Suicide-Wonder-Hell
Warnung:
Wir erinnern uns daran, dass dies nur eine fiktive Geschichte ist. Der Inhalt soll schockieren, abschrecken und Angst auslösen. Das Leben ist kostbar. Das Leben ist ein Geschenk und man sollte andere so behandeln, wie man selbst gerne behandelt werden möchte. Mit Respekt, Liebe und Verständnis. Solltest du dunkle Gedanken haben, die dich drohen einzunehmen, dann suche dir bitte Hilfe. Es gibt immer eine helfende Hand, man muss danach nur greifen wollen.
Schon seltsam sich mit jemandem zu treffen und zu wissen, dass es das letzte Mal sein wird und man sich nie wieder mit irgendjemanden verabredet. Ich habe ein Kleid angezogen. Ein Schwarzes. Es ist bequem und sieht trotzdem schön aus und betont meine Kurven gut. Als ob es wichtig wäre, wie ich aussehe. Andererseits mache ich mir trotzdem Gedanken, wie man mich vorfinden wird, auch wenn ich es mir verboten habe, mir überhaupt ein Szenario nach meinem Selbstmord vorzustellen. Es ist ein Ende und das grosse DANACH werde ich nicht mehr erleben. Es sollte mir egal sein, weil ich dann sowieso nichts mehr ändern kann.
Ich schaue mein Gegenüber an. Er stochert lustlos in seinem Essen herum. Ein paar braune Haarsträhnen hängen in sein bleiches Gesicht. Die blauen Augen wirken müde und abgekämpft. Allgemein sieht er aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Etwas nervös kaue ich auf dem Stück Karotte in meinem Mund herum und schlucke den Brei mit wenig Begeisterung herunter. Zugegeben, Karotten und Kartoffelpüree als Henkersmahlzeit stellten sich als keine gute Wahl heraus, aber ich hatte nichts anderes im Haus, was ich hätte anbieten können. Die Karotten kommen aus dem Tiefkühler und das Kartoffelpüree… nun ja, das liegt schon ein paar Monate unangerührt in meinem Vorratsschrank.
„Spürst du schon was?“, frage ich schüchtern. Abrupt hält er mit dem Herumgestochere in seinem Teller inne und sieht mich an. Automatisch erröten meine Wangen. Ich kann nicht abstreiten, dass er mir gefällt. Selbst die Narbe, die von seiner Lippe zu seinem Kinn verläuft, vermag es nicht sein schönes Gesicht zu verunstalten. Im Gegenteil, sie machte es nur interessanter. Woher die Narbe wohl stammen mag?
„Noch nicht, und du? Spürst du etwas?“ Er streift sich eine lose Haarsträhne hinter die Ohren und ich zwinge mich, den Blick von ihm zu lösen und die übrigen Karotten auf meinem Teller anzustarren. „Ein wenig“, sage ich und piekse eine Möhre mit meiner Gabel auf. „Mir ist warm“, ergänze ich in der Hoffnung damit eine plausible, stumme Erklärung für meine roten Wangen zu platzieren. Natürlich gibt es nichts, wofür ich mich noch zu schämen brauche. Wozu auch. Aber ich kann das Gefühl trotzdem nicht abstellen, dass es mir peinlich ist, in seiner Nähe zu einem Teenager zu mutieren. „Zieh dich aus.“
Beinahe hätte ich mich an einer Karotte verschluckt. „Wie bitte?“, huste ich und versuche krampfhaft das Gemüse wieder aus meiner Luftröhre zu befördern. Er zuckt lediglich mit den Schultern. „Wenn dir warm ist, dann zieh den Fummel aus.“
„Fummel?“, wiederhole ich, immer noch nach Luft ringend. „Ich ziehe mich garantiert nicht vor dir aus.“
„Warum nicht?“, fragt er unverblümt und schiebt den halbleeren Teller von sich weg. „In zwei Stunden sind wir tot, es spielt keine Rolle mehr. Wenn es dir so peinlich ist, stelle ich mich in eine Ecke und starre für den Rest meines Lebens die Wand an. Ich habe kein Problem damit.“
Als er aufsteht und sich von mir wegdreht, spüre ich, wie mir der Mund offensteht. Ist das sein Ernst? Perplex beobachte ich, wie er sich tatsächlich an dem Sofa vorbeischlängelt und sich in der linken Ecke meines Wohnzimmers auf den Boden fallen lässt. Im Schneidersitz verharrt er an dieser Stelle mit dem Kopf zur Wand gerichtet.
Für einen Augenblick bin ich sprachlos und weiss nicht so recht, wie ich reagieren soll. Ich weiss nicht viel über ihn, kenne nicht einmal den Grund für seine Entscheidung seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Ich bin ziemlich schüchtern und auch er ist nicht gerade ein Freund der vielen Worte. Das Treffen ist nur durch Zufall entstanden. Vor ein paar Wochen hatte ich mich im Forum Grau angemeldet und nach Gleichgesinnten gesucht. Im Forum Grau wimmelte es von Leuten wie mir. Menschen, die aufgeben wollten. Vor fünf Tagen war ich dann über die Kategorie „Gemeinsam sterben“ gestolpert und habe mich in die Liste mit Namen und Adresse eingetragen. Es hatte etwas Verlockendes den Weg nicht alleine gehen zu müssen. Schon nur, weil ich mir nicht sicher war, ob ich es sonst wirklich durchziehen würde. Vorgestern war das versprochene Paket mit dem tödlichen Serum und einem Zettel mit einer Handynummer in meinem Briefkasten. Ein paar kurze SMS, um Ort und Zeit festzulegen. Mehr haben wir nicht miteinander geschrieben. Vor einer Stunde haben Gabriel und ich das Serum eingenommen und nun… sitzt er da und starrt Löcher in meine Wand.
Ich räuspere mich und nehme meinen ganzen Mut zusammen. „Ich habe AIDS“, sage ich und spreche es in diesem Moment zum ersten Mal laut aus. Es fühlt sich seltsam an, es zu sagen. Sonst höre ich das verfluchte Wort nur aus den Mündern von Frauen und Männern mit weissen Kitteln. Die Gabel in meiner Hand klappert gegen das Porzellan meines Tellers und mir fällt auf, dass ich zittere. Mit zusammengepressten Lippen lasse ich das Besteck los und starre auf meine bebenden Hände. Schweiss läuft mir den Rücken hinab. Wieder fühle ich mich schmutzig. Unrein. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, nicht über meine Krankheit zu sprechen. Es hatte gereicht, dass die Ärzte dieses Thema immer wieder ansprachen und mich mit dem Unausweichlichen konfrontierten. Abertausende Tabletten hatten sie mir verschrieben, einen Plan aufgestellt, an den ich mich halten und Termine, die ich unbedingt wahrnehmen sollte. Ich bin wie eine tickende Zeitbombe, eine infizierte Fleischhülle, hochansteckend und tödlich. Zumindest empfand ich das so. Das ist auch der Grund, wieso ich in dieser Welt keinen Platz mehr habe. Würde ich leben, könnte ich die Krankheit weiterreichen, ohne es überhaupt zu wollen. Das Risiko konnte ich nicht mehr eingehen. Es war eine Qual jede Nacht in Schuldgefühlen zu baden, mit der Angst im Nacken, jemanden aus Versehen angesteckt zu haben. Verdammt. Tränen schiessen mir in die Augen und vernebeln meine Sicht. Hastig greife ich nach dem Stoff meines Kleides und versuche die Tränen damit aufzufangen und wegzuwischen. Jeder einzelne Tropfen hat für mich die Form einer kurz vor der Explosion stehenden Granate. Auch wenn die Mediziner etwas anderes behaupten. Meine Körperflüssigkeiten sind wie Säure und ich darf sie nicht verlieren, nicht verteilen, nicht verstreuen.
Plötzlich spüre ich eine warme Hand auf meiner Schulter. Es ist Gabriels Hand. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er die Ecke in meinem Wohnzimmer verlassen hat. Ich erstarre und halte inne. Seine Haare kitzeln mich an der Wange, als er sich zu mir herunter bückt. Aus Reflex versuche ich ihn von mir wegzustossen und aufzustehen, aber er ist schneller und greift nach meinen wild fuchtelnden Armen. „Ich bin ansteckend!“, wimmere ich leise. „Geh weg von mir!“ Aber er denkt nicht mal daran, von mir zu weichen. Stattdessen presst er sein Gesicht gegen meines und hält mich fest. „Es ist okay, Seraphine. Bald sind wir nicht mehr hier…“ Seine Stimme ist lediglich ein Flüstern. „Nein es ist nicht okay! Geh weg von mir!“, brülle ich und stemme mich mit aller Kraft gegen seine Arme, die mich festhalten, obwohl ich weiss, dass er recht hat und wir beide sowieso bald sterben werden. Völlig darauf konzentriert, mich aus seinem Griff zu befreien, merke ich gar nicht, dass auch er angefangen hat zu weinen. Erst als seine Lippen mein Ohrläppchen berühren und ich ein Schluchzen vernehme, höre ich auf, mich zu wehren. Warum weint er? Als ich in seinen Armen erschlaffe, lässt er meine Handgelenke los und geht neben meinem Stuhl in die Hocke. Unsere Blicke treffen sich durch den Tränenschleier hindurch. „Darf ich?“, fragt er und ein kleines Lächeln schmiegt sich auf seinen Mund. Ich bin verwirrt. „Was?“
„Das.“
Er lehnt sich zu mir vor und küsst mich. Ein Blitz schiesst durch meinen angespannten Körper. Überrascht schrecke ich zurück und wäre beinahe mit dem Stuhl nach hinten gekippt, hätte Gabriel es nicht verhindert und mich im letzten Moment festgehalten. Was sollte das?
„Spinnst du?“, wimmere ich leise und berühre mit meinen Fingern die Lippen, die er einfach so geküsst hat.
„Ich will dich, Seraphine….“
Fassungslos starre ich ihn an und verliere mich in dem tiefblauen Ozean seiner Augen, die glänzen, weil sie genauso feucht sind wie meine. Wie kann ein so schöner Mann beschliessen, sein Leben so ungehindert wegzuwerfen wie ich meines? Was ist sein Geheimnis und wie tief und schwarz ist der Abgrund, in den er gefallen ist? Irgendwann, ich weiss nicht wie viele Sekunden, Minuten verstrichen sind, schaffe ich es, mich von seinem Anblick zu lösen und mich zusammen zu reissen.
„Ich verrate dir, dass ich AIDS habe und du willst mich ficken?“, maule ich ihn an und verfluche mich, dass ich es tatsächlich kurz unbewusst in Erwägung gezogen habe, mich ihm hinzugeben… Es ist, als hätte dieser Kuss einen Schalter in meinem Kopf umgelegt. Nur noch eine Stunde und ein paar Minuten… wie spät ist es eigentlich?
„Du trägst das Virus vielleicht in dir,… aber spielt es wirklich noch eine Rolle?“ Wieder dieses Lächeln auf seinen Lippen, die so weich und perfekt sind.
„Du bist doch wahnsinnig.“, knurre ich, stehe auf und fange an, in meiner Küche auf und ab zu laufen. „Warum zur Hölle bist du hier, Gabriel? Ist das irgendein Fetisch von dir?“ Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, könnte ich mich dafür schlagen. Warum sage ich sowas? Bin ich von allen guten Geistern verlassen?
„Um zu sterben…. Zusammen mit dir. Damit du nicht alleine bist. Kein Mensch sollte diesen Weg alleine gehen müssen.“
„Schon vergessen? Du wirst heute auch den Löffel abgeben. Ins Gras beissen. Tschüss und auf Nimmerwiedersehen. Du hast das Teufelsgebräu ebenfalls geschluckt. Warum willst du sterben? Ich verstehe es nicht.“ Und warum zur Hölle will er… mit mir…
Er lässt sich auf seine Knie fallen. „Ich verrate es dir, wenn ich dich noch einmal küssen darf.“
Abrupt bleibe ich stehen. Wieder muss ich ihn ansehen. Kniend auf dem Boden meiner Küche. Ich fühle mich unwohl und weiss nicht so recht, was ich tun soll. Am liebsten hätte ich ihn aus meiner Wohnung geschmissen, mich ins Bett gelegt und geheult, bis es endlich vorbei ist. Er verunsichert mich. Noch nie hat sich ein Mann in meiner Gegenwart so verhalten. So unterwürfig, so völlig fern der Normalität. Als wäre ich in einem schlechten Liebesdrama gefangen und der Typ, der das Drehbuch geschrieben hat, lebt gerade seine perversen Fantasien mit uns aus. „Das ist nicht verhandelbar“, sage ich harsch.
„Das ist schade“, erwidert er und lässt seinen Kopf hängen. Die braunen Haare verdecken sein Gesicht. „Du lehnst mich also komplett ab? Darf ich wissen, wieso? Gefalle ich dir nicht? Liegt es an meinem Erscheinungsbild?“
Ich ziehe die Stirn in Falten. Hat er mich gerade wirklich gefragt, ob er zu hässlich für mich ist? „Nein, du Vollidiot. Wir sterben in einer Stunde und ich will nicht kurz vor meinem Tod noch jemanden mit diesem verdammten Virus infizieren. Verstehst du das? Geht das in deinen Schädel rein? Mein Exfreund hat mir das angetan und ich will das niemandem jemals antun. Niemals. Ganz egal, ob du sowieso in einer Stunde tot bist oder nicht. Und sag jetzt nicht, wir können verhüten. Ich wollte einfach nicht alleine sterben…. Ich weiss gar nicht mehr, wieso. Ich habe mich im Forum Grau nicht angemeldet, um noch einmal flachgelegt zu werden bevor… du weisst schon. Das war nicht meine Intention. War es nie. Verdammte Scheisse.“
„Warum hast du dann dieses Kleid angezogen?“
„Weil ich schön aussehen will...“, antworte ich leise und schaue an mir herab. Ich hätte doch meinen Pyjama anbehalten sollen…
Gabriel richtet seinen Kopf auf und sieht mich an. Dann stützt er sich mit seinen Händen auf dem Boden ab und steht auf. „Hat er es mit Absicht getan? Dein Exfreund?“
„Er hat mich betrogen, mit einer anderen und dann… naja… wir haben versucht ein Kind zu bekommen und bei meinem letzten Besuch beim Frauenarzt, hat sie mir gesagt, dass ich das Virus in meinem Blut trage. Wir haben es daraufhin noch ein paar Mal testen lassen mit dem gleichen Resultat.“
Mit langsamen Schritten bewegt Gabriel sich auf mich zu und als er vor mir zum Stehen kommt, treffen sich unsere Blicke. Als er seinen Kopf schief legt, spüre ich, dass er mich wieder küssen will. Für eine Sekunde überlege ich mir, ihn wegzustossen, aber als seine Lippen nur noch wenige Zentimeter von meinem Mund entfernt sind, lasse ich es zu. Weich wie Samt schmiegt er sich an mich und drängt mich immer weiter an die Wand hinter uns. Als ich nicht mehr von ihm weichen kann und gefangen zwischen seinem heissen Körper und der eiskalten Betonwand bin, löst er den Kuss. „Soll ich dir verraten, warum ich hier bin, Seraphine?“
Ich nicke und schaue zu ihm hoch. Eine Träne löst sich von seinen Augen und trifft mich auf der Wange.
„Weil du es verdient hast, zu leben.“
Völlig verschwitzt und nackt schrecke ich in meinem Bett auf und reisse die Augen auf. Mein Herz rast in meiner Brust, als hätte ich einen Marathon hinter mir und mein Atem geht stossweise. Verwirrt schaue ich mich um. Ich bin allein. Was zur Hölle…. Ich reibe mir mit dem Handballen über die brennenden Augenlider. Habe ich das alles nur geträumt? Das kann doch nicht sein. Bin ich tot? Nein… warum sollte ich in meinem Bett aufwachen, wenn ich tot bin? Das ergibt alles keinen Sinn. Ich reisse die Decke von meinem Körper und rutsche an den Rand von meines Betts. Vielleicht hat das Serum nicht funktioniert. Eventuell war die Dosis zu gering? Wahrscheinlich hat es nur für einen ordentlichen Filmriss gereicht. Verflucht. Ob ich mir das alles nur eingebildet habe? Diesen Gabriel? Dieses Date? Dieses Forum? Es war so real. So verdammt real. Meine Finger wandern zu meinen Lippen hoch und berühren sie. Na gut, zugegeben, dieses Treffen war dann doch zu surreal, um wahr zu sein. Ich bin so eine Idiotin… Mein Blick fällt auf die Schlafzimmertür, die offen steht. Mit zusammengekniffenen Augen starre ich auf den Esszimmertisch in der Küche und … er ist gedeckt. Auf dem braunen Tisch stehen zwei Teller und zwei Gläser. Was zur…verfluchten Scheisse… Das kann doch nicht… oder doch? Ich springe vom Bett auf und sprinte mit schnellen Schritten in die Küche. Und tatsächlich. Auf dem Tisch liegen die angefangen Portionen Karotten und Kartoffelpüree und unter dem Glas von Gabriel ist ein kleiner Zettel versteckt.
Mit zittrigen Fingern greife ich nach dem Stück Papier und falte es auf.
Du bist geheilt.
In Liebe,
G.
Natürlich habe ich mein Blut erneut testen lassen und… das Virus war verschwunden.