Schmutziger Oktober - Bluff
Im Jetzt
„Ein Unheil kommt selten allein. Erst der Kuss und jetzt auch noch Cleo“, denke ich, als Rachel‘s Schwester mir gegenüber am Tisch sitzt und irgendwelchen Quatsch von sich gibt, während sie ihre Gabel über den Teller kratzen lässt. Das Geräusch ist nervig, genauso nervig wie ihre Stimme und ich bewundere Hoku dafür, dass er sie bisher so lange ausgehalten hat. Cleo und ihre Stimme, ihr sinnloses Gequatsche und dieses elendige Herumgekratze mit der Gabel. Es sei denn, sie spielt nicht immer mit ihrer Gabel rum oder sie essen oft getrennt.
Es ist tatsächlich das erste Mal seit über zwei Jahren, dass wir zu dritt an einem Tisch in unserer Wohnung sitzen. Also es ist das erste Mal überhaupt, dass ich anwesend bin, wenn die beiden in unserer Wohnung sind. Von mir aus kann es auch das letzte Mal sein, trotzdem bemühe ich mich um ein Lächeln. Wir tun das hier schließlich nur, weil Cleo darauf bestanden hat und weil es offenbar irgendwelche Neuigkeiten gibt, von denen sie uns unbedingt berichten will. Doch bisher geht es nur um irgendeine Tina, die ihr im Fitnessstudio auf den Wecker geht.
Ich schiele rüber zu Hoku, der ein blaues Hemd und teure Hosen trägt und sich Mühe mit seiner Frisur gegeben hat. Das Einzige, was im Moment an Hoku an Hoku erinnert, sind die Sommersprossen in seinem Gesicht, der Rest ist fremd und so fake, wie Cleo‘s Titten. Die sind gemacht. Das sehe ich durch das weiße Top hindurch, das sie trägt. Genauso wie ihre Nippel, die schon steif sind und gegen den dünnen Stoff ihres hautengen Oberteils drücken, seit die Frau unsere Wohnung betreten hat.
Ich für meinen Teil trage wie gewohnt meine Jogginghose und irgendein T- Shirt ohne Aufdruck. Meine Haare sind versteckt unter einem Beanie und meine Füße stecken in Baumwollsocken mit Hündchen-Motiv. Was so viel bedeutet, dass sich auf meinen Socken unzählige grinsende Hundeköpfe tummeln. Die Socken waren ein Geschenk von Hoku zu Weihnachten, weil wir Weihnachten feiern, seit er mit Cleo zusammen ist und die dumme Gans darauf bestanden hat, dass ich zumindest jeweils bei der Geschenkeverteilung anwesend bin, weil Rachel fehlt. Ich bin sozusagen ihr Rachel-Ersatz bei diesem affigen Fest. Was absurd ist, wenn man bedenkt, dass ich der bin, der Rachel weg gemopst hat. Was Cleo natürlich nicht weiß.
„Jedenfalls ist Tina eine Schlampe“, beendet Cleo ihren Monolog und stopft ihren Mund endlich mit einem Stück Fleisch, was sie zuvor mit ihrer Gabel gefühlt zu Tode gestochert hat.
„Verstehe“, sage ich, weil Cleo mich beim Kauen mit ihren stark geschminkten blauen Augen erwartungsvoll ansieht. Die Haare trägt sie neu schulterlang, lockig und Wasserstoff blondiert.
„Fickst du eigentlich immer noch Nutten?“, erkundigt sich die Frau, plötzlich und immer noch kauend wie eine Kuh, bei mir.
Ich verschlucke mich erst, weil die Frage so direkt ist und unerwartet kommt, fasse mich aber schnell wieder.
„Ja, ich ficke immer noch Nutten“, erwidere ich in einem Ton, der klingt, als wäre ich ein Schnösel, was völlig im Kontrast zu meiner Aussage steht. Dafür redet Cleo wie ein Bauer, obwohl sie wie eine Schicki-Micki-Sport-Tussi aussieht.
Cleo verzieht auch das Gesicht wie eine Schicki-Micki-Sport-Tussi, ehe sie mich mit einem Ausdruck ansieht, als wäre ich vor ihr in einen Hundehaufen getreten.
„Das ist echt widerlich“, meint sie schlussendlich, was witzig ist, weil sie sich in ihrer heutigen Aufmache kaum von den Nutten unterscheidet, die ich so vögele.
Ich zucke mit den Schultern und spieße eine Kartoffel auf. „Ist ja zum Glück nicht dein Problem.“
„Hast du nicht Angst, dass du dir mal was von denen holst?“, fragt Cleo mit einer Prise Abscheu in ihrer Stimme.
„Ich ziehe einen Gummi drüber, wenn du es genau wissen willst.“
„Auch beim Blasen?“
„Müsst ihr das jetzt ausdiskutieren?“, schaltet sich Hoku ein und lässt dabei seine Gabel genervt auf den Tisch fallen.
„Nein, beim Blasen mag ich es pur“, beantworte ich Cleo‘s Frage und genieße es, wie die Frau daraufhin zusammen zuckt. Sie fängt sich aber schnell wieder. „Wie wäre es, wenn du dir mal eine Freundin zulegst?“
„Wie wäre es, wenn du uns erzählst, was es für Neuigkeiten gibt, Schatz?“, drängt Hoku und klingt dabei so zuckersüß wie flüssiger Honig. Seine rechte Hand greift nach der Serviette und dann wird der Mund damit abgeputzt.
Cleo gibt ein schnalzendes Geräusch von sich, ehe sie ihre Tasche unter dem Tisch hervorholt, um an ihr Handy zu kommen. Sie legt es so provokativ neben ihrem Teller ab, dass man meinen könnte, bei dem Handy handele es sich um eine Bombe, die jederzeit hochgehen könnte. Keine Bombe im wortwörtlichen Sinne, aber ich bekomme ein flaues Gefühl in der Magengegend und es liegt nicht am Essen. Es liegt vielmehr am Ausdruck auf Cleo‘s Gesicht. Er ist noch biestiger als üblich. Ich frage mich wirklich, wie es Hoku mit der Kratzbürste so lange ausgehalten hat und offenbar fragt er sich in diesem Moment genau dasselbe, weil auch in seine Mimik ist ein Schatten eingekehrt.
„Tütchen und Stengel haben einen Privatdetektiv angeheuert, weil die Polizei unfähig und Rachel schon über zwei Jahre verschwunden ist. Die behaupten immer noch, sie hätten keine Spur und jetzt werden wir halt selbst aktiv.“
Cleo nennt ihre Eltern nie bei ihrem richtigen Namen und sagt auch nie Mama und Papa zu ihnen. Immer nur Tütchen und Stengel. Tütchen zu ihrer Mutter, weil sie alle Lebensmittel in Tütchen verpackt und Stengel zu ihrem Vater, weil er diesen Tick mit diesen Holz-Zahnstochern hat. Er kaut so oft auf einem rum oder hat einen in seinem Mund stecken.
Aber viel wichtiger ist diese Aussage mit dem Privatdetektiv und unsere Reaktionen darauf. Hoku schnappt sich, ganz vorbildlich, die Hand von Cleo und hält sie sich vor die Brust. „Das ist doch wunderbar, Schatz!“, sülzt er und kommt mir dabei vor wie ein Promi, der sich entweder bei einem einschleimen oder einem was andrehen will.
Ich hingegen denke wieder an diesen Kuss und ich bin mir todsicher, dass man mir auch ansieht, wie sehr mich die Neuigkeiten aus der Bahn werfen. Ist da zuvor noch Farbe in meinem Gesicht gewesen, ist sie vermutlich jetzt der Blässe gewichen.
„Alles in Ordnung bei dir?“, erkundigt sich Cleo bei mir, wahrscheinlich habe ich die Hälfte der Diskussion nicht mehr mitbekommen, weil ich damit beschäftigt gewesen bin, an Ort und Stelle festzufrieren. Ja, normalerweise bin ich der, der seine Emotionen gut verbergen kann. Doch jetzt denke ich nur daran, dass wir Rachel loswerden müssen und daran, dass es in den zwei Jahren nie vorgekommen ist, dass einer ihrer Fans und Follower sich persönlich mit ihr treffen wollte. Entweder ich bin paranoid und sehe Gespenster, wo keine sind, oder bei diesem Salzig69 handelt es sich womöglich um diesen Detektiv, von dem Cleo uns gerade erzählt hat. Das würde die schrecklich hohe Summe erklären, die Rachel‘s Entjungferung ihm wert ist. Mit etwas locken, um die Maus in die Falle zu bekommen. Schlauer Schachzug, verdammt schlauer Schachzug sogar.
„Nael?“, Hoku fuchtelt mit seinen Händen über meinem Teller herum. Ich verfrachte seine Hände von mir weg und nutze die Gelegenheit, meinen Emotionen freien Lauf zu lassen und auf die Tränendrüse zu drücken, obwohl ich mich sonst immer unnahbar und kühl gebe.
„Tut mir leid“, beginne ich und fingere an meiner Serviette herum. „Hat einen wunden Punkt getroffen.“
Ich sehe Hoku an, dass er die Welt nicht mehr versteht und auch Cleo neben ihm ist mehr als verwirrt über meine plötzliche Herumflennerei. „Einen wunden Punkt?“, stachelt sie in der Wunde herum, die keine ist. Wäre da aber wirklich was, was noch offen ist und weh tut, hätte sie mit dieser plumpen Frage mehr Schaden als Heilung angerichtet.
Ich drehe mich dramatisch vom Tisch weg und stehe auf. „Es ist nur so, dass wir unseren Eltern scheissegal gewesen sind und keiner jemals nach uns gesucht hat.“
Mit diesen Worten verziehe ich mich ins Bad und lasse Hoku alleine mit dem Chaos zurück, das ich mit diesem Geständnis hinterlassen habe. Schließlich reden wir nie mit irgendjemanden über unsere Vergangenheit und bei so einer wie Cleo, die alles mit der Welt teilen muss, ist sie nicht gut aufgehoben.
Im Bad angekommen, verfrachte ich meinen Po auf den Klodeckel und gebe mir fünf Minuten Zeit, mein Gesicht in meinen Händen zu vergraben. Ja. Ich bin ganz eindeutig paranoid und sehe Zusammenhänge, die vermutlich gar nicht da sind. Ob die Lady jemals in so einer Situation gewesen ist? Wohl kaum.
Mein Blick fällt auf den Badezimmerspiegel über dem Waschbecken und ich erinnere mich daran, wie Cleo bei ihrer Ankunft im Bad verschwunden ist. Was sie immer tut - Frauen sind so. Kommen sie irgendwo an, gehen sie erstmal auf die Toilette. Das ist nichts Ungewöhnliches. Trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen, den Spiegel auf Abhörwanzen zu durchsuchen. Unser Bad ist sehr clean. Es hat Ähnlichkeiten mit einem Bad aus einem Hotel. Weiß gefliest, Dusche, Toilette, Waschbecken. Zwei Gläser für Zahnbürsten und ein Spiegelschrank, hinter dem man Rasierer und Co. verstecken kann. Ich suche die Ecken und Kanten ab, alle Oberflächen, die vor Wasser geschützt sind und gerade als ich mich abwenden will, entdecke ich sie. Mikroskopisch klein und unter dem Spiegelschrank angebracht, so dass man sich bücken muss, um sie zu finden.
Mein Fund beruhigt und beunruhigt mich gleichermaßen. Offenbar zählen Hoku und ich zu den Verdächtigen, was nicht verwunderlich ist - wir haben das vor zwei Jahren schon einmal durchgestanden. Die Täter werden schließlich immer zuerst im engen Umkreis der Familie gesucht und vermutet. Andererseits, jetzt, wo ich von der Wanze weiß, kann ich sie nutzen, um Hoku und mich aus der Gefahrenzone zu bugsieren, wir müssen nur ein bisschen bluffen und ein paar gute Tonaufnahmen liefern - denn was Cleo nicht weiß, ist, dass unsere Alibi-Wohnung tatsächlich nur zum Alibi ist. Rachel befindet sich ganz woanders.