Rubinrot - 4

10 Uhr

“Einmal Arme freimachen, bitte”, fordert mich Henry sanft auf und sieht mich dabei mit diesem Komm-schon-Kumpel-Blick an, mit dem er mich so gut wie immer dazu bringt, nach seiner Pfeife zu tanzen. Henry ist einer dieser Pfleger, bei dem man sich automatisch wohl fühlt, was vermutlich daran liegt, dass er unbewusst oder bewusst diese herzerwärmende Ich-liebe-meinen-Job-Aura ausstrahlt, die in einem Verrückten, wie ich es einer bin, das Bedürfnis auslöst, sich weniger anstrengend und angenehmer als üblich zu verhalten. Was soviel heißt wie: Ruhig sitzen bleiben und die Klappe halten, um ein Beispiel zu nennen. Oder halt eben wie verlangt die Arme frei zu machen und den schwer arbeitenden Mann seine Arbeit machen zu lassen. Also krempele ich kommentarlos die Ärmel meines Pullovers hoch und schaue Henry zu, wie er meinen Blutdruck misst. Als das erledigt ist und er ein Kreuzchen auf seinem Block bei Blutdruck total normal hinkritzelt, komme ich nicht drumherum, doch noch einen blöden Kommentar von mir zu geben.
“Beruhigend, dass zumindest mein Blutdruck normal ist”, witzle ich und manövriere den Ärmel zurück über meinen Arm.
“Haha”, erwidert Henry und seiner Stimme kann ich entnehmen, dass er meinen Kommentar nicht einmal ansatzweise so witzig findet wie ich. Ein paar weitere Alles-im-Normalbereich-Kreuzchen folgen, dann beobachte ich Henry dabei, wie er meine Zauber-Pillenbox einmal prüfend unter die Lupe nimmt und beginnt, die noch übrigen Pillen akribisch genau abzuzählen, um die Box anschließend mit neuen Pillen zu bestücken respektive Pillen nachzufüllen. Als er damit fertig ist, macht er einen Vermerk in seinem Block und tippt anschließend ein einige Male, also fünf Mal, ich habe mitgezählt, mit seinem Kugelschreiber auf das Papier, ehe er seinen Fokus vom Block auf mich richtet und mich so nachdenklich ansieht, als wäre ich ein Rätsel, das es zu lösen gilt. “Du hast mehr Pillen als üblich genommen”, merkt er mahnend an. Als von mir nichts kommt, schließlich bin ich mir der Tatsache sehr wohl bewusst, streckt er eine Hand nach meiner Schulter aus und stellt die alles vernichtende Frage, auf die alle Verrückten allergisch reagieren. “Sicher, dass alles in Ordnung bei dir ist?”
Henrys durchdringender Blick trifft mich wie eine Kugel, die aus nächster Nähe abgefeuert wird und für einen kurzen Moment bin ich überrascht, dass ich nicht nach hinten geschleudert werde und mit dem Wohnzimmerschrank kollidiere, der sich hinter mir befindet und keine Chance hätte, einem fliegenden Wahnsinnigen auszuweichen.
Ich verdränge den Gedanken und setze mein überzeugendstes Maik-reiss-dich-jetzt-
bloß-am-Riemen-Lächeln auf, denn ein Lächeln löst alle Probleme in Luft auf.
“Ja, mir geht es gut. Wirklich.”
“Sicher? Wenn du so weitermachst dann….”
“Ja sicher”, falle ich Henry ungeniert ins Wort, so gar nicht heiß darauf zu erfahren, was passieren könnte, wenn ich mit meinem Konsum so verfahre wie gestern und heute. “Ich habe nur ein paar Pillen extra genommen, weil ich ein bisschen durch den Wind war wegen Sandro, der ja jetzt Sandy genannt werden möchte und nun auch vor mir wie ein Mädchen herumläuft. Das war alles ein bisschen viel auf einmal.” Ich bemühe mich das Lächeln aufrechtzuerhalten und fühle mich etwas schäbig, dass ich meinem Bruder respektive meiner Schwester den schwarzen Peter zu schiebe. Harte Zeiten erfordern harte Mittel und Henry die Wahrheit zu gestehen, würde mir ein One-Way-Ticket zurück in die Anstalt bescheren. Da war ich erst, da will ich nicht so schnell wieder hin.
“Verstehe. Wir müssen das unbedingt im Auge behalten. Wenn es dir zu viel hier wird, musst du dich melden. Vier Pillen von denen..“, er zeigt mit seiner Kugelschreiber-Hand auf die Pillen, „..pro Tag sind das Maximum, Maik. Die können abhängig machen.” Henry klopft mir fürsorglich auf die Schulter, dann widmet er sich seinem Block und kritzelt noch ein paar Buchstaben auf vorgedruckte Linien. “Und sonst?” Der Pfleger hebt den Kopf und sieht mich zum zweiten Mal mit diesem durchdringenden Blick an. “Irgendwelche Erscheinungen gesehen, seit du hier bist?”
Ich schüttle mit dem Kopf.
“Und was ist mit deinen Träumen?”
“Alles ganz normal.”
Während sich Henry weitere Notizen macht, frage ich mich, ob es auch Kliniken gibt, in denen Patienten wirklich geholfen wird oder ob es lediglich nur die Kliniken gibt, in denen Patienten beigebracht wird, wie man diesen alles verschlingenden, Persönlichkeit fressenden Wahnsinn möglichst gut zu verstecken vermag oder zumindest einigermaßen mit dem Wahnsinn zu leben lernt, ohne dass andere merken, dass man  total irre in der Birne ist. An so etwas wie Heilung glaube ich, nach sieben Jahren Heilanstalt, nicht mehr. Das ist so ähnlich wie damals, als man als Kind noch an den Osterhasen oder den Weihnachtsmann geglaubt und irgendwann bemerkt hat, dass man von den eigenen Eltern damit schlichtweg aufs Kreuz gelegt worden ist. Das aufs-Kreuz-gelegt-werden war einem aber schlussendlich egal, weil es immerhin an Ostern sowie Weihnachten schmerzstillende und besänftigende Geschenke gab, an denen man sich erfreuen durfte. Und absolut jeder mag Geschenke. Also war der Brauch auch dann weitergeführt worden, als der Vorhang bereits gefallen war, weil er sich zu einer jährlichen Routine etabliert hatte. So oder so ähnlich ist es auch bei Anstalten, bloß gibt es dort keine Geschenke, sondern Pillen. Haufenweise Pillen, die man nimmt, weil sie einem versprechen, dass man davon gesund wird, dabei unterdrücken sie lediglich die Symptome und bekämpfen nicht die Ursache. Die Ursache versucht man mit tiefsinnigen Gesprächen zu behandeln, aber irgendwann wird man schlichtweg müde vom Zuhören und Reden und wenn man diesen Punkt erreicht hat, verfällt man in ein zustimmendes und trostloses Nicken. Ein Akzeptieren des unausweichlichen und unbezwingbaren Zustands oder einfach ausgedrückt: friedvolle Resignation.