Schmutziger Oktober - mürrisch
Im Jetzt
Ich liege mit Rachel auf ihrem Bett, zwischen uns der Laptop und neben mir griffbereit die Knarre. Auf dem Laptop läuft irgendeine Liebesschnulze, deren Titel ich schon wieder vergessen habe. Ist sowieso immer das gleiche. Sie verlieben sich, es gibt irgendein vermeintlich unüberbrückbares Problem, sie streiten sich, sie lieben sich wieder. Alle sind glücklich. Ende.
Ich hasse Liebesfilme. Ich bin nicht einmal ein Fan von Beziehungen. Alleine der Gedanke mich an jemanden zu binden, löst Abscheu in mir aus. Beziehungen sind wie Käfige, in die man sich einsperren, gar wegsperren lässt. Und ich mag keine Käfige. Ich bin lieber frei und überlasse das Lieben anderen. Ich bin zwar durchaus in der Lage jemanden zu lieben, aber definitiv nicht so, wie es in diesen Filmen dargestellt wird. Hoku zum Beispiel. Den liebe ich. Er ist ein Mensch, den ich gut leiden kann und den ich irgendwie brauche. Er ist die einzige Konstante in meinem Leben. Das macht ihn besonders und mir würde niemals in den Sinn kommen, so jemanden Besonderes wie Hoku in einen Käfig einsperren zu wollen. Warum sollte ich das tun? Ich verstehe dieses Konstrukt „Beziehung“ einfach nicht, die Aufregung dahinter, das ganze Tamtam, diese sich ständig wiederholenden Bekundungen. Man kann sich doch einfach lieben, ohne daraus eine große Sache zu machen oder es an die große Glocke zu hängen. Ohne dieses Gekuschele, Geknutsche, Gestreichele und Händchengehalte..
„Du guckst so mürrisch“, Rachel sieht mich mit gerunzelter Stirn von der Seite an und katapultiert mich aus meinem inneren Monolog heraus. Das Mädchen trägt ihre rotbraunen Haare immer noch zu einem Zopf geflochten, doch die sexy rote Unterwäsche wird nun von einem cremefarbenen Schlafanzug verdeckt. Worüber ich gerade mehr als froh bin, selbst wenn ich zuvor Sonia einen Besuch abgestattet habe, um mich abzureagieren, will ich nichts riskieren. Sonia ist irgendeine belanglose Nutte vom Straßenstrich, die für meinen Geschmack zu viel quatscht und zu wenig bläst.
„Ich gucke nicht mürrisch“, sage ich schroff und merke selbst, dass meine Laune nicht unbedingt die Beste ist.
„Bist du immer noch sauer wegen der roten Unterwäsche?“, erkundigt sich Rachel vorsichtig und als ich auf ihre Frage hin genervt mit den Augen rolle, plustert das Mädchen die Wangen auf. Was zugegeben süß, aber auch etwas affig aussieht. Süß, weil Rachel Sommersprossen hat, so wie Hoku, und affig, weil der rot geschminkte Kussmund mich ein bisschen an Sonia beim Blasen erinnert.
„Was denn? Guck nicht mich an, guck den Film. Den wolltest du doch sehen“, tadele ich das Mädchen und zeige mit meinem ausgestreckten Finger auf den Laptop. Mann XY baggert gerade an Frau XY herum, die sich sichtlich Mühe gibt, ihm die kalte Schulter zu zeigen, obwohl sie ihn doch will.
„Nael, was ist los mit dir?“, versucht es Rachel nochmal und ich zucke zusammen, als ich plötzlich die Hand des Mädchens auf meiner Jogginghose spüre. Genauer auf meinem Oberschenkel.
„Fass mich nicht an“, knurre ich und schlage ihre Hand aus Reflex weg. Nun ist Rachel an der Reihe, vor Schreck zusammen zu zucken. Auf das Zucken folgt ein Schultern hochziehen und sich beleidigt von mir wegdrehen. Doch die Abfuhr hält nicht lange an. Wenig später ruht Rachel’s Blick wieder auf mir.
„Irgendetwas scheint dich zu beschäftigen“, stellt Rachel in einem Ton fest, als wäre sie sehr überzeugt von dieser Annahme. Als wäre es in Stein gemeißelt, dass ich mir über irgendetwas den Kopf zerbreche.
„Ich mag bloß keine Liebesschnulzen“, erwidere ich auf ihre ach so tolle Feststellung.
Rachel verzieht ihren hübsch geschminkten Mund zu einem Strich. „Ich schon.“
„Deswegen schauen wir uns diesen Film ja an.“
„Was magst du denn für Filme?“
„Jedenfalls keine Schnulzen“, sage ich trocken und ernte ein empörtes Schnauben.
„Das ist nicht fair“, schmollt Rachel, zieht die Schultern wieder hoch und versinkt wie die Titanic im Meer in ihrer Lieblingskuscheldecke.
„Was ist nicht fair?“, hake ich nach, obwohl mich die Antwort darauf nur mäßig interessiert.
„Ihr habt mir das alles genommen“, Rachel deutet mit ihrem Kinn Richtung Laptop.
„Was meinst du?“
„Na das“, murrt das Mädchen und streckt die Hand aus, um auf die zwei sich Liebenden auf dem Bildschirm zu zeigen. „Meinen ersten Freund, meine erste große Liebe, meinen ersten Kuss, mein erstes Mal! Klar mag ich Liebesschnulzen, weil ich das alles nicht haben kann!“
Ich schiebe unbeeindruckt eine Augenbraue in die Höhe. „Das kannst du doch alles nachholen.“
„Kann ich nicht“, schmollt das Mädchen weiter.
„Warum solltest du das nicht können?“, frage ich und ernte wieder ein empörtes Schnauben.
„Weil ihr mir das alles geraubt habt, ganz einfach!“
„Moment mal, wir haben dir gar nichts geraubt, außer vielleicht zwei Jahre deines Lebens“, lache ich und mache Rachel nur umso wütender. Sogar so wütend, dass ihre Augen Funken sprühen, als sie mich ansieht.
„Zwei Jahre sind viel, wenn man so alt ist wie ich! Meine Freundinnen können alle ihr Leben leben. Erfahrungen sammeln, Jungs daten, rumknutschen! Ich kann das nicht. Ich sitze hier drin fest und mache Fotos.“
„Du hast keine Freunde“, erinnere ich Rachel und treffe damit einen wunden Punkt. Tatsächlich verpasst mir das Mädchen mit ihrer Faust einen Hieb gegen den Brustkorb, der kaum weh tut, weil das Mädchen zuschlägt wie ein Mädchen, trotzdem schnappe ich nach ihrer Hand, schließe sie in meiner ein und drücke zu, so dass das Mädchen leise auffiept.
„Mach das nicht nochmal“, mahne ich Rachel in einem ernsten Ton und als sie nach kurzem Zögern brav nickt, lasse ich ihre Hand los.
Kommentarlos schauen wir uns den Film weiter an, bis mir im Augenwinkel auffällt, dass Rachel weint. Ein dünner Tränenfluss kämpft sich über die von Sommersprossen geküsste Wange hinab. Ich weiß nicht genau warum die nächsten Worte meinen Mund verlassen, doch als sie ausgesprochen sind, weiß ich, dass ich mit ihnen ein verdammtes Chaos angerichtet habe.
„Das ist in echt gar nicht so toll, wie es immer dargestellt wird.“
Wieder sieht mich Rachel an, während Mann XY und Frau XY auf dem Bildschirm herum knutschen. Im Gesicht des Mädchens blitzt Entgeisterung auf, die schnell der Resignation weicht.
„Du bist einfach kalt“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Ein eiskalter, verbitterter Kerl, der nichts in seinem Leben hat, als das hier“, sie verweist mit ihren Händen auf den Raum, in dem wir uns befinden und sie eingesperrt ist.
„Ich verstehe dein Problem nicht. Wie kannst du etwas wollen, von dem du keine Ahnung hast, wie es sich anfühlt und ob du es mögen wirst. Vielleicht gefällt dir das gar nicht“, ich zeige auf den Bildschirm. Frau XY wird gerade von Herr XY gegen die Wand gedrückt, während sie immer noch fleißig Spucke austauschen.
Rachel zieht erzürnt die Brauen zusammen und sieht mich so böse an, als hätte ich mit meiner Aussage vor ihren Augen just in dem Moment einen Hundewelpen getötet. „Warum sollte ich das nicht mögen?“, faucht sie mich an und strampelt dabei ihre Kuscheldecke von sich runter. „Jeder mag das!“
Als Nächstes springt sie vermutlich aus dem Bett und verzieht sich heulend ins Bad. Bloß weg von mir und meinen elenden Wahrheiten, die sie nicht hören will.
„Weil die das im Film glorifizieren und inszenieren, Ria, in der Realität spielt zum Beispiel kein Orchester im Hintergrund“, erkläre ich und hätte die Antwort gerne ein bisschen mehr ausgeschmückt. Doch just in dem Moment greift Rachel nach meiner Hand. Ich zucke zusammen. Schlage sie weg. Gebe ein lautes „Nein“ von mir und bin nun der, der vom Bett hochspringt.
„Fass mich nicht an“, keife ich das Mädchen an und merke wie meine Pumpe dabei geht. Rachel sieht mich wieder mit diesem Blick an, bei dem die Augen aus ihren Höhlen zu kullern drohen. Eine Mischung aus Überraschung und Entsetzen. Ich halte die Hand, die sie berührt hat, in meiner anderen, als würde ich Schmerzen leiden. Ich muss an das Spiel denken, an Hoku, an das brennende Haus.
Und dann passiert etwas - sie fällt uns sogar gleichzeitig auf. Die Knarre auf dem Bett, außer meiner Reich- und in Rachel’s Griffweite. Ein fataler Fehler meinerseits.
Statt mich wie ein Adler im Sturzflug auf meine Beute zu stürzen, stehe ich nur da, so wie Rachel nur dasitzt. Das Mädchen könnte die Waffe jetzt an sich nehmen und mich erschießen. Die Waffe ist zwar gesichert, aber darauf vertrauen, dass es so bleiben wird, will ich nicht. Und wenn ich tot bin, bleibt das Mädchen trotzdem in diesem Verlies eingesperrt. Sie kennt die Codes nicht, mit der die Türen verriegelt sind. Sie müsste auf Hoku warten und schnell sein. Blitzschnell.
Rachel löst sich vor mir aus ihrer Starre und sie tut genau das, was ich an ihrer Stelle auch tun würde. Sie greift nach der Waffe.
„Mach das nicht“, sage ich noch, doch da ist die Waffe bereits auf mich gerichtet. Es ist nicht unbedingt die Waffe, in deren Lauf ich nun blicke, die mir eine Heidenangst einjagt, nein, es ist mehr Rachel‘s zitternde Hand, die die Waffe hält und der Ausdruck auf ihrem Gesicht, tränennass und hadernd.
„Wenn du mich erschießt, kommst du hier nicht raus“, versuche ich das Mädchen zur Vernunft zu bringen und halte kapitulierend die Hände vor meinem Brustkorb.
Rachel schnieft und führt die zweite Hand zur Waffe, ist sich aber vermutlich dem Fakt nicht bewusst, dass sie das Ding erst entsichern muss - was gut ist, ich könnte mir das Überraschungsmoment zunutze machen, wenn sie abdrücken will.
„Du bekommst die Pistole zurück, wenn du mich küsst“, entweicht es aus dem Mädchen. Ich wette, ich habe mich nur verhört und will schon anfangen loszulachen, da gibt Rachel den gleichen Bullshit nochmal von sich.
„Küss mich, Nael.“