Schmutziger Oktober - Gürteltier
15. Oktober 2001 - einige Tage nach dem Hausbrand
„Haben Sie schon einmal ein Gürteltier mit zwei Köpfen gesehen?“, frage ich die Frau, die sich mir als Doktor Vielberg vorgestellt hat. Sie ist ganz anders als die Lady. Sie hat graue Haare und eine Brille auf der Nase. Außerdem trägt sie einen Hosenanzug und sieht nett aus. Ich habe noch nie zuvor eine Frau in einem Hosenanzug gesehen.
Die Frau legt den Kopf schief. „Ein Gürteltier mit zwei Köpfen?“
„Ein Gürteltier mit zwei Köpfen“, bestätige ich und sehe die Frau erwartungsvoll an. Diese schüttelt lächelnd den Kopf und widmet sich dann dem Puzzle vor uns, in dem sie ein Puzzleteil an das andere hängt. Wir, also ich und Frau Vielberg, sitzen im Schneidersitz auf dem Boden von Ihrer Praxis. Ich weiß, dass es der Frau nicht um das Puzzle geht, sondern darum, was in dem Haus passiert ist. Das Puzzle dient nur dazu, dass ich auftaue. Eine Verbindung schaffen. Zusammen an etwas arbeiten.
„Was ist denn mit dem Gürteltier mit den zwei Köpfen?“, erkundigt sich Frau Vielberg neugierig bei mir.
„Die Chance, einem zu begegnen, ist relativ gering.“
„Das ist wohl wahr“, Frau Vielberg schmunzelt und sieht mich mit diesem Blick an, von dem ich glaube, dass sie mit ihm in meinen Kopf hinein gucken kann. „Warum erzählst du mir das, Nael? Hast du etwa schon einmal eins gesehen? Ein Gürteltier mit zwei Köpfen?“
Ich zucke mit den Achseln. „Die Chancen, das Spiel zu gewinnen, sind auch relativ gering.“
„Denkst du denn, ihr habt das Spiel gewonnen? Hoku und du?“
Ich zucke wieder mit den Achseln. „Manchmal muss man schummeln, um zu gewinnen“, sage ich und pflücke ein Puzzleteil vom Boden, um es mir genauer anzusehen. Es ist rot und an den Ecken grün. Es könnte zu der Rose gehören, die auf dem Karton abgebildet ist und einen Teil des fertigen Kunstwerks darstellt, dass wir hier zusammen puzzeln sollen.
„Habt ihr denn geschummelt bei dem Spiel?“, Frau Vielberg angelt sich ebenfalls ein Puzzleteil vom Boden, sieht es sich aber nicht an. Sie hält es nur zwischen Zeigefinger und Daumen fest.
„Um schummeln zu können, muss ein Spiel fair sein“, antworte ich und lege mein Puzzleteil zurück auf den Boden. „Ich glaube, Jungs wie ich können nicht schummeln, weil das Leben nie fair zu uns gewesen ist. Wir spielen einfach mit.“
Frau Vielberg‘s Lippen bewegen sich minimal und auch in ihren Augen verändert sich etwas. Ich weiß nur nicht was. Nicht die Farbe. Nicht der Glanz. Es ist etwas anderes.
„Nael“, beginnt die Frau, dann positioniert sie sich neu, so dass ihre schlanken Beine angewinkelt und nicht mehr im Schneidersitz sind. Hätte die Frau einen Rock an, könnte ich nun ihre Muschi sehen. „Willst du mir nicht erzählen, was in dem Haus passiert ist?“
Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die große Uhr über der Tür und muss an Hoku denken, der im Nebenzimmer sitzt und sich denselben Fragen stellen muss. Ich wäre gerne bei ihm, doch wir werden getrennt verhört. Das wird ihnen aber nichts bringen.
„Das Spiel ist passiert.“
„Und was ist das Spiel? Wie funktioniert es?“, hakt die Frau nach, und als ich nicht antworte, kehrt Unzufriedenheit in ihr Gesicht ein.
„Ich will dir helfen, Nael. Aber dafür musst du mit mir reden“, versucht sie es anders, doch auch damit ringt sie mir keine Antwort ab. Also seufzt sie und puzzelt weiter. Alleine, während mein Blick an dieser Uhr klebt. Ich mochte Zeit noch nie. Sie läuft kontinuierlich weiter und lässt sich nicht aufhalten. Manchmal fühlt sie sich lang an und manchmal kurz und doch weiß ich, dass eine Sekunde immer eine Sekunde lang dauert, so wie eine Minute immer eine Minute lang dauert.
„Haben Sie Kinder?“, frage ich und erschrecke mit meiner Frage Frau Vielberg, die ins Puzzeln oder ihren Gedanken vertieft ist. Diese zuckt nämlich kurz zusammen, ehe sie wieder ihr gewohntes Lächeln aufsetzt.
„Ja, habe ich. Eine Tochter. Ungefähr in deinem Alter“, erwidert sie und ich sehe der Frau an, wie in ihrem Kopf eine Erinnerung oder ein Bild ihrer Tochter aufpoppt.
„Warum fragst du mich das, Nael?“
Ich zucke abermals mit den Achseln. „Spielen Sie mit ihrer Tochter das Spiel?“
Nun weiten sich die Augen von Frau Vielberg, doch nicht für lange. Das Lächeln schleicht sich wie ein lästiger Begleiter zurück auf ihre Lippen, die sich einen Spalt geöffnet haben und jetzt wieder geschlossen sind.
„Wir spielen zusammen Brettspiele“, erwidert Frau Vielberg.
„Und was spielen Sie nachts, wenn es dunkel wird?“
„Also hat das Spiel nachts stattgefunden, Nael?“
Ich überlege kurz, nicht weil ich die Antwort nicht weiß, sondern weil ich nicht weiß, ob ich antworten soll. Dann nicke ich.
„Und wo hat das Spiel stattgefunden?“
„Wo spielen Sie Spiele mit Ihrer Tochter?“
„Im Wohnzimmer für gewöhnlich.“
„Fassen Sie sie dabei an, ihre Tochter?“
Frau Vielberg‘s Lippen öffnen sich wieder. Ihre Stirn ist leicht gerunzelt, die Augen haften auf mir. Sie scheint irgendetwas in meinem Gesicht zu suchen, aber ich liefere ihr etwas anderes. Weiter unten. Ich schiebe meine Hand in die Hose hinein, in die sie mich gesteckt hat und massiere mich da, wo es kribbelt, wenn ich es tue. „Haben Sie ihre Tochter angefasst, während Sie Spiele mit ihr gespielt haben?“, frage ich und lache drauf los. Frau Vielberg und ich werden keine Freunde mehr. Aber das macht mir nichts aus. Ich mag Puzzeln sowieso nicht und Frauen wie sie können mich mal.