Schmutziger Oktober - Adler
Im Jetzt
„Jetzt wirf dich endlich wie ein Adler im Sturzflug auf dieses Mädchen und pick‘ ihr die verdammten Augen aus!“, erklingt eine Stimme im Kopf. Doch ich kann nicht anders, als meiner Kinnlade beim unsanften Aufprall auf den Boden zuzugucken und an Hoku zu denken. An unseren Kuss. Damals vor vielen Jahren, als er das Haus angezündet und das Spiel für uns gewonnen hat. Ein Spiel, bei dem man eigentlich nur verlieren kann.
Es war mein erster und letzter Kuss gewesen und ich weiß noch, wie er war und wie geschmeckt hat. Salzig, weil wir geweint haben. Bitter, weil das Spiel endlich vorbei war. Rauchig, weil die Spielleiter gebrannt haben.
Prompt bin ich nervös und da ist etwas in meiner Brust, das weh tut und sich windet. Auch meine Kehle fühlt sich trocken an und der Drang, wegzulaufen, ist immens. Nicht wegen dem Lauf der Knarre, der auf mich gerichtet ist. Es liegt vielmehr an der Vergangenheit, die über mich drüber rollt.
„Nael“, Rachel’s Stimme klingt verzweifelt und dennoch fordernd, als wolle sie diesen Kuss so unbedingt haben. Es wäre an der Zeit, sich zusammen zu reißen und den alten Nael rauszukramen. Der Nael, der immer ein fieses Lächeln auf den Lippen trägt und die Kontrolle hat. Eigentlich ist es ja stumpfsinnig von Rachel, dass sie einen Kuss von ihrem Entführer haben will und auf die Freiheit verzichtet. Vielleicht hat Hoku recht und sie hat das, was man aus Filmen, Büchern und Berichten kennt. Dieses Stockholmsyndrom.
„Willst du nicht lieber von hier abhauen?“, frage ich das Mädchen. Sie schüttelt den Kopf.
„Ich komme hier doch sowieso nicht raus. Ich will nur diesen einen Kuss, Nael. Nur einen einzigen blöden Kuss, um zu wissen, wie es sich anfühlt.“
Kluges Mädchen und gleichzeitig ein naives und dummes Mädchen.
„Okay, ich komme nun näher und küsse dich und dann gibst du mir die zurück“, ich verweise mit meinem Kinn auf die Knarre, die Hände immer noch vor meinem Brustkorb haltend.
Rachel nickt und senkt die Waffe. Ich nehme die Hände runter und schleiche die drei Schritte auf das Mädchen zu. Als ich mich vorsichtig auf die Bettkante setze, spüre ich die Mündung der Knarre auf meiner Brust. Es wäre einfach, die Waffe aus Rachel’s zittrigen Händen zu schlagen, aber ich will nichts riskieren. Es ist schließlich nur ein blöder, belangloser Kuss.
„Bereit?“, frage ich und erhalte wieder ein Nicken von Rachel, die Rotz und Wasser heult. Aus irgendeinem Grund nicke ich nun auch - dann führe ich meine Hände zu ihrem Gesicht und lehne mich vor. Mein Herz spielt verrückt und nicht nur das, ich bilde mir auch ein, Rauch zu riechen und Feuer und Schreie zu hören. Und ehe ich mich versehe, fühle ich wie damals warme Lippen auf meinen und der Geschmack ist derselbe. Genau so wie ich ihn in Erinnerung habe.