Schmutziger Oktober - Art
Vor zwei Jahren, zehn Tage vor der Entführung
„Nael?“
„Hm?“
„Mir ist etwas aufgefallen“, Hoku sieht mich an, besser gesagt, ich spüre seinen Blick auf mir. Wir liegen zusammen im Bett. Ich starre an die Decke. Der Fernseher läuft im Hintergrund.
„Dein Plan. Er ist zwar gut, aber er hat einen Haken“, beginnt Hoku und ich weiß, was gleich kommen wird, denn ich weiß, wo der Haken ist. Wo die Schwachpunkte in meinem Plan liegen.
„Du benutzt in Rachel‘s Gegenwart eine Maske, einen schwarzen und gepolsterten Einteiler sowie einen Stimmenverzerrer. Die Kameras im Raum zeichnen nur Bild auf, keinen Ton. Und ja, ich weiß, dass Rachel mich erkennen wird, wenn ich ihr mein Gesicht offenbare. Sie wird wissen, wer ich bin, weil sie mich in der Nachbarschaft bereits umherfahren gesehen hat und sie wird mich als deinen Bruder identifizieren, weil alle denken, wir wären Brüder. Sie wird auch annehmen, dass du dann mein Komplize bist und wir sie beide zusammen entführt und eingesperrt haben. Das ist naheliegend“, sage ich und muss grinsen, weil Hoku den Haken endlich gefunden hat.
„Es wäre also besser, wenn du auch eine Maske trägst und diesen Stimmenverzerrer benutzt“, klugscheisst Hoku und stupst mich von der Seite an. Ich drehe mich zu ihm um.
„Du hast ein weiteres Detail vergessen“, necke ich ihn und mag es, wie seine Sommersprossen im dämmrigen Licht sein Gesicht dunkel färben. Ja, es ist zwar immer noch bleich, aber es liegt nun etwas Düsteres in seinen Zügen.
„Was habe ich vergessen?“, fragt er nach und grinst ebenso, als wäre mein Grinsen ansteckend.
„Unsere Akte. Wenn die Polizei dich unter die Lupe nimmt, weil du mit Cleo etwas am Laufen hast, werden sie womöglich auf unsere Akte stoßen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob diese bei so einem Fall verschlüsselt bleiben wird oder eingesehen werden kann, weil wir zu dem Zeitpunkt, als das Spiel lief, noch minderjährig waren. Aber falls sie Zugriff auf die Akte haben sollten, könnte uns das eventuell verdächtig und zur Zielscheibe machen. Und über dich kommen sie auf mich.“
Hoku‘s Ausdruck verändert sich, das Grinsen verschwindet und weicht der Verwirrung. „Worauf willst du hinaus, Nael?“
„Ich pokere, Hoku. Sollten sie uns wirklich aufgrund unserer Akte auf dem Radar haben und nicht mehr locker lassen wollen, bringt mir eine Maske und ein Stimmenverzerrer auch nichts mehr. Verstehst du?“
„Verstehe ich“, meint Hoku, sieht aber unzufrieden mit dem Ergebnis aus. „Warum trage ich dann eine Maske?“
„Sollten die Bullen uns nicht erwischen, will ich Rachel die Illusion geben, dass sie freikommen wird, sobald wir unser Ziel erreicht haben. Und solange du eine Maske trägst, steht für sie die Chance 50/50, dass an dieser Aussage eventuell etwas dran sein könnte, weil du dein Gesicht vor ihr vermummst. Vielleicht hält sie uns auch für dümmer, als wir sind. Sie wird sich jedenfalls fragen, warum du diese Maske trägst und den Stimmenverzerrer benutzt und ich nicht. Außerdem…“, ich halte einen Finger in die Höhe. „Sollte die Polizei uns nach geraumer Zeit doch noch drankriegen, wird man dich auf der Kameraaufnahme mit deiner Vermummung nicht erkennen. Ja, klar, sie können spekulieren, dass du mir geholfen hast, aber ohne einen belastenden Beweis können sie dir nichts anhängen. Wir sollten generell darauf achten, dass Rachel uns nie zusammen in einem Raum sieht. So könnte ich immer noch sagen, ich hätte das Ding alleine durchgezogen und mir einfach eine Persönlichkeitsstörung aus dem Ärmel schütteln. Und damit diese Alternative funktioniert, trage ich hin und wieder auch eine Maske und einen Einteiler, einfach um Spuren zu hinterlassen, die bei einer Hausdurchsuchung auf mich als Einzeltäter schließen könnten.“
„Eine Frage brennt mir noch auf der Zunge“, Hoku sieht mich ernst an. „Lassen wir Rachel wirklich frei, wenn wir die Kohle haben oder legen wir sie um?“
Ich seufze und drehe mich wieder auf den Rücken. „Es gibt viele Arten von Freiheit, Hoku. Der Tod kann befreiend sein. Aus einem Verlies entlassen zu werden, kann befreiend sein. Wir lassen Rachel auf jeden Fall frei. Bloß steht in den Sternen, wie das geschehen wird. Entweder wir bringen sie um oder wir verkaufen sie weiter. Wir können tun, was auch immer uns beliebt. Freiheit ist relativ, es geht vielmehr um Hoffnung, denn diese stirbt bekanntlich zuletzt.“