Nero, der Alpha - 5
Allein, hallt es in meinem Kopf wider. Und als ich mich mühsam aufrichte und mich nochmal umblicke, stelle ich verwundert fest, dass wir tatsächlich allein sind. Nicht einmal Kyr steht wache. Kyr steht sonst immer wache. Ich schaudere. Die Tatsache, dass Nero uns unbeaufsichtigt alleine hier zurücklässt, hinterlässt so viele Fragezeichen und überfordert mich komplett, dass es mein erster Impuls ist, Johanna dafür anzuschreien.
„Das ist alles deine Schuld!“, brülle ich und bin selbst schockiert, als ich ihr einen Tritt gegen ihr linkes Bein verpasse und genau die Stelle treffe, die ich zuvor verbunden habe. Johanna verzieht kaum merklich das Gesicht. Wahrscheinlich ist sie sich deutlich schlimmeres gewohnt, aber ich fühle mich trotzdem miserabel.
„Tut mir leid“, entschuldige ich mich und senke beschämt den Blick.
„Dir muss überhaupt nichts leid tun. Der Hurensohn ist an allem schuld.“ Sie wischt sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht und sieht Drae an, die zur Tür schaut, als könnte sie jeden Augenblick aufgehen. Was sie nicht tut.
„Du hättest einfach nur den Test machen müssen, dann wäre rein gar nichts von dem passiert“, sage ich leise mehr zu mir selbst, als zu ihr. Hätte sie den Test gemacht, hätte es keine Konsequenzen gegeben. Andererseits verstehe ich auch nicht, warum Nero einfach gegangen ist. Ich bin 23 Tage hier und zum ersten Mal habe ich das Gefühl komplett verloren zu sein, obwohl ich es nicht bin. Ich habe Johanna. Johanna hat einen Meister abgestochen. Sie ist tough. Sie könnte vielleicht auch Nero in die Knie zwingen. Drae hat sich bereits auf ihre Seite geschlagen. Neros Schwachstelle. ‚Aber du bist freiwillig hier‘, erinnert mich eine Stimme in meinem Kopf. Bin ich das denn wirklich noch? Freiwillig hier? Wie auf Knopfdruck fängt mein Schambereich an zu brennen, zu jucken und automatisch muss ich an das denken, was Kyr mir angetan hat und wie widerlich es gewesen ist und dass Nero es immer wieder passieren lässt, bis ich… bis ich. Ich muss schluchzen, als ich meine Scham mit meinen Händen bedecke, als könnte ich damit alles ungeschehen machen.
„Nicht weinen.“ Johanna rutscht näher zu mir heran und legt eine Hand auf meinen Rücken. „Ssschh, nicht weinen. Du bist stärker als du glaubst.“ Ihr Tonfall ist so sanft wie ihre Finger, die tröstend über meine Haut streicheln.
„Diese Hurensöhne werden uns nicht vernichten. Wir vernichten sie. Hörst du? Zusammen machen wir sie so richtig fertig.“
Weiß die Frau eigentlich, was für einen Unsinn sie redet? Hat sie schon einmal in den Spiegel gesehen? Oder will sie nicht sehen, wie ihr Meister sie zugerichtet hat? ‚Trotzdem bangt er nun um sein Leben und sie ist hier - lebendig‘, flüstert eine weitere Stimme in meinem Kopf. Und sie hat sich Nero widersetzt. Keine Konsequenzen für sie, aber für mich. Nur für mich.
„Du hättest nur einen dämlichen Test machen müssen“, wiederhole ich mich und schüttle ihre Hand von meinem Rücken.
„Das hätte keinen Unterschied gemacht. Er weiß es sowieso“, erwidert sie kühn, dann zeigt sie mit der anderen Hand auf die schneeweiße Hündin. „Sie weiß es. Und sie wird uns beschützen. Und das weiß der Hurensohn, deshalb ist er abgehauen.“ Und wieder schleicht dieses abartige Lächeln auf ihre Gesichtszüge.
„Du bist schwanger?“, schlussfolgere ich und kann mein Erstaunen nicht verbergen. „Von deinem Meister?“ Ungläubig starre ich auf ihren flachen Bauch hinunter, obwohl ich weiß, dass das Blödsinn ist. Wenn sie schwanger ist, kann sie es noch nicht lange sein. Oder? Oder?! Wie lange ist sie schon hier?
„Ich bin schwanger von dem Bastard, den ich abgestochen habe. Und weißt du was? Das Problem werde ich auch noch los, aber bevor es soweit ist, rettet dieses Ding in mir uns den Arsch.“ Sie grinst mich siegessicher an. Der Fakt, dass sie das unschuldige Baby in ihr als Ding bezeichnet hat, lässt mich schlucken. Ich weiß nicht, ob der Aufenthalt hier, sie so abgebrüht werden lassen hat oder ob sie schon immer so gewesen ist, aber ganz egal was auf sie zutrifft, ein Baby, das absolut nichts dafür kann, wie es entstanden ist, als ‚Ding‘ zu bezeichnen, geht einfach überhaupt nicht. Nicht für mich.
„Wie lange bist du schon… hier?“, lenke ich schnell ab und blicke zur Tür. Es sind auch keine Geräusche von draußen zu hören. Es ist so still, dass man nur das Tropfen des Abfluss hört und die Belüftung über unseren Köpfen.
„Keine Ahnung, ich habe irgendwann aufgehört mitzuzählen. Er hat mich 77 mal vergewaltigt. Willst du noch mehr Zahlen hören?“ Johannas Grinsen wird breiter, so breit, dass es mir Angst einjagt. Und obwohl ich mit dem Kopf schüttle, fährt sie ungeniert fort. „Er hat mir drei mal die Nase gebrochen. Mich 81 mal geschlagen. Fünfmal beinahe erwürgt. Viermal mit dem Trichter gefüttert bis ich kotzen musste. Er hat mich 21 mal in die Eiswanne gesteckt und sechs mal verbrüht. Willst du noch mehr Zahlen?“
Wieder schüttle ich mit dem Kopf und wieder wird Johannas Grinsen breiter, so breit, dass ich mich wundere, dass es überhaupt auf ihrem schmalen Gesicht Platz hat.
„Ich spüre meine verdammte Brust nicht mehr, weil der Bastard sie mir über Stunden abgebunden hat!“ Johanna brüllt mich regelrecht an. Aus Reflex ducke ich mich weg und schirme mich mit meinen Händen vor ihr ab.
„Weißt du, wie er es genannt hat? Das, was er mir antut? Spielen. Für ihn war ich nur ein beschissenes Spielzeug. Und dann habe ich herausgefunden, wie ich den Spieß umdrehe und habe ihn zu meinem Spielzeug gemacht. Willst du wissen wie?“
Wieder will ich mit dem Kopf schütteln, halte aber inne und schaue zwischen zwei Fingern hindurch zu ihr hoch.
„Wie?“, frage ich schüchtern nach und plötzlich verliert ihr Grinsen an Substanz.
„Ich habe meine Seele verkauft.“ Sie seufzt.
„Wie meinst du das?“
„Es hat ihm gefallen, dass ich so widerspenstig war. Dass ich mich gewehrt habe. Weißt du, Rika. Den Hurensöhnen hier ist langweilig. Sie langweilen sich ganz fürchterlich. Jeden Tag foltern sie unschuldige Frauen zu ihrer Belustigung und selbst das langweilt sie nach einer Weile, weil es immer dasselbe ist. Also habe ich unser ‚Spiel‘ spannender gemacht. Du musst die Hurensöhne überraschen. Darauf stehen sie. Sie lechzen beinahe schon nach einer Herausforderung. Und willst du wissen, wie ich das Spiel spannender gemacht habe?“
Johanna zieht eine Augenbraue in die Höhe und leckt sich mit ihrer Zunge über die Oberlippe. Keine Ahnung, was sie damit bezwecken will, aber sie hat es geschafft meine Neugier zu wecken.
„Wie?“, frage ich und nehme zögerlich meine Hände vom Gesicht.
„Ich habe ihm angeboten ihm einen Wunsch zu erfüllen, ganz egal welchen, wenn er mir im Gegenzug offen und ehrlich eine Frage über sich beantwortet. Und da ich die ganze Zeit so widerspenstig war und sich im Grunde nie irgendein Mensch für die Wichser hinter den Türen interessiert, also wahrhaftig Interesse zeigt, ist er darauf eingegangen. Erstens, weil ihn diese Wendung überrascht hat und zweitens, weißt du, warum noch, Rika?“
Ich schüttle mit dem Kopf und entlocke Johanna ein Kichern.
„Weil die Hurensöhne im Grunde genommen genauso sind wie du und ich. Sie sind abartig, aber sie sind immer noch Menschen. Sie funktionieren wie Menschen.“
„Das verstehe ich nicht“, sage ich und weiß beim besten Willen nicht worauf sie hinaus will.
„Sie wollen geliebt werden, Rika. Und mein Bastard wollte ganz unbedingt geliebt werden. Glaub mir. Durch unser ‚Spiel‘ habe ich herausgefunden, dass der Hurensohn seine ganze Kindheit im Heim verbracht hat, weil seine Mutter ihn nicht haben wollte. Und rate mal wieso sie den Bastard nicht wollte.“
„Keine Ahnung, warum eine Mutter ihr Kind nicht haben will.“ Wieder fällt mein Blick auf Johannas Bauch und das ‚Ding‘ in ihr tut mir furchtbar leid. So verdammt leid.
„Weil er das Ergebnis einer Vergewaltigung war und sie ihn nicht einmal ansehen konnte, ohne an den Dreckskerl zu denken, der sie in eine Gosse gezerrt und sich an ihr bestialisch vergangen hat. Und willst du die Pointe hören? Seine Mutter war eine gottverdammte Nonne. Kannst du das glauben? Eine verdammte Nonne hat den Bastard in die Welt gesetzt und sein Vater war genauso ein Monster wie er. Die Brut des Bösen. Und weißt du was, Rika? Bevor der Wichser mich auch nur einmal angefasst hat, hat er mir eine Spirale einsetzen lassen und da ist mir ein beschissenes Licht aufgegangen. Der Bastard hat sich zwar unantastbar gegeben, aber die Sache, dass seine Nonnenmutti ihn niemals haben wollte, hat ihn innerlich zerfressen. Das war seine Schwachstelle. Also habe ich mir die Spirale eigenhändig rausgerissen und zugelassen, dass der Hurensohn mich schwängert und sein beschissenes Trauma nochmal durchleben muss. Nur diesmal aus einer anderen Perspektive. Und Rika, plötzlich war der so zahm wie ein Kätzchen. Ist ihm zum Verhängnis geworden.“ Johanna lacht, aber es ist kein fröhliches Lachen. Es ist das traurigste Lachen, was ich jemals gehört habe.
„Wir kommen hier raus, Rika. Ich verspreche es dir.“ Sie streckt eine Hand nach mir aus und obwohl ich nicht will, lege ich meine Hand in ihre. Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um der Frau zu sagen, dass ich freiwillig hier bin und mich selbst blauäugig in diese Lage gebracht habe, aber ich traue mich nicht. Also sage ich einfach nichts und Johanna scheint sich damit zufrieden zu geben.
Da niemand da ist, den ich um Erlaubnis bitten könnte, gebe ich mir einfach selbst die Erlaubnis und dusche den Ekel so gut wie es geht von meinem Körper, auch wenn ich weiss, dass ich ihn nie wieder ganz loswerden werde. Keine Seife der Welt könnte diesen Ekel bekämpfen. Er sitzt tief unter meiner Haut, er hat überall von mir Besitz ergriffen und ich spüre, wie er in jeder Zelle steckt und sich ausbreitet wie eine Seuche. Eigentlich bin ich noch gar nicht so lange hier, trotzdem ist es seltsam, einfach Duschen gehen zu können, ohne darum bitten zu müssen. Das zeigt mir, wie sehr ich mich bereits daran gewöhnt, Nero bei allem um Erlaubnis für alles zu fragen und zu hoffen, er erlaubt es mir. Aber Zeit läuft im Etablissement sowieso ganz anders ab, als in Freiheit. Sie fühlt sich endlos an. Man verbringt die meiste Zeit mit Warten und hat dabei keine Beschäftigung, keine Ablenkung. Das Einzige, woran man sich klammern kann, ist die ständige Angst, die einem permanent fiese Streiche spielt und einen quält. Es ist eine der schlimmsten Arten von Folter. Mein Blick fällt auf Johanna. Sie muss die Folter schon viel länger ertragen als ich und gerade in diesem Moment sieht sie trotz ihrer toughen Art so zerbrechlich aus, wie eine Porzellantasse. Sie hat sich wie selbstverständlich an Drae gekuschelt, vermutlich um sich an ihr aufzuwärmen. Die Hündin lässt es zu und scheint es sogar zu mögen. Die Frage ist nur, wie lange wird Nero das Verhalten von seinem Weibchen dulden und sich ihrem Willen beugen? Wir können uns nicht darauf verlassen, dass das lange anhalten wird. Johanna hat recht, sie muss hier unbedingt raus. Schon nur wegen dem Baby und ich hoffe ich kann sie vorher davon überzeugen, dass das Baby in ihrem Bauch kein Ding ist und das Recht hat zu leben und geliebt zu werden. Scheissegal, was für ein Bastard sein Vater ist und unter welchen Umständen es gezeugt worden ist. Es ist unschuldig. Und es braucht eine Mutter.
Nach der Dusche habe ich mich zu Johanna und Drae gelegt und muss irgendwann eingeschlafen sein. Keine Ahnung, wie lange wir Drei zu einem Knäuel zusammen gekuschelt auf dem Boden verbracht haben, aber ich wache erst auf, als Drae einen Laut von sich gibt und kurz danach die Tür aufschwingt. Etwas verschlafen blicke ich zur Tür. Mein erster Gedanke; ist Nero geschrumpft? Was zum… Momentmal, und ist er etwa nackt? Hektisch reibe ich mir über die Augen, um den restlichen Schlafsand loszuwerden und klar sehen zu können. Aber ich habe mich getäuscht. In der Türschwelle steht definitiv nicht Nero, aber dafür Tuga und Ignar in Begleitung von Tina.Tina ist eine der Frauen, die Nero sonst im roten Zimmer festhält. Ich kenne ihren Namen nur, weil er auf ihrem Halsband steht. Als er mich damals für ein paar Stunden im roten Zimmer eingesperrt hatte, hatte keine Einzige von den anderen Sklavinnen mit mir gesprochen. Keine hatte auch nur ein Wort gesagt. Wie leblose Puppen standen, lagen oder saßen sie da und haben passieren lassen, was in diesem grässlichen Zimmer passiert. Es war so ruhig in dem Zimmer, man hat nur Hecheln und andere Geräusche gehört, die ich lieber ausgeblendet hätte. Ich war festgebunden, alle anderen waren frei und Tina saß direkt neben mir und hat mich angesehen, als Tuga sie…. Ich blende die Erinnerung aus und versuche mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
“Wer ist das?”, flüstert Johanna und legt müde ihr Kinn auf meiner Schulter ab. “Das ist Tina, eine der Frauen aus dem roten Zimmer”, antworte ich ebenso leise und frage mich gleichzeitig, ob Tina ausgebrochen ist. Aber das würde nicht erklären, warum Tuga und Ignar sie begleiten und nicht den Eindruck machen, als wäre irgendetwas nicht in Ordnung, sondern eher als hätten sie alles unter Kontrolle.
“Rotes Zimmer?” Johanna hebt ihren Kopf.
“Da bringt er die Frauen hin, die von anderen Meistern abgegeben werden.” Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, fällt mir auf, dass Johanna eigentlich auch im roten Zimmer untergebracht sein müsste.
“Wie viele hat er dort drin?” Die altbekannte Angriffslust schwingt in Johannas Stimme mit. Irgendetwas sagt mir, dass sie die Frauen aus dem Zimmer ebenfalls retten will.
“Fünf, glaube ich.”
Tina steht immer noch wie eine Salzsäule in der Türschwelle und glotzt uns mit ihren toten Augen an. Ich weiss, dass es falsch ist so zu denken, aber mein Gott ist die gruselig. “Weisst du, was sie von uns will?”Johanna sieht mich fragend an. Ich schüttle mit dem Kopf. “Keine Ahnung, es ist noch nie vorgekommen, dass eine von…”
“Kommt mit”, unterbricht mich Tina. Ihre Stimme ist so schrill wie Kreide, die über eine Tafel kratzt. Johanna und ich zucken, wie bei einem perfekt gesetzten Jumpscare in einem Horrorfilm, gleichzeitig zusammen. Sie fängt sich aber wesentlich schneller als ich. Als sie versucht aufzustehen, verlässt ein gequältes “Aua” ihren Mund und lässt sie direkt wieder zusammenfahren. Ein Blick auf ihre Knöchel reicht, um zu wissen, dass diese Frau garantiert nirgendwohin gehen wird ohne Hilfe. Die Verbände haben sich mit Wasser und Blut vollgesogen und die Knöchel darunter müssen total angeschwollen sein.
“Du musst in ein Krankenhaus”, sage ich ohne nachzudenken und gehe ihr zur Hilfe. Johanna lacht laut auf. “Ich glaube, das ist dem Hurensohn egal. Wäre ihm wohl recht, wenn ich verrecke.”
“Der Meister wartet”, beharrt Tina weiter, als hätte sie keine Augen im Kopf. “Ist mir scheissegal, wenn der Hurensohn was von uns will, soll er doch herkommen”, kläfft Johanna zurück und zeigt der Frau den Stinkefinger. Ich versuche mein Bestes, um sie zu stützen, aber ich bin zu schwach. Zusammen plumpsen wir zurück auf den Boden, während Tina immer noch wie ein Eisblock in der Türschwelle steht und uns angafft, als würden wir hier ein Theaterstück aufführen. Sie könnte helfen und Johanna auf der anderen Seite stützen oder Nero holen, damit er sie, wo auch immer er sie haben will, hintragen könnte. Aber da weder Ersteres noch Letzteres passieren wird, probiere ich es nochmal und schiebe mich ganz unter Johannas Achsel, um ihr auf die Beine zu helfen. Sie schüttelt mich ab.
“Der Schweinehund kann mich mal”, knurrt sie, geht zu Boden und beißt sich auf die Lippe. “Scheisse tut das weh.”
“Das wird Konsequenzen haben.” Tina macht am Absatz kehrt und verschwindet mit Tuga und Ignar aus dem Duschraum. Die Tür knallt zu und der Klang hallt mir so laut um die Ohren, dass mich der Lärm an ein Richterurteil erinnert. Schuldig im Sinne der Anklage und verurteilt zu Konsequenzen.
“Willst du wirklich so werden wie die?” Johanna zeigt auf die Stelle, an der Tina zuvor noch felsenfest gestanden hat und verzieht angewidert das Gesicht. Sie betont das ‘die’ so abfällig, als wäre Tina der Abschaum der Gesellschaft. Ich erwidere nichts darauf. Johanna hat zwar Schlimmes durchgemacht, aber sie war noch nie im roten Zimmer. Sie weiss es einfach nicht besser, sonst würde sie Tina gegenüber nicht so respektlos sein.
Es dauert nicht lange und die schweren Springerstiefel von Nero sind zu hören. Das kann nur eins bedeuten. Der Henker kommt, um die Strafe zu verhängen und da Johanna von Drae beschützt wird, weiß ich, dass ich die Einzige sein werde, die bestraft werden wird. Und obwohl ich nicht so fühlen will, bin ich sauer auf Johanna, die sich mehr Mühe hätte geben können. Erst der Schwangerschaftstest und jetzt hat sie auch noch Tina angefahren und abgelehnt es mindestens nochmal zu versuchen mit dem Aufstehen. Vielleicht hätte Nero ein Auge zugedrückt, wenn er gesehen hätte, dass wir uns bemühen, seinem Befehl gehorsam zu leisten, aber wenn er uns jetzt auf dem Boden sitzend vorfindet, denkt er bestimmt, wir wollen ihm einfach nur trotzen und hätten es gar nicht erst versucht. Er wird wütend sein.
„Warum weinst du schon wieder?“, erkundigt sich Johanna besorgt, doch ehe ich die Tränen wegwischen oder etwas darauf erwidern kann, geht die Tür auf und der Alpha betritt den Raum. Wie jedes Mal wenn ich ihn sehe, stockt mir der Atem. Der emotionslose Blick, seine imposante Erscheinung und die unerklärliche sexuelle Anziehungskraft, die er auf mich ausübt. Er ist wie ein Tier, das jederzeit über mich herfallen könnte, aber sich zügelt. Und er ist nicht alleine. Farg und Kyr begleiten ihn und zu meinem Erstaunen taucht hinter ihm eine Frau auf. Ich kenne sie nicht und sie trägt auch kein Halsband. Nein. Sie ist auch nicht nackt, wie wir anderen. Sie hat einen weißen Kittel an und in ihrer Hand trägt sie einen silbernen Koffer. Eine Ärztin oder es handelt sich um irgendein krankes Spielchen. Irgendeins, um uns zu quälen und zu brechen. Im Augenwinkel nehme ich wahr, wie sich Johanna an Drae klammert. Sie umschlingt die Hündin regelrecht, die sich das von ihr auch gefallen lässt. In diesem Moment merke ich, wie allein und ausgeliefert ich bin. Die beiden haben sich und ich habe absolut niemanden, an den ich mich klammern könnte. Kyr jault, obwohl es diesmal absolut keinen Grund gibt. Trotzdem ziehe ich aus Reflex meine Beine an, um mich dahinter zu verstecken.
„Oh mein Gott.“ Die Frau drängelt sich an Nero vorbei und bringt mit der Aktion Farg zum Knurren. Nero gibt ihm ein Handzeichen und der Hund wird auf Kommando ruhig. „Was ist mit ihr passiert?“ Die Unbekannte zeigt auf Johanna, als wäre sie ein grotesker Gegenstand in einer Vitrine. Der Schock hat sich in das Gesicht der Ärztin gefressen und verstärkt die kleinen Fältchen um Augen- und Mundpartie. Sie ist von uns drei Frauen definitiv die Älteste. Ich würde sie auf Anfang Vierzig schätzen. Blondes Haar so wie ich, nur trägt sie es viel kürzer. Auf ihrer Nase ruht eine eckige Brille mit dicken Gläsern. In ihren Ohren stecken weiße Perlen und um ihren Hals trägt sie das passende Pendant dazu. Die Schuhe sehen teuer aus und haben ein wenig Absatz. Alles in allem wirkt sie auf den ersten Anblick so, als wäre sie nicht von hier. Kein Teil des widerlichen Etablissements.
„Ist nicht meine, die andere gehört mir“, antwortet Nero knapp. Nero zu gehören und als Besitz betrachtet zu werden, ist so falsch, wie es sich anhört und trotzdem reagiert mein hinterhältiger Körper darauf. Kyr jault abermals und zum ersten Mal entlockt Kyrs widerliches Jaulen Nero eine Regung. Seine Mundwinkel rutschen kurz nach oben und für eine Sekunde liegt sein eisiger Blick auf mir, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau mit dem Koffer lenkt und die übliche Emotionslosigkeit auf seine Züge zurückkehrt. Was keine Rolle spielt, denn diese kleine Sekunde reicht völlig aus, um das Glühen zwischen meinen Beinen und auf meinen Wangen unerträglich zu machen. Ich hasse mich so sehr dafür, dass dieser Mann diese Macht auf mich ausübt und ich absolut nichts dagegen tun kann.
„Und sie ist schwanger?“ Die Frau dreht sich mit offenem Mund zu Nero um und wirkt so ungläubig, als hätte der eiskalte und unberechenbare Mann ihr weismachen wollen, dass wir Aliens sind.
„Ist sie schwanger?“ Neros Frage ist direkt an mich gerichtet. Wieder ruht sein Blick auf mir und schnurstracks mir wird bewusst, warum er mich mit Johanna alleine gelassen hat. Er wollte Informationen und weil er sie aus ihr nicht herausholen kann, macht er aus mir einen Spitzel. Und liefert mir auch noch einen Grund und eine Chance, mich an Johanna für die Konsequenzen, die ich wegen ihr erleiden musste, zu rächen. Ich fühle mich furchtbar, als ich nicke, obwohl ich seinen Plan durchschaut habe. Aber würde ich lügen oder die Antwort verweigern, dann folgen wieder Konsequenzen.
„Um Himmels Willen“, schnaubt die Frau bestürzt. „Sie ist in keinem guten Zustand und ich werde sie genauer untersuchen müssen, um sicherzugehen, dass das Kind wohlauf ist. Ich muss sie in die Klinik mitnehmen, anders geht es nicht.“ Die Ernsthaftigkeit, die in ihrer Stimme mitschwingt, lässt mich schaudern. Bei der Frau muss es sich wirklich um eine Ärztin handeln oder sie spielt ihre Rolle einfach verdammt überzeugend.
„Das wird nicht passieren“, erwidert Nero unberührt und gibt Kyr ein Zeichen. Der Hund versteht und kommt auf mich zu wie ein Löwe auf seine Beute. Ich schlinge meine Arme wie ein Lasso um meine Beine und drücke meine Unterschenkel so fest gegen meine Scham, dass der Hund, würde er sich an mir vergehen wollen, sich erst an meinen Schenkeln vorbei kämpfen müsste. Aber er tut nichts dergleichen und geht lediglich neben mir in Wachstellung.
„Aber sie könnte das Kind verlieren“, mahnt die Frau, die offenbar davon ausgeht, als würde Nero sich um das Schicksal von Johannas Baby interessieren und sorgen. Dabei ist die Antwort klar in seinem Gesicht abzulesen. Es juckt ihn nicht die Bohne. Und wahrscheinlich hat Johanna recht, es käme ihm sogar gelegen wenn sie an ihren Verletzungen sterben würde. Andererseits macht es auch keinen Sinn, dass er eine Ärztin herbeiholt, wenn es ihm wirklich egal wäre, was mit Johanna passiert. Die Erkenntnis lässt mich zu Johanna herumfahren, die beinahe komplett in Drae’s dickem und weißen Fell verschwindet. Irgendwie ist es seltsam, die toughe Frau so ruhig zu erleben, obwohl das ihre Gelegenheit wäre, die Ärztin davon zu überzeugen, sie - koste, was es wolle - hier rauszubringen.
„Lady, ich mache die Regeln nicht. Sie hat einen von uns angegriffen. Also wird sie dieses Gelände lebendig nicht mehr verlassen. Entweder sie kümmern sich hier um sie und wenn sie das nicht können, beende ich es halt kurz und schmerzlos.“ Neros Hand wandert zu dem Holster an seinem Gürtel, was seine Drohung unmissverständlich macht. Die Ärztin wirft uns einen mitleidigen Blick zu, wirkt aber nicht erstaunt über die Optionen, die er ihr gibt. Ganz im Gegenteil zu mir. In mir breitet sich pures Entsetzen aus. Johanna kann nie wieder weg von hier? Keine Anzahl Tage, die ablaufen können? Keine Hoffnung? Allein die Vorstellung für den Rest meines Lebens im Etablissement eingesperrt zu sein, löst in mir das Verlangen aus, mich freiwillig von Nero Knarre zu werfen.
„Und was ist mit dem Baby?“, rutscht es aus mir heraus. Schockiert darüber, dass ich den Gedanken laut ausgesprochen habe, halte ich mir die Hände vor den Mund, als könnte ich es damit irgendwie ungeschehen machen. Aber alle Augen sind bereits auf mich gerichtet und ganz besonders die von Nero durchdringen mich wie ein Blitz. Ein Funkeln liegt in ihnen, als er antwortet: „Das Baby wird unversehrt von hier verschwinden, sobald es zur Welt gekommen ist. Es sei denn, es kommt überhaupt zur Welt.“
Sein Blick gleitet von mir weg zu Johanna, die noch immer still und teilnahmslos Drae umschlingt. Und obwohl ich weiß, dass das Baby ihr egal ist, hoffe ich, dass sie dem kleinen Wesen in ihr eine Chance geben wird. Aber je länger die Stille anhält, desto mehr schwindet die Hoffnung, bis die Ärztin seufzend ihren Koffer auf dem Boden ablegt und ihn öffnet.
„Ich überprüfe ihre Vitalwerte und sehe mir die Wunden an. Mehr kann ich nicht tun ohne die notwendigen Geräte. Wäre es möglich um ein bisschen Privatsphäre zu bitten?“
Nero pfeift und Farg reagiert. Der schneeweiße Hund geht neben der Ärztin in Wachstellung. Diese ist leicht irritiert, als der riesige Hund ihr auf die Pelle rückt, sie gibt sich aber sichtlich Mühe, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
„Komm“, fordert Nero und winkt mich herbei. Ich werfe Johanna einen letzten Blick zu, den sie nicht erwidert und richte mich dann auf. Kyr folgt mir mit etwas Abstand und als ich vor Nero zum Stehen komme, geht dieser voraus durch die Tür. Wieder laufen wir am roten Zimmer entlang, aber diesmal schenke ich diesen abscheulichen vier Wänden in der Farbe rot keine Beachtung. Stattdessen achte ich darauf, möglichst kleine Schritte zu machen und die Beine dicht aneinander zu halten, um Kyr, der hinter mir herläuft, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Wahrscheinlich sieht das total bescheuert aus, aber die Angst, der widerliche Hund könnte seine Schnauze wieder zwischen meine Pobacken drücken, überwiegt. Durch die kleinen Schritte fällt es mir deutlich schwer mit Nero Schritt zu halten, der machtvoll wie ein Krieger den Gang entlang läuft. Trotz seiner imponierenden Haltung fällt mir auf, dass er seine Hände immer mal wieder zu Fäusten ballt und sie wieder lockert, als würde er innerlich irgendeinen Kampf mit sich ausfechten. Aber mehr lässt er sich nicht anmerken. Ich muss an Drae denken. Wahrscheinlich setzt es Nero mehr zu, dass sie sich gegen ihn stellt, als er zeigen möchte.