe. Blut sammelt sich unter seinem Kopf. „Neeeeeeeeeeeeeein!“, stöhne ich laut unter Schmerzen und krabble auf allen Vieren auf Keith zu, auch wenn ich weiss, dass es zwecklos ist. Jeff lässt die Knarre auf den Boden fallen und rennt mit gezücktem Messer in meine Richtung. Ehe ich überhaupt realisieren kann, was passiert, spüre ich bereits die Klinge meine Achillesversen durchtrennen. Ich schreie, winde mich, schnappe nach Jeffs Hosenbeinen und schlage wild um mich. Erfolglos. Er reisst sich von mir los und kickt in mein Gesicht. Während ich krampfhaft versuche das Bewusstsein nicht zu verlieren und die Augen offen zu halten, steigt mir bereits der Geruch von Benzin in die Nase. Nein. Nein. Nein….
Dann raschelt es neben meinem Ohr. Jeffs Haare kitzeln mich an der Wange. „Schlafen Sie, Leon. Schlafen, sie einfach weiter.“ Das Knacken eines Feuerzeugs ist zu hören und plötzlich wird mir ganz warm.....

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