Nero, der Alpha - 3
„Sein Name war Fynn.“ Ein Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen, als würde sie das, was sie getan hat, auf eine widerliche Art und Weise amüsieren..
„War? Der Mann meinte, er könnte ihn noch retten, wenn er sich beeilt.“
Die Frau zuckt unberührt mit den Schultern. „Ist mir egal. Ich muss hier raus. Kennst du seine Schwächen oder weißt du, wie wir abhauen können?“
Ein leises „Was?“ verlässt meinen Mund, ehe meine Kinnlade nach ganz unten sackt. Johanna drückt mir die Shampooflasche wieder in die Hand und wäscht sich die Haare aus.
„Die Schwächen von dem Arschloch, dass dich hier gefangen hält. Kennst du sie?“, hakt sie nach. Dampf und der frische Duft von Jasmin hüllt uns ein. Ich lasse mich auf meinen Hintern fallen und schlinge die Arme um meine Knie, unfähig diese neue Situation einschätzen zu können. Will sie Nero ebenfalls abstechen? Ist das in ihrem Zustand überhaupt möglich? Und wenn sie dazu in der Lage wäre, sollte ich ihr wirklich helfen? Wer würde dann die Kosten für die Pflegeheim übernehmen? Hat Nero überhaupt Schwächen? Wieder springt mein Blick auf Kyr, dessen stechend gelben Augen wachsam auf mir ruhen. Und falls Johanna es nicht schaffen sollte, Nero zu töten, was wären die Konsequenzen für ihr oder unser Vergehen, würde ich ihr dabei helfen? Ich beiße mir auf die Lippen und abermals schmecke ich mein eigenes Blut auf der Zunge.
„Du liebst ihn, oder?“ Johannas Gesicht taucht vor meinem auf. Es ist schön anzusehen, trotz der dunklen Schatten unter den blauen Augen und der Nase, die aussieht, als hätte man sie ihr mehr als einmal gebrochen.
Ein weiteres „Was?“ drängt sich aus meinem Mund, zu mehr bin ich nicht imstande. Das Mantra in meinem Kopf wird so laut, dass es meine eigenen Gedanken übertönt. Er bringt mich eigenhändig um, wenn Johanna etwas zustoßen sollte.
„Wir müssen deine Wunden versorgen“, höre ich mich sagen. Die Worte klingen so fern, als wären sie nicht meine eigenen und als würde jemand an einem Faden ziehen, schieße ich in die Höhe. Der Medizinschrank ist ganz nah. Klatschnass tapse ich in einem rasanten Tempo durch den Duschraum. Kyr folgt mir auf Schritt und Tritt und als ich an meinem Ziel ankomme, reisse ich die Tür des Medizinschränkchens auf und hole alles heraus, was ich brauche, um einen Knöchel zu desinfizieren und die Blutung zu stoppen.
Zurück bei Johanna schalte ich die Dusche aus und werfe mich vor der Frau auf den Boden, dann fange ich kommentarlos an, die Wunden zu versorgen.
„Was hat er dir nur angetan“, wispert Johanna leise, während sie mir zusieht, wie ich mit Watte und Desinfektionsmittel gegen die Bisswunde tupfe.
„Wir müssen hier raus, Rika. So schnell wie möglich.“ Ich blende aus, was Johanna von sich gibt und wickle frische Bandagen um ihren linken Knöchel. Blut färbt die weißen Leinen rot, trotzdem höre ich nicht auf, Schicht um Schicht den Verband fertig zu binden, bis kein Rot mehr durchdringen kann. Dann kümmere ich mich um den zweiten Knöchel.
„Die Hunde, die Hunde sind seine Schwachstelle richtig?“
Ich hebe kurz den Blick und folge Johannas ausgestrecktem Finger, der auf Drae zeigt, die uns aufmerksam beobachtet und keinen Laut von sich gibt.
„Wenn wir sie töten, töten wir ihn“, ergänzt Johanna ihre Vermutung und jagt mir damit einen eiskalten Schauer den Rücken hinunter.
„Du willst Drae töten?“, fiepe ich ungläubig. Drae zu töten, bedeutet Konsequenzen. Konsequenzen, die weder Johanna noch ich überleben würden. Niemals würde Nero das zulassen. Niemals. Nicht Drae.
„Also habe ich recht. Die Hunde sind seine Schwachstelle.“ Auf Johannas Gesicht breitet sich wieder dieses abscheuliche Lächeln aus. „Wir brauchen etwas zum zuschlagen. Am Besten etwas Langes. Vielleicht ein Besenstiel oder ein Rohr. Wenn wir im Team arbeiten, schaffen wir das. Eine lenkt sie ab, die andere schlägt zu.“ Die Frau funkelt mich erwartungsvoll an. Ich schüttle mit dem Kopf und binde den zweiten Verband fertig.
„Aber ich schaffe das nicht allein, ich brauche dich dazu. Diese Arschlöcher hier machen dir nur was vor, Rika. Und glaub mir, wenn deine Tage rum sind, wird er dich nicht gehen lassen und falls doch, ist nicht mehr viel von dir übrig. Siehst du denn nicht, was er bereits mit dir gemacht hat? Du zitterst am ganzen Körper und hast Angst. Du musst hier raus, bevor es zu spät ist und er dich gebrochen hat!“
Johanna zieht den Fuß von mir weg und hindert mich daran, den Verband zu fixieren. Mit dieser Aktion sorgt sie dafür, dass die Leinen um ihren Fuß sich mit noch mehr Wasser als ohnehin schon aufsaugen, was für die Heilung ihrer Wunden eher hinderlich ist. Ein Handtuch wäre echt praktisch, aber Nero stellt keine zur Verfügung. Er stellt nie welche zur Verfügung. Alles womit man seinen Körper bedecken könnte, ist tabu. Ich habe mich anfangs gefragt, wieso das so ist. Naheliegend für mich war, dass er einfach pervers ist und sich an unserer Nacktheit aufgeilt, aber mir wurde schnell klar, was der eigentliche Grund dahinter ist. Kleidung bietet Schutz, hinter Kleidung kann man sich verstecken und die Frauen hinter seiner Tür sollen jederzeit ausgeliefert und vollkommen schutzlos sein. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Nero überhaupt Interesse an den Vorzügen einer Frau zeigt. Meistens sieht er uns nicht einmal an und wenn er es doch tut, dann ist sein Blick stets in die Augen gerichtet und niemals tiefer. Wenn ich genauer darüber nachdenke, hat er mich in den 23 Tagen niemals so richtig angesehen.
„Wie viele Tage hast du noch?“ Johannas Frage holt mich ins Diesseits zurück und für einen kurzen Moment bin ich irritiert, weil das Lächeln in ihrem Gesicht verschwunden ist und stattdessen so etwas, dass wie Mitgefühl aussieht, sich in ihrer Mimik abbildet.
„17 Tage“, antworte ich knapp, unsicher ob ich erwähnen sollte, dass ich mir das alles selbst eingebrockt habe. Ich bin freiwillig hier. Ich habe mich bewusst ausgeliefert, um meiner Mutter zu helfen. Natürlich war ich mir nicht bewusst gewesen, was mich wirklich hinter der Tür erwarten würde, aber im Grunde bin ich selbst daran schuld, hier zu sein und die Tage nun abzusitzen. Ich weiß, dass die meisten Frauen keine Wahl hatten und wahrscheinlich hatte Johanna auch keine Wahl. Sie würde meine Entscheidung nicht verstehen. Schließlich verstehe ich sie, nach allem was passiert ist, selbst nicht mehr.
„Wer auch immer dich verkauft hat, glaube mir, er ist es nicht wert. Wir müssen hier raus!“, beharrt sie mit Nachdruck in der Stimme. Bevor ich etwas darauf erwidern kann, höre ich Neros schwere Springerstiefel aus der Ferne.
„Er kommt zurück“, flüstere ich und schlagartig kehrt mit Nero auch die Angst zurück. Völlig panisch blicke ich mich um, bis mein Blick an Johannas unfertigem Verband haften bleibt. „Ich muss das zu Ende bringen!“, zische ich eine Spur lauter als beabsichtigt und werfe mich auf Johannas Fuß wie ein Soldat in den schützenden Graben. Mit schnellen Handgriffen fixiere ich die Leinen und gerade als ich damit fertig bin, geht die Tür auf und Nero taucht in der Schwelle auf. Erleichtert sinke ich vor Johanna wie ein Häufchen Elend zusammen und hätte mich am liebsten wie ein Fötus eingerollt und irgendwo verkrochen.
„Rika“, haucht Johanna leise und rutscht näher zu mir heran, als wollte sie mich mit ihrem kaputten und dürren Körper vor dem Meister abschirmen. Dabei ist sie doch die Neue und ich sollte sie schützen. Warum ist diese Frau nur so unfassbar stark und ich so schwach?
Neros Stiefel donnern über den nassen Boden, als er auf uns zukommt und unmittelbar vor uns stehen bleibt. Farg begleitet ihn. Tuga und Ignar stellen sich vor der Tür auf, schneiden den Fluchtweg ab, sollte eine von uns es wagen loszurennen und ihr Glück zu versuchen.
„Mach den Test.“ Neros Befehl ist unmissverständlich, als er Johanna einen Schwangerschaftsstreifen entgegenstreckt. Es handelt sich bei dem Streifen um einen klassischen und altmodischen Schwangerschaftsstreifen, einen den man sich bei jedem Automaten besorgen kann und auf den man Pinkeln muss, um das Ergebnis zu erhalten. Ist Nero deshalb so schnell verschwunden? Um einen Schwangerschaftstest zu besorgen? Aber warum sollte er das tun? Würde das einen Unterschied machen, wenn Johanna schwanger wäre und falls ja, warum hat er von mir nie verlangt einen zu machen?Die Sekunden rieseln dahin und die Anspannung wächst kontinuierlich. Neros Hand befindet sich unmittelbar über meinem Kopf. Er ist so nah und ich kann ihn riechen. Sein Duft ist animalisch, nicht widerlich, aber herb. Er passt zu ihm und zu seinem grausamen Charakter. Er ist der Alpha und jede Faser seines Körpers strahlt genau das aus. Ich spüre es, weil dieser Mann allein mit seiner Präsenz meine Libido entflammt. Er muss mir das antrainiert haben. Ich soll genau so fühlen, egal wie sehr ich mich dagegen sträube. Kyr beginnt zu jaulen und ich schäme mich.
Nero schenkt weder mir noch Kyrs Jaulen Beachtung. Sein Fokus liegt auf Johanna und zwar nur auf ihr, selbst dann als Drae unruhig wird. Sein Blick ist eiskalt und emotionslos zugleich. Die dunkelbraunen Haare sind etwas feucht an den Spitzen, was ihm umso mehr die Aura eines wilden Tieres verleiht. Bedrohlich, lauernd, kurz davor seine Beute zu erlegen. Mein Kopf tut plötzlich etwas, das er sonst nicht tut. Ich habe Nero noch nie nackt gesehen, aber genau jetzt stelle ich es mir vor. Wir zwei unter der Dusche. Ich knie vor ihm, blicke zu ihm auf. Eiskaltes Wasser, dass auf seinen schlanken und definierten Körper herunter prasselt. Das Spiel der Muskeln, wenn er sich mit seinen starken und brutalen Händen einseift und… wie dabei eine Hand immer tiefer gleitet bis zu seinem… Johannas Arm taucht in meinem Sichtfeld auf und zerstört den Traum. Nein Rika, Albtraum, nicht Traum. Im ersten Moment bin ich zu beschäftigt mit meinem eigenen inneren Konflikt und dann beinahe verwundert, dass die so widerspenstige Frau den Schwangerschaftsstreifen so widerstandslos entgegen nimmt. Die Verwunderung weicht schnell einem ganz anderen Gefühl. Einem widerlichen Gefühl. Schock. Purer, ekelhafter Schock fährt mir durch Mark und Bein. Hat diese Frau völlig den Verstand verloren? Kaum hat der Schwangerschaftsstreifen den Besitzer gewechselt, verschwindet er in Johannas Faust. Mir ist bisher nicht aufgefallen, dass jeder Fingerknöchel ihrer Hand aufgesprungen ist. Doch lange lenkt mich diese Tatsache nicht ab, zu sehr bin ich schockiert darüber, dass sie den Streifen in ihrer Hand zerknüllt und als wäre das nicht schon Statement genug, steckt sie ihn sich auch noch total lebensmüde in den Mund und spuckt ihn anschließend neben sich auf den nassen Boden aus. Zu keinem Zeitpunkt lässt sie Nero dabei aus den Augen und allein die kühle und gefasste Mimik in seinem Gesicht reicht aus, um zu wissen, dass diese Provokation schlimme Konsequenzen haben wird. Seine Mundwinkel zucken amüsiert, als er einen weiteren Streifen aus seiner schwarzen Arbeitshose herausholt. Er genießt das. Sie kann sich glücklich schätzen. Sie bekommt eine zweite Chance. Gleiches Spiel. Selbes Resultat. Er streckt ihr den Streifen entgegen, sie nimmt ihn an sich, stopft ihn sich in den Mund und spuckt ihn neben den ersten auf den Boden.
“Piss doch selbst drauf”, zischt Johanna wie eine Schlange und verzieht ihre Lippen dreist zu einem süffisanten Lächeln. Nicht tot zu kriegen, diese Frau. Sie muss doch müde sein und Schmerzen haben, sie hat bereits allein heute so viel durchgemacht. Farg’s Geduldsfaden reißt. Der Hund knurrt und zieht die Lefzen nach oben. Die Nase ist gerunzelt, ein - wie ich gelernt habe - mehr als deutliches Warnsignal. Drae spiegelt Fargs Mimik und positioniert sich schützend vor Johanna. Ihr Fell kitzelt mich an der Schulter, so nah bin ich ihr und trotzdem fühlt es sich an, als hätte sich eine Schlucht zwischen uns aufgespalten. Eine Schlucht, die den Alpha von seinem Weibchen trennt und ich weiss nicht, auf welcher Seite ich stehe. Zu sehen, wie sich die Lager innerhalb eines zuvor funktionierenden Rudels spalten, schürt die Angst in mir und aus dem zarten Flämmchen der Angst wächst ein wahres Inferno der Panik mit verheerenden Folgen heran. Konsequenzen. Das alles wird Konsequenzen haben. “Bitte Johanna”, flehe ich so leise, dass ich beinahe meine eigene Stimme nicht wiedererkannt hätte. Sie hört sich ganz anders an, als wäre nicht mehr viel von mir übrig. Hat Johanna recht? Muss ich unbedingt hier raus, bevor ich mich gänzlich verliere?
Keiner reagiert auf meine Bitte. Haben die Worte meinen Mund überhaupt verlassen? Ehe ich eine Antwort darauf finde, verringert Nero mit einem letzten Schritt die Distanz, ganz klar mit der Absicht, Johanna eigenhändig für ihr Verhalten zu züchtigen, doch er kommt nicht dazu. Drae prescht unerwartet vorwärts und schnappt wie eine Bärenfalle blitzschnell nach seinem Handgelenk. Sie verbeisst sich in das dicke schwarze Lederarmband darum, keine Ahnung, ob mit Absicht oder gewollt. Aber das Armband bietet Schutz. Nicht viel, aber ein wenig. Farg will an Nero vorbeischießen und sich auf Drae stürzen, auch Kyr ist in Alarmbereitschaft, bereit das Weibchen auszuschalten, würde sie nicht zur Vernunft kommen. Ein Pfiff des Meisters und die Rüden halten widerwillig inne. Nur Drae lässt nicht locker. Ihre scharfen Zähne bohren sich durch das Leder. Blut quillt hervor, tropft auf ihr weißes Fell und auf die Fliessen. Sie knurrt und rupft mit ihrem Kiefer an Neros Handgelenk herum, aber der Alpha verzieht keine Miene. Duldet ihren Ungehorsam. Erträgt den Schmerz. Instinktiv krieche ich weiter zurück, will mich aus der Gefahrenzone bringen und selbst Johannas Lächeln rutscht von ihren Lippen und Fassungslosigkeit macht sich auf ihrem Gesicht breit. Dabei hatte sie doch recht. Da ist sie. Für alle klar sichtbar und für Nero deutlich spürbar. Seine Schwachstelle.
“Komm”, fordert Nero und streckt seine freie Hand nach mir aus. Er sieht mich nicht an, aber es ist ganz klar, dass er mich damit meint. Drae‘s Knurren verliert an Kraft und ein kläglicher Unterton schwingt darin mit, fast so wie ein Wimmern. Die hellblauen Augen der Hündin sind voller Verzweiflung, als würde sie nicht wollen, was sie ihrem Meister antut. Nicht wollen, aber müssen. Die Frage ist nur, warum? Ist das Johannas Schuld? Wie macht sie das und wenn sie ihre Finger im Spiel hat, warum ist sie dann selbst so überrascht darüber, dass die Hündin sie verteidigt?
Ich bin so paralysiert von der neuen Entwicklung, dass ich erst bemerke, dass ich Neros Befehl hätte Folge leisten müssen, als Kyr hinter mir auftaucht und mich daran erinnert. Ich spüre seinen feuchten Atem in meinen Nacken, höre das wilde, drängende Hecheln.
“Müssen wir wieder bei Null anfangen, Erika?”, mahnt mich Nero. Ich schüttle wie wild mit dem Kopf und krabble, trotz Johannas “Nein, Rika, nicht!”, wie ein Hündchen auf allen Vieren zu meinem Meister. Kaum bin ich in Reichweite, packt er mich grob und zieht mich so dicht an sich ran, so dass ich seine Hitze überall auf mir spüren kann. Dabei lässt er Drae nicht einmal aus den Augen und sie lässt weiterhin nicht von ihm ab.
“Du wirst ihre Strafe für sie übernehmen.” Neros Mund berührt mein Ohr und hinterlässt ein schauriges Kribbeln an der Stelle, dass sich von da bis zu meinem kleinen Zeh hinunter zieht. Ich presse aus Reflex meine Schenkel zusammen.