Rubinrot - 3
Nächster Tag
Nach dem gemeinsamen Frühstück hat sich Sandy in die Schule verabschiedet und Nora ist zur Arbeit gefahren. Kevin allein zuhaus. Wobei besser gesagt - Maik allein zuhaus. Maik und eine Plastikbox voller Pillen, die verhindern sollen, dass Maik durchdreht. Mal wieder. Irgendwann später würde ein Pfleger nach mir sehen, weil Nora sich zu viele Sorgen macht, die eigentlich total unbegründet sind. Eigentlich. Kritisch wird es erst, wenn ich eine dieser sogenannten Zauberpillen vergesse einzunehmen, was zugegeben ziemlich selten vorkommt, da ich selbst nicht sonderlich scharf auf das bin, was passiert, wenn ich die Dinger mal nicht nehme. Ich war zwar bisher nie dort gewesen, aber ich lehne mich einmal aus dem Fenster und behaupte, dass die Hölle ein Witz gegen den Wahnsinn in meinem Kopf ist. Wirklich. Mein Wahnsinn übertrifft die Hölle bei Weitem, denn da gibt’s keine Flammen oder Teufel, sondern… ja, andere Dinge eben.
Ich schiebe meine leere Schüssel von mir weg und hole mein Handy aus der Hose. Wie immer keine Nachrichten, also öffne ich die Kontaktliste und gehe sie durch, bis ich an Rubys Namen hängen bleibe und mein Herz wieder anfängt verrückt zu spielen. Bum. Bumbum. Bum. Bumbumbum. Meine Hand wandert wie einprogrammiert zu den Zauberpillen und weil es gestern so gut funktioniert hat, stecke ich mir gleich zwei davon in den Mund und begrüße den Moment, als sich der sanfte Nebel allmählich lichtet. Wow, gehts mir gut. Ich liebe es einfach, normal zu sein! Rituale haben auf Verrückte wie mich eine sonderbar beruhigende Wirkung. Sie geben einem das Gefühl von Normalität, was absurd ist, wenn man bedenkt, dass solche Rituale, wie meins eins ist, eigentlich ein Zeichen dafür sind, dass etwas mit einem nicht so richtig stimmt. Aber diesen Gedanken dränge ich in den Hintergrund, wie so vieles andere, was im Vordergrund nichts zu suchen hat. Irgendwann habe ich bestimmt die Zeit und die Lust dazu, solche Gedanken zu Ende zu denken oder ausgiebiger darüber nach zu sinnen, doch heute ist keiner dieser Tage. Heute bin ich einfach nur normal. Gesund.
Ich blicke auf die Uhr über der Spüle und als diese erst 8:20 Uhr anzeigt, stelle ich fest, dass ich mir wohl oder übel ein Hobby zulegen sollte. Irgendetwas das Zeit relativ werden lässt. Um zehn Uhr kommt der Pfleger vorbei, um nach mir zu sehen und bis zehn Uhr sollte ich etwas machen, dass die Dämonen in meinem Kopf so sehr langweilt, dass sie in ihrem seligen Tiefschlaf bleiben und keine Lust verspüren, mich zu quälen oder sonstige Dinge mit mir anzustellen oder mich zu sonstigen Dingen zu verleiten. Soviel dazu, dass es in meinem von Wahnsinn befallenen Kopf keine Teufel gibt. Vielleicht ist das gelogen, vielleicht aber auch nicht. Kommt darauf an, ob man diese Kreaturen als Teufel betiteln möchte.
In meiner Zeit in der Klinik hatte es ein Tagesprogramm gegeben, bestehend aus Therapie, Malen, Töpfern, Ausdruckstanz und andere spassige Aktivitäten, die Verrückte so tun, um weniger verrückt zu sein. Brettspiele spielen, um nicht den Kopf gegen die Wand zu hauen, zum Beispiel. Doch hier zuhause sagt mir keiner, was ich tun soll. Was zur Hölle tun normale Menschen nur mit so viel Freizeit?
Mit Zauberpillenbox in der einen und dem Panik-Pager in der anderen Hand mache ich mich auf den Weg nach oben in mein Zimmer. Dort pflanze ich mich in den ramponierten braunen Sessel und schaue abwechselnd zwischen Bücherregal und Schreibtisch hin und her. Ich könnte lesen. Ich könnte aber auch zeichnen. Auch anders als in der Klinik gibt es hier niemanden, der mit wachenden Augen in einer Ecke steht und ungeduldig darauf wartet, dass irgendeiner durchdreht und irgendwie fehlt mir dieser menschliche Wachhund gerade ein bisschen. Keine Ahnung wieso, aber dieses Gefühl von Sicherheit, was mir diese Person mit dem äußerst überzeugenden Arztkittel stets vermittelt hatte, brauche ich auf eine Art und Weise, da ich aber nun völlig auf mich allein gestellt bin, führt das lediglich dazu, dass ich gerne wie ein Bekloppter auf den Panikknopf meines Pagers einhämmern möchte. Was ich nicht tun werde. Nochmals sieben Jahre im Irrenhaus und mein Hirn ist so weich wie die Götterspeise, die sie dort servieren. Und damit genau dieses Szenario nicht eintrifft, verfrachte ich sicherheitshalber den Bitte-drück-mich-doch-endlich-Pager und den Sessel. Weit unter den Sessel, ganz nach dem Motto, aus den Augen aus dem Sinn.
Und um noch ein bisschen mehr Abstand zwischen mich und den hinterhältigen Pager zu bringen, setze ich mich einfach an den Schreibtisch. Prompt fällt mein Blick auf meine alten Zeichnungen, die keiner weggeräumt hat. Ruby. Etliche Zeichnungen von Ruby. Ruby in sämtlichen Posen und Lebenslagen. Ruby, wie sie meine Katze Kaitou Kid streichelt. Kaitou Kid, wie er auf Rubys Schoss schläft. Ruby, wie sie im Gras liegt und ihr die Sonne ins Gesicht scheint. Ruby, wie sie vor dem Eiswagen steht und dem Zeichner, also mir, glücklich ihr gerade erst gekauftes Eis entgegen streckt und dann noch ein paar Zeichnungen mit Ruby, die mir die Röte in die Wange treiben und die eigentlich keiner niemals zu Gesicht hätte bekommen sollen. Kurzerhand krame ich alle zusammen und stopfe sie, mein ehemaliges Ich verfluchend, in die Schublade unter der Schreibtischplatte. Und wie immer, wenn ich an Ruby denke, ist da dieses übertriebene Klopfen in meiner Brust. Ich hechte zu der Zauberpillenbox und verfrachte zwei Beruhig-dich-du-Trottel-Kapseln in meinen Mund.
Wieder zurück auf meinem Sessel stehe ich vor dem gleichen Problem wie zuvor. Wie schlage ich am besten Zeit tot ohne selbst dabei draufzugehen?
Diesmal schenke ich meine ganze Aufmerksamkeit dem Bücherregal und den etlichen Krimis darin. Ich stehe auf und gleite mit den Fingern über die Einbände, bis ich an einem schwarzen Einband halt mache und das Buch herausziehe. Bei dem Buch handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Krimi von irgendeinem bekannten Autor. Sondern um einen, den ich zusammen mit Poe, der eigentlich von allen außer Ruby und mir Eddie genannt wurde, und Ruby geschrieben habe und in dem etliche meiner Hirngespinste wiederzufinden sind. Ich weiß, dass ich es nicht tun sollte, aber ich klappe das Buch trotzdem auf und als ich auf meine eigene Handschrift hinunterblicke, spüre ich ein Kribbeln unter meinen Fingerkuppen, das ich mir garantiert, wie so vieles andere, einfach nur einbilde.
Kapitel 1, Männer in Schwarz - sie sind in unserer Nachbarschaft.
Ja, Ruby, Poe und ich waren damals große Fans von dem Anime Detective Conan und ja, man könnte meinen, dass unser Buch an die Anime-Serie angelehnt ist oder dass wir eine Kopie von dem Anime mit uns, statt Conan und seinen Freunden, in der Hauptrolle erstellt haben. Doch die Männer in Schwarz in unserem Buch existieren wirklich. Halt stop, nein, Maik. Aus. Böse. Die Männer in Schwarz existieren nur in deinem Kopf, schon vergessen? Richtig. Nur in meinem Kopf. Wir sind ja jetzt normal. Ich meine, ich bin normal.
Ich setze mich zusammen mit dem Buch zurück in den Sessel. Auf vielen Seiten finden sich Bleistiftzeichnungen von unserer Nachbarschaft, den Männern in Schwarz und diverse Kritzeleien von mir wider. Rätsel, die Ruby, Poe und ich uns ausgedacht und teilweise auch gelöst haben, bis…tja, bis zu diesem einen Tag, als Poe… ich sollte dieses Kapitel nicht aufschlagen, also klappe ich das Buch schnell zu und lege es auf meinem Schoß ab. Der Pager unter dem Sessel brüllt mich an und ich höre die bunten Pillen in der Plastikbox aufgeregt gegen den Deckel klopfen. Wieder hole ich mein Handy heraus und wieder finden sich keine Nachrichten darauf vor. Dann tue ich das, was ich immer tue. Ich öffne die Kontaktliste, doch diesmal bleibt mein Finger über Poe‘s Namen stehen. Anders als bei Ruby bleibt mein Herz für eine Sekunde oder mehr stehen. Ich drücke auf die ‚Anruftaste’ und werde von einer Frauenstimme darüber informiert, dass unter dieser Nummer kein Anschluss verfügbar ist.