Nero, der Alpha - 11

Nero, der Alpha 19. Jan. 2022

Ehe ich dazu komme eine Entscheidung zu fällen, vernehme ich ein lautes und schrilles Jaulen. Ich erkenne es als das von Drae wieder. Mit Anlauf kommt sie aus dem Flur geschossen und stürzt sich wie ein Adler im Sturzflug auf Neros Kontrahentin. Sie verbeisst sich in den Unterschenkel der Frau. Diese heult vor Schmerz auf.

“Du verdammtes Mistvieh”, flucht sie laut und versucht im selben Atemzug Nero von sich runter zu schütteln und sich gleichzeitig von Drae’s Biss zu befreien. Zwecklos. Drae’s Angriff rüttelt Nero wach. Seine Hände schlingen sich um die Kehle der Frau, drücken zu. Sie klammert sich mit ihren Händen an seinen Handgelenken fest. Presst ihre Fingernägel in sein Fleisch. Ihre Augen treten ungläubig hervor. Der Mund ist geöffnet und schnappt verzweifelt nach Luft. Ihre selbstbewusste Fassade bröckelt innerhalb eines Sekundenbruchteils. Irgendetwas muss sich an Neros Mimik verändert haben, denn plötzlich sehe ich pure Angst in ihren Gesichtszügen widerspiegeln. Das ist der Moment, in dem sich Farg ebenfalls aufrappelt und zusammen mit Kyr und Zor auf die Frau losgeht. Zusammen zerren und rupfen sie an ihrem Opfer, Blut sammelt sich auf dem roten Latexanzug und tränkt ihn dunkelrot.
“16, hast du den Verstand verloren?! Du bringst die Schlampe noch um!”, höre ich eine Männerstimme aus der Ferne rufen. Schritte nähern sich und dann erscheint ein grossgewachsener Mann in der Türspalte. Zwei weitere Männer und eine Frau tauchen ebenfalls auf. Schockiert starren alle auf das Geschehen vor ihnen.
“Alter scheisse, pfeif deine Köter zurück.” Einer der anderen zwei Männer, blonde kurze Haare, etwas klein, mit bodenlangem Mantel, berührt Nero an der Schulter. Farg will direkt auf ihn losgehen, aber der Mann zückt ein Messer und hält es demonstrativ vor sich. “Ein Schritt näher und ich murks dich ab, Vieh!”, kläfft der Mann den Hund an. Zu meiner Verwunderung hält Farg kurz inne und fletscht lediglich die blutüberströmten Zähne. Der Mann, der mindestens dreimal so breit ist wie Nero, eine Goldkette um den Hals trägt und eine Glatze hat, holt eine Pistole aus dem Holster an seinem zur Goldkette passenden Gürtel und zielt damit auf Neros Kopf.
“Zwing mich nicht, dich abzuknallen, Kumpel”, droht der Mann. Nero reagiert nicht, er ist wie in Rage. “10, 9, 8….”, der Mann leitet einen Countdown ein. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Sie können Nero doch nicht einfach erschießen.
“Sie hat angefangen”, brülle ich in meiner Verzweiflung und ernte ein paar überraschte Blicke. Die Frau, die mit den Männern zur Hilfe herbeigeeilt gekommen ist, löst sich von der Gruppe und kommt auf mich zu. Feuerrote Haare fallen ihr in Wellen über den Rücken. Sie trägt eine schwarze Robe und hält eine Peitsche in ihrer Hand. Ihr Gesichtsausdruck ist genauso emotionslos, wie der von Nero, als noch alles in Ordnung war. In Ordnung. Wie abstrakt sich das anhört. Von Anfang an war nichts in Ordnung. Bevor die Frau mich erreichen kann, springt Tuga schützend vor mich und knurrt sie an.
“Sie hat Ignar beinahe umgebracht”, wimmere ich leise und zeige mit zittrigen Händen auf den immer noch leidenden Hund vor mir. “Nero hat nichts gemacht bis sie… bis sie…”, meine Stimme bricht und der Tränenschleier vernebelt meine Sicht.
“Wie viele Tage hast du noch, Süße?” fragt mich die Frau und baut sich trotz Tuga’s warnendem Knurren vor mir auf. Die Peitsche fest in der Hand.
“Was?”, fiepe ich und ein ungutes Gefühl keimt in mir auf. Ich will an ihr vorbeischauen zu Nero, aber sie versperrt mir die Sicht. “Wie viele Tage?”, wiederholt sie energischer. “17 Tage”, antworte ich widerwillig. Ein Schuss löst sich.

Prompt wird mir schlecht. Meine Ohren klingeln und fühlen sich gleichzeitig so an, als hätte sie jemand mit Watte ausgestopft. Die Frau vor mir wirft einen Blick nach hinten. Ich nutze die Gelegenheit und hechte zur Seite um ebenfalls einen Blick auf Nero zu werfen. Er lebt. Gott sei Dank, er lebt. Der Schuss ging ins Leere. Die Kugel wurde auf den Boden abgefeuert. Eine Warnung und sie hat Wirkung gezeigt. Neros Arme baumeln an seinem Körper herunter, die Hände umklammern nicht mehr die Kehle der Latex-Frau. Diese scheint aber das Bewusstsein verloren zu haben. Entweder das, oder Nero hat sie tatsächlich umgebracht. Selbst die Hunde haben von der Frau abgelassen und ziehen sich widerwillig und laut knurrend zurück. Besonders Farg wirkt so, als hätte er absolut keine Lust, den Schwanz einzuziehen und klein beizugeben. Die Knarre ist noch immer auf Neros Kopf gerichtet. „Eine falsche Bewegung und ich knalle jeden einzelnen von deinen Lieblingen ab“, droht der Mann mit der Waffe und seinem Tonfall kann ich entnehmen, dass er die Drohung verdammt ernst meint.

„Ist die Schlampe tot?“, fragt der kleinere Mann mit den blonden Haaren. Das Grinsen in seinem Gesicht ist total widersprüchlich zu der Situation, in der wir uns befinden. Den Kerl wirkt sichtlich amüsiert, als hätte er gerade den Spaß seines Lebens. Lediglich der andere riesige Mann macht den Anschein, als würde er sich wirklich Sorgen machen um das Wohlbefinden der Frau. „Zweimal an einem Tag. Erst 27 und jetzt 14.“

14? Ist das die Frau von Tür 14 oder hat sich der Mann bei der Nummer geirrt und wollte eigentlich 16 sagen?

„Wolfsjunge, du hast ganz schön verkackt, erst die Flaute bei der Show und mit dieser Aktion hast du dem Fass den Boden komplett ausgeschlagen. Sauber. Echt sauber“, zieht der Blonde Nero auf und fährt sich durch die kurzen Haare.

„Lass den Scheiss, 17. Geh mir lieber zur Hand“, schnaubt der Kerl mit der Knarre, bückt sich und zieht am rechten Arm von der Frau auf dem Boden. „Die Schlampe interessiert mich nicht, geschieht ihr ganz recht“, blafft der Blonde zurück und zuckt mit der Schulter. „Na dann halt wenigstens die Knarre.“ Der Mann drückt 17 die Knarre in die Hand und schnappt sich den zweiten Arm der Frau. „Rutsch runter, 16“, fordert er Nero auf und Nero kommt der Forderung halbwegs nach, was so viel bedeutet, dass er kurz sein Becken anhebt und dem Mann die Gelegenheit gibt, die Frau unter ihm hervor zu ziehen. Sie zieht eine Blutspur hinter sich her und irgendwie erinnert mich die Kulisse an einen Low-Budget-Horrorfilm. Der abscheuliche Zwinger im Hintergrund, das viele Blut, die bösen wolfsähnlichen Hunde und eine halbnackte, total schlimm zugerichtete Frau, die von einem Mann über den Boden geschleift wird.

„Was macht ihr mit ihr?“, erkundigt sich die Frau in der schwarzen Robe. „Na was wohl, gucken, was sich noch retten lässt. Der Junge kann wohl nicht ficken, aber wenn ich mir die so angucke, dann hat er zumindest Schaden anrichten echt drauf.“ Der Mann stöhnt auf und wirft sich die regungslose Frau wie einen Jutesack über die Schulter. „Keine Sorge, Kleiner. Das mit dem Ficken kriegst du auch noch hin.“ Der Typ lacht laut und verschwindet mit der Frau über der Schulter aus der Tür.

Mein Blick huscht zurück zu Nero, der noch immer auf dem Boden kauert. Sein Gesicht ist knallrot und er atmet schwer. Der Brustkorb hebt und senkt sich in einem unnormal schnellen Tempo.

„Tja, eins muss man dir lassen, hätte deine kleine Bitch da hinten dich in der Show nicht knallhart erwischt, wäre uns das wohl nie aufgefallen. Ich hab mich zwar schon gefragt, warum du nie selbst eine flachlegst, aber ehrlich gesagt, wäre ich nie auf den Trichter gekommen, dass du noch nie eine flachgelegt hast. Dachte du wärst schwul oder du fickst mit deinen Kötern. Fickst du eigentlich deine Köter? So richtig Doggy und so?“ 17 fuchtelt grinsend mit der Knarre vor Neros Nase herum. Dieser erwidert absolut nichts darauf.

„Melden wir das?“, schaltet sich die Frau wieder ein. Ihre kühle Art erinnert mich so sehr an die von Nero, bevor er die Kontrolle verloren hat. Als hätte sie bemerkt, dass ich sie ansehe, dreht sie sich zu mir um und funkelt mich mit ihren smaragdgrünen Augen an. Ich zucke zusammen und als Tuga’s Pelz mich streift direkt noch einmal. Wieder stellt sich der Hund schützend an meine Seite und knurrt die Frau an. Ich bin überrascht, dass der Hund mich plötzlich verteidigt. Tuga und Ignar hat Nero selten eingesetzt, lediglich ein paar Mal zum bewachen. Kyr war stets der Hund gewesen, den Nero andauernd in meiner Nähe gelassen hat. Zumindest bis heute.

„Wozu, 16 hat sich selbst ins Knie gefickt. So schnell kann’s gehen. Da ist man ganz oben. Aber von ganzen oben ist der Fall ganz schön tief, wa?“ 17 formt mit der Knarre eine Welle und klopft dann mit der Mündung gegen Neros Schläfe. Nero wehrt sich nicht und lässt es zu.

„Außer du brauchst ein neues Spielzeug, Schnucki. Ist doch ganz hübsch, der Kleine.“ Der blonde Mann wirft der Frau einen Blick zu und hebt fragend eine Augenbraue in die Höhe. Es ist absurd, dass der viel kleinere Mann, den hochgewachsenen Mann zu seinen Füßen, als Kleiner betitelt. Wahrscheinlich spielt er auf Neros Alter an. Ich habe keine Ahnung, wie alt Nero ist. Er ist wesentlich älter als ich, aber definitiv jünger als der Mann mit der Nummer 17. Wahrscheinlich ist er irgendetwas dazwischen. Anfangs dreißig, vielleicht jünger, vielleicht älter. Aber garantiert nicht klein.

„Es wäre eine Überlegung wert“, erwidert die Frau und sieht statt zu Nero wieder zu mir. „Du bist hübsch, weißt du das? Kein Wunder, hast du 16 so den Kopf verdreht.“

Ein leises „Was?“ verlässt ungewollt meinen Mund. Ich habe was? Nero den Kopf verdreht? Was meint sie damit? Ich habe Nero doch nicht den...

„Süß wie rot sie wird.“ Ein winzig kleines Lächeln schleicht sich ihr Gesicht, das sogleich wieder verschwindet, als wäre es nie dort gewesen. „Kommst du mit mir mit?“ Die Frage kommt überraschend, genauso überraschend wie Nero, der aufspringt und mit einem gezielten Hieb, den blonden Mann entwaffnet. Die Knarre wechselt abrupt den Besitzer und auch das Messer findet einen neuen Meister. 17‘s Kinnlade klappt nach unten und ehe er überhaupt ganz realisieren kann, was soeben passiert ist, schmust seine Schläfe nun mit der Mündung der Knarre.

„Zehn“, startet Nero und leitet wie zuvor der andere Meister mit der Goldkette einen Countdown ein. Die gewohnte Eiseskälte ist in Nero’s Stimme zurückgekehrt. Auf die Zehn folgt direkt die Zahl neun.

„Sag mal, geht’s noch?!“, meldet sich der dritte Mann zu Wort, der bisher kaum irgendetwas gesagt hat. Er ist genauso groß wie Nero, genauso athletisch gebaut, aber im Gegensatz zu Nero wirkt er wesentlich unbeholfener. Zumindest macht es den Anschein, als wäre er nicht so eiskalt und abgebrüht, wie alle anderen. Er ist der Einzige, der seinen Emotionen freien Lauf lässt.

Nero führt den Countdown unberührt fort.

„Ey, schon gut. Ich wollte dir nicht auf den Schlips treten. Frieden! Junge, Frieden. Ich verpiss mich ja schon.“ 17 hält abwehrend die Hände vor sein Gesicht und weicht mit langsamen Schritten zurück. „Raus, alle“, herrscht Nero die anderen an. Tuga weicht nicht von meiner Seite, aber Farg, Zor und Kyr sowie Drae versammeln sich um Nero und fletschen die Zähne. Das Rudel ist wieder vereint. Ich weiß nicht wieso, aber das heimtückische Gefühl von Sicherheit schleicht sich von hinten an mich heran und lässt mich innerlich jubeln. Ich rutsche zurück zu Ignar und schaue zu, wie Nero die drei Eindringlinge Richtung Tür befördert. Keiner von ihnen macht Anstalten sich zu wehren oder Widerstand zu leisten. Als die Tür ins Schloss fällt, sichert Nero die Waffe und legt sie neben der Tür auf dem Boden ab, dann kommt er auf mich zu und geht neben mir in die Knie. Sanft fängt er an Ignar abzutasten und überprüft wie zuvor ich die Atmung des Hundes. Anders als ich öffnet er Ignar den Mund und lässt seine Hand hineingleiten. Der Hund drückt seine Zunge gegen Neros Handfläche und gibt ein klägliches Geräusch von sich. Auch als Nero den Hals abtastet, wimmert der Hund vor Schmerz.

„Es tut mir so leid“, beginne ich und fühle mich elendig. „Das ist alles meine Schuld, ich hätte nicht… ich hätte nicht…“ stammle ich und breche in Tränen aus.

„Nichts davon ist deine Schuld. Es ist meine.“ Nero sieht mich kurz an, widmet sich dann aber wieder Ignar. Er versucht dem Hund auf die Beine zu helfen, doch Ignar schafft es nicht, alleine das Gleichgewicht zu halten.

„Beweg seinen Kopf von links nach rechts. Langsam. Mit Gefühl”, fordert mich Nero auf und schiebt ein kaum hörbares „Bitte“ hinterher. Verwundert über das kleine Wörtchen bitte, dass aus seinem Mund so falsch wie ungewohnt klingt, komme ich seiner Bitte nach. Der Hund jault auf, als ich mit beiden Händen ganz vorsichtig seinen Kopf bewege.

„Hmmm…“, raunt Nero und drückt mit seinen Fingern an Ignars Hals herum.

„Nochmal…. Bitte.“

Erneut dieses ungewohnte Bitte. Obwohl ich mich schrecklich fühle, kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es ist einfach so absurd dieses Wort aus Neros Mund zu hören. Die letzte Stunden waren absurd. Seit Johanna hier ist, ist alles absurd. Ich bewege Ignars Kopf nochmal von rechts nach links, dabei wird mir etwas klar. Es ist, als hätte sich der Nebel gelöst und als könnte ich nun alles ganz klar sehen. Johanna. Sie hat es schon wieder getan. Sie hat einen Meister zu Fall gebracht und sie hat mich dafür benutzt. Sie hat sich bewusst in meinen Kopf eingenistet. Gesagt, was ich tun soll. Das alles war ihre Idee. Als hätte sie es von Anfang an geplant. Neros Schwachstelle. Ich sollte sie finden. Ich sollte ihn zu Fall bringen. Und er ist gefallen. Tief. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag und lässt mich zusammenfahren. Nero entgeht meine Reaktion nicht.

„Bist du verletzt?“, fragt er mich irritiert und mustert mich beinahe schon besorgt. Seine eisblauen Augen scannen mich einmal von oben bis unten. Diesmal liegt keine Kälte in ihnen und auch der Rest von ihm bleibt nicht emotionslos. Im Gegenteil. Er läuft wieder rot an und wendet den Blick ab, als er meinem begegnet.

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