Rubinrot - 5

Rubinrot 10. Mai 2022

Friedhof

Ungefähr eine Stunde später, Henry ist bereits weg, gipfelt meine Langeweile auf dem Höhepunkt und ich verspüre das, was andere liebevoll als “die Decke auf den Kopf fallen” bezeichnen. Also packe ich mir kurzerhand einen Rucksack, in dem ich meine Zauberpillen, den Pager, eine Wasserflasche sowie ein kleines Notizbuch inklusive Stift verstaue. Blöderweise habe ich vergessen, wie knapp der Radius des Pagers bemessen ist, aber das Ding würde mich schon lautstark daran erinnern, sollte ich mich zu weit vom Haus entfernen. Ich könnte ihn natürlich auch zuhause liegen lassen und über alle sieben Berge auf Nimmerwiedersehen verschwinden, doch - leider Gottes - hänge ich zufälligerweise ziemlich an dem Ding. Ich bin so bekloppt, dass ich mich regelrecht verloren fühle, ohne diesen verlockenden,sofern-ich-will-oder-es-darauf-anlege-losschrillenden Panik-Knopf in meiner unmittelbaren Nähe. Ganz nach dem Motto lieber mit als ohne. Was auf viele Bereiche des Lebens zutrifft. Fahrradfahren mit Helm zum Beispiel. Oder Rollschuhfahren mit Knieschoner. Autofahren mit Gurt. Oder gewisse andere Dinge, die vom Hören-Sagen Spass machen sollen - in der Horizontalen mit Gummi.

Mein erster Schritt alleine in die grosse, weite Welt hinaus nach sieben Jahren Isolation fühlt sich an, wie die ersten Flugversuche eines Vogels. Was bedeutet, wenn was schief geht, ist der Fall ganz schön tief und ganz schön schmerzhaft. Wenn nicht sogar halsbrecherisch. Was irgendwie ironisch ist, wenn man bedenkt, dass mich früher so gut wie nichts, nicht einmal schlechtes Wetter, im Haus halten konnte. Wie die Zeiten sich doch ändern, hat man erstmal einen ordentlichen Knall in der Birne…
Heute ist das Wetter immerhin auf meiner Seite und frohlockt regelrecht zu halsbrecherischen Aktivitäten. Die Sonne scheint, der Geruch von Sonnencréme liegt in der Luft, es ist T-Shirt-warm und das Wohnviertel so ruhig und ungefährlich wie ein schlafender Rentner in seinem Schaukelstuhl. Trotzdem treiben die ersten paar Schritte in Freiheit meinen Puls in die Höhe und lassen mein Herz schneller schlagen, als hätte ich gerade einen Mini-Marathon hinter mir oder einen Serienkiller mit tobender Kettensäge hinter mir her. Ein Teil von mir muss dem aufkommenden Drang widerstehen, T-Shirt und Hose auszuziehen und wie ein Verrückter nackt und in Turnschuhen um Hilfe zu schreien, als wäre wirklich Leatherface mit seiner Kettensäge an mir dran. In Gedanken sehe ich mich genau das tun, doch in Wirklichkeit gehe ich ganz normal - ich bin begeistert! - die Straße entlang, wie einer, der nichts Böses im Schilde führt und von dem man nicht annehmen würde, dass ihn der Wahnsinn gepackt, an die Hand genommen und nie wieder losgelassen hat.
Ich lächle sogar, als mich Nachbarin XY freundlich grüsst. Eine hochgewachsene Frau mit dunkelbraunen Haaren, die zu einem Zopf geflochten sind, der ihr knapp bis Mitte Rücken reicht. Sie trägt, wie Sandy am Tag zuvor, ein Sommerkleidchen, aber ihres ist anders als seins sehr lila und sehr kurz. Vor ihren Füssen tapst an einer Leine fröhlich und munter ein kleiner, zotteliger und alter Hund herum, der mich keines Blickes würdigt und von dem ich beschließe, dass ich ihn aus diesem Grund mag.
Da mir weder Hund noch Nachbarin bekannt vorkommen, gehe ich davon aus, dass sie in den Jahren meines Fernbleibens entweder neu zugezogen sind oder zumindest die Nachbarin sich in den sieben Jahren, in denen ich weg war, so sehr verändert hat, dass ich sie nicht mehr wiedererkenne. Beide Optionen sind durchaus denkbar, denn ich sehe auch nicht mehr so aus, wie mich vermutlich viele in Erinnerung behalten haben. Nicht mehr der fünfzehnjährige Maik mit zu vielen Flausen im Kopf von damals, nein. Das Einzige, was mir von damals geblieben ist, ist Haar- sowie Augenfarbe und ein paar Narben. Der Rest von mir ist irgendwo hier gestorben und mit ihm wohl auch noch so vieles mehr.

Ich würde gerne behaupten, dass ich einfach so durch die Gegend laufe, etwas flaniere, keinen konkreten Plan oder irgendwelche Absichten verfolge, dennoch treibt es mich wie ferngesteuert zum Friedhof und wenig später finde ich mich vor einem der Grabsteine vor, dessen Erde seit jeher fern eines Bewohners und leer geblieben ist. Es ist der Grabstein von Poe. Oder Eddie, wie ihn die anderen genannt haben. Es ist das zweite Mal, dass ich an seinem Grab stehe und wie beim ersten Mal erfasst mich diese erdrückende Schwere, die sich wie ein Mantel um meinen Brustkorb legt. Die altbekannte Frage keimt in mir auf. Wie kann man jemanden der Erde beisetzen, ohne je seinen Leib gefunden zu haben? Diese Frage hat mich lange Zeit beschäftigt und auch wenn ich einige Antworten darauf gefunden habe und kenne, fühlt es sich so an, als wäre Poe immer noch irgendwo da draußen und so weit davon entfernt dort Drinnen zu sein. In der Erde, vor meinen Füßen.
Immerhin gibt sich Poe‘s Mutter Mühe, um das Bild eines verlorenen Sohns so gut wie möglich aufrecht zu erhalten und nebst all den anderen Kindergräbern sein Grab echt wirken zu lassen, als wäre wirklich jemand vor sieben Jahren gestorben und hier beigesetzt worden.
Frische Blume, ein paar Grabkerzen sowie ein Plüsch-Teddybär, der am schwarzen Stein lehnt, der finster aus dem Boden hinausragt und auf dem in weisser Schrift Poe‘s richtiger Name und Geburts- wie Sterbedatum eingraviert worden ist. Als Sterbedatum wurde der Tag seiner Beerdigung gewählt, weil keiner weiß, wann Poe gestorben ist, nur dass er gestorben sein muss. Weil es genug Indizien dafür gibt. Doch was ist schon genug, in einer Welt, in der man nie zu viel haben kann?
Und wieder einmal mehr sehe ich mich in meinem Kopf in einer Blutlache sitzen, während alle um mich herum mir nicht glauben wollen. Wie automatisch wandert meine Hand in meinen Rucksack, um die Zauberpillen heraus zu holen, während die Schatten um mich herum tanzen und mich mit ihren ungläubigen Gesichtern anstarren. Ich nehme wieder zwei, auch wenn Henry meint, die würden abhängig machen. Lieber eine Abhängigkeit provozieren als das Risiko einzugehen, dass der Irre wieder durchdreht, oder? Mit einem Schluck Wasser spüle ich die Schatten herunter und greife zu meinem Handy. Es gibt etwas, was Durchgeknallte noch mehr lieben als Pillen- und das sind Rituale. Also gehe ich meine Kontaktliste durch und bleibe bei Poe’s Namen stehen. Ich rufe an und wieder einmal mehr sagt mir eine weibliche Stimme, dass unter dieser Nummer kein Anschluss verfügbar ist. Ja. Es sind genug Indizien, aber wer legt fest, wann es genug ist?

Tags