Nero, der Alpha - 26

Nero, der Alpha 8. Juli 2022

Zurück in Nero’s Zimmer sehe ich dem Alpha zu, wie er einen Rucksack packt. Zwei kleine Wasserflaschen, die Lunchbox, ein Taschenmesser sowie eine Taschenlampe, Taschentücher und die kleine Schachtel, in denen Nero Spritzen aufbewahrt, werden in dem schwarzen und unauffälligen Rucksack verstaut. Keine Ahnung wofür der Mann am helllichten Tag eine Taschenlampe braucht, wir gehen ja nur einkaufen und nicht campen, aber irgendwie habe ich die Befürchtung, dass wenn ich nachfrage, ich sowieso keine anständige Antwort auf meine Frage erhalten werde.
Als der Mann fertig ist mit Packen, verschwindet er mit ein paar Klamotten auf dem Arm im Bad und kommt wenig später umgezogen wieder heraus. Wieder einmal mehr muss ich feststellen, wie gut Nero enge Jeans stehen. Die Hosen schmeicheln seinem athletischen Körper und setzen all seine Vorzüge wahnsinnig gut in Szene. Vor allem wenn er sich streckt und dabei das Oberteil ein bisschen hoch rutscht und man seine Hüftknochen sieht und dieses verführerische V in seiner Lendengegend, was zufälligerweise gerade der Fall ist, und meine Libidio dazu bringt, diesen Mann anfassen zu wollen. Genau dort. Und zwar jetzt. Sofort. Was ich natürlich nicht tun werde. Auf gar keinen Fall.
Der Pullover, in der Farbe schwarz, ist weit ausgeschnitten, wodurch man Schlüsselbein und etwas Schulter sieht und es hätte mich nicht gestört, wenn Nero noch mehr Haut zeigen wollen würde. Wow, Rika, nun denkst du schon wie ein Mann. Bald fängst du noch an zu sabbern, wie die fünf Rüden, die um Nero herum sitzen und den Alpha erwartungsvoll ansehen. Wenn du dann auch noch hechelst und aufhörst, dich zu rasieren, fällst du unter den Bestien kaum auf.
Frustriert über mich selbst, lenke ich meinen Fokus auf Nero’s Springerstiefel, ohne die ich ihn bisher nur unter der Dusche gesehen habe und dort habe ich auf andere Dinge geachtet und nicht auf Nero‘s Füße. Ich weiss nicht einmal, ob Nero Socken trägt. Wahrscheinlich trägt er welche. Ohne Socken in solchen Stiefel scheuert man sich doch alles auf, so masochistisch schätze ich den Alpha nicht ein.
Eine Baseballkappe, ebenfalls in der Farbe schwarz, wird aus dem Kleiderschrank geholt. Ehe Nero sie aufsetzt, lockert er einmal seine dunkelbraune Haare, kämmt sie mit den Fingern nach hinten und setzt sich dann die Kappe auf. So sieht der Alpha plötzlich ganz anders aus. So ein bisschen wie ein privilegierter und ziemlich mies gelaunter Sportstudent, der absolut keine Lust hat, mit seiner Schicki-Micki-Freundin auf Shoppingtour zu gehen. Nicht, dass ich mich als sowas wie seine Freundin bezeichnen würde und Schicki-Micki bin ich schon mal gar nicht. Tatsächlich komme ich mir neben so einem Mann wie Nero vor, wie ein schüchternes und hässliches Mauerblümchen. Besonders mit der geschwollenen Gesichtshälfte und den widerlichen Kratern unter meinen Augen.
Irgendwie, während ich Nero so beobachte, überkommt mich plötzlich das Verlangen, ihm ein Kompliment zu machen und ihm zu sagen, wie gut er aussieht, aber ich halte meinen Mund und himmele ihn still und heimlich wie ein Groupie voller Bewunderung an. Ob der Mann sich überhaupt bewusst ist, wie unverschämt gut er aussieht und ob ihm sowas wichtig ist - also wie er auf andere wirkt? Ist so einer wie Nero eitel? Irgendwie kann ich mir das bei ihm gar nicht vorstellen, aber andererseits, warum sonst sollte ein Mann wie er, aus dem Etablissement, einem Ort, wo es absolut egal ist und keine Rolle spielt, wie du aussiehst, so auf seine Ernährung achten und warum kleidet er sich ganz anders, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet ist oder wir einen Ausflug machen? Vielleicht legt der Mann doch mehr wert auf sein Äußeres, als es bisher den Anschein gemacht hat. Vielleicht ist Nero doch mehr Mensch als unzähmbares und wildes Tier.
Als Nero dann auch noch einen anthrazitfarbenen, dünnen und bodenlangen Mantel aus dem Schrank heraus holt und sich diesen überstreift, bin ich mir sicher, dass ich gerade vor Begeisterung genauso laut hechele wie Kyr, der ungeduldig und aufgeregt mit dem Schwanz propellert und nicht mehr stillsitzen kann, als würde Nero gleich Gassi mit ihm gehen wollen oder so etwas in der Art.
Nero bückt sich zu dem Hund runter und krault ihm beide Ohren.

„Du machst ihn nervös, Erika.“

„Was? Wieso ich?“, erwidere ich und merke wie ich wie auf Knopfdruck rot anlaufe, als hätte der Hund mich bei meinen Schwärmereien für Nero ertappt und bei Herrchen verpfiffen. Können Hunde etwa wirklich Gedanken lesen oder will Nero mich bloß wieder auf seine Art necken? Instinktiv verlagere ich meine Sitzposition auf dem Bett und presse die Beine unauffällig fester zusammen. Damit entlocke ich Nero tatsächlich ein klitzekleines Minilächeln, das ihn nur noch unwiderstehlicher macht. Oh Gott, ich sollte wirklich aufhören, diesen Mann so anzuhimmeln als wäre er ein Rockstar. Das hat Nero gar nicht verdient.

Die Hand des Alphas streichelt gemächlich über Kyrs Kopf. „Keine Sorge, Erika. Ich lasse ihn nicht an dich ran. Es sei denn, du willst es. Willst du es?“

“Ich will was ganz anderes! Und zwar dich”, höre ich meine blöde Libido herum brüllen und ja, vielleicht sollte ich genau das laut aussprechen, um Nero zu ärgern. Schließlich neckt er mich bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet. Oder besser gesagt, er quält mich. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem. Bevor ich aber dazu komme, überhaupt etwas auf Nero’s Angebot zu erwidern, kommt mir sein Handy zuvor. Es klingelt.

Nero nimmt den Anruf mit einem lustlosen „Ja?“ entgegen und richtet sich zu seiner vollen Größe auf. Kyr’s Blick heftet sich sogleich auf mich. Der Hund sieht mich an wie ein Stück Fleisch, in das er unbedingt reinbeißen möchte. Dann glotzt das böse Tier auch noch abwechselnd zwischen Nero und mir hin und her, als würde es nur darauf hoffen, dass der Meister endlich das Kommando gibt, sich auf mich zu stürzen. Aus einem Impuls heraus will ich Kyr den Mittelfinger zeigen und dem blöden Vieh die Zunge rauszustrecken, weil er diesmal nicht bekommen wird, was er will. Ja, es gefällt mir, dass Nero seine Hunde nicht mehr auf mich hetzen darf oder will oder kann. Der Sonderstatus als Lehrling macht mich wohl für seine Hunde vorerst unantastbar. Eigentlich wäre es praktisch zu erfahren, was genau dieser neu gewonnene Status als Lehrling alles für Vor- und Nachteile bringt und was von mir erwartet wird. Aber Nero hält es anscheinend noch nicht für nötig, mich über alles aufzuklären. “In so vielen Dingen”, jault meine Libido aus dem Hintergrund und ich verfluche das dumme und gierige Biest.

Was habe ich mir da nur eingebrockt und kann ich bitte aufhören, den Mann so sehr zu wollen. Vor meiner Zeit im Etablissement war ich noch der festen Überzeugung, dass ich mich zu Männern gar nicht hingezogen fühle. Ich hatte nicht einmal ansatzweise das Bedürfnis verspürt mit irgendjemanden intim zu werden oder gar Sex haben zu wollen. Selbst bei Daria hatte ich nur selten Lust verspürt und dabei mochte ich sie wirklich sehr. Das Meiste ging immer von ihr aus und ich hatte hauptsächlich mitgemacht, weil sie es wollte und es sich schön angefühlt hatte von ihr berührt und gestreichelt zu werden und weil sie mir unglaublich bedeutet hatte. Ach was. Noch immer bedeutet sie mir was. Doch Nero stellt meine Welt komplett auf dem Kopf und schafft es, dass ich mir in seiner Gegenwart so vorkomme, wie ein notgeiler alter Sack, der seine Stielaugen nicht vom Objekt seiner Begierde lassen kann. Ich meine, ich bin sogar so weit gegangen und habe mich in Nero’s blöden Zwinger selbst zum Höhepunkt gebracht - und sowas tue ich normalerweise total selten. Also, mich anfassen. Das mit dem Zwinger ist eine absolute Ausnahme und ein Einzelfall gewesen! Wird auch ein Einzelfall bleiben!

Vielleicht liegt hier wirklich irgendetwas in der Luft, das einem den Verstand vernebelt und dafür sorgt, dass man ständig nur an das Eine denken kann und muss und der Einzige, der dagegen immun zu sein scheint, ist Nero selbst. Aus der total geistesgestörten Ecke meines Verstands wird eine Stimme laut und das, was sie sagt, ist so bescheuert, dass ich automatisch grinsen muss. Wie dämlich. Nero’s Spritzen, die, die er in dieser ominösen Box aufbewahrt. Wetten, dass dieser Mann sich selbst sowas wie ein Anti-Geil-sein-Serum spritzt, damit er schön keusch bleibt und all den Frauen hier widerstehen kann, während alle um ihn herum komplett durchdrehen vor Verlangen? Wie total krank wäre das denn?! Okay, Rika, jetzt ist es amtlich. Du bist bescheuert. Als ob es sowas wie ein Anti-Geil-sein-Serum überhaupt gibt… Wobei, ich bin im Etablissement, wer weiss, was für Mittel und Wege die hier finden, um ihr kranke Spielchen zu treiben und jemanden gefügig zu machen für ihre abartigen Liveshows?! Trotzdem Rika, du darfst jetzt noch mehr durchdrehen, als ohnehin schon. Stell die Tassen mal lieber wieder zurück in den Schrank. Und zwar alle. Sowas wie ein Anti-Geil-sein-Serum gibt es nicht und die Luft ist auch nicht mit Aphrodisiakum verseucht.
Nero taucht vor meinem Blickfeld auf und reißt mich aus meinem Gedankenkarussell. “Fritz wartet, komm mit”, sagt er und schultert den Rucksack, dann steuert er die Tür an und hält sie auf. Ich stehe vom Bett auf und als ich an Kyr vorbeigehe, bilde ich mir ein, die Enttäuschung, dass ihm diesmal sein Leckerbissen verwehrt wurde, in seinem Hundegesicht aufblitzen sehen zu können. Kaum bin ich aus der Tür raus, dreht Nero sich nochmal um und gibt den Hunden das Kommando Wache zu halten, dann gehen wir gemeinsam durch den Flur Richtung Hauptraum. Im Hauptraum treffen wir auf Johanna, die im Zwinger zum Leben erwacht ist und uns total irritiert ansieht. Sie reibt sich sogar ungläubig über die Augenlider und der Mund steht ihr soweit offen, dass ich bei dem schockierten Ausdruck auf ihrem Gesicht ungewollt an die Maske aus dem Film SCREAM denken muss. Daria und ich haben ganze drei Anläufe gebraucht, um den Film bis zum Ende zu schauen, weil wir beide totale Angsthasen sind. Ein weiteres Indiz dafür, dass die vermeintlich skrupellose Rika nicht existiert und die Angsthasen-Rika im Etablissement eigentlich nichts zu suchen hat. Schon gar nicht als Lehrling.
Ich schenke Johanna ein entschuldigendes es-tut-mir-leid-Lächeln, was sie nur umso fassungsloser macht. Ich hätte ihr gerne erklärt, dass ich nun ein Lehrling bin und wie es dazu gekommen ist, aber Nero rauscht wortlos an ihr vorbei und so wie es aussieht, wird er Johanna vorerst nicht über die neuen Entwicklungen in Kenntnis zu setzen. Und ich weiss nicht, ob ich das tun darf, geschweige denn, wie ich mich ihr Gegenüber nun verhalten soll. So wie vorher, als wäre nichts gewesen oder ist das jetzt untersagt?
“Was wird das?”, flucht die Frau hinter den Gitterstäben zornig in unsere Richtung und sieht mich dabei so hasserfüllt an, als hätte sie sich bereits selbst irgendeine Erklärung zurechtgelegt. Eine Erklärung, wie es dazu gekommen ist, dass ich frei und in Klamotten mit Nero zusammen herum laufe. Es muss für sie so aussehen, als hätte ich mich mit dem Feind verbündet - was ich Johanna nicht einmal verübeln könnte, dass sie nun so von mir denkt. Andererseits wollte sie ja genau das mit unserem “Plan” bezwecken. Dass ich mich an Nero heranmache und ihn schwach und unvorsichtig werden lasse, also sollte sie ihren Groll mir gegenüber eigentlich zügeln. Schließlich habe ich erreicht, was wir wollten. So halb jedenfalls. Oder ich interpretiere die Situation völlig falsch und Johanna spielt einfach auf ihre Art und Weise bei dem “Plan” mit und ist mit voller Absicht so sauer auf mich, damit es für Nero so wirkt, als hätte er erfolgreich einen Keil zwischen sie und mich gebohrt..
Das ist alles so verwirrend und diese direkte Konfrontation ist zu viel für mich, so dass die Tränen wieder einmal mehr aus mir herausbrechen wollen. Ich weiss nicht mehr, auf welcher Seite ich nun wirklich stehe. Auf Johannas? Auf Neros? Das Gefühlschaos in mir bringt mich um und als Nero sich plötzlich umdreht und mich eng zu sich heranzieht, als wäre ich mehr für ihn, als nur ein Lehrling, bleibt mein Herz einfach stehen. Es hört auf zu schlagen, als würde es abwarten wollen, was gleich passiert und ob es sich lohnt, dafür weiterzuleben.
“Kinn hoch, Erika”, verlangt der Alpha und seine Stimme ist so rau, wie sein Charakter. Will er mich etwa...Oh Gott… ich kann gar nicht anders, als zu gehorchen und hebe mein Kinn. Er streckt seine Hände nach mir aus und alleine das reicht aus, um mein Blut in Wallung zu bringen und meine Knie weich werden zu lassen. Ein Teil von mir will die Augen schließen und sich einzig allein auf dieses Gefühl konzentrieren, aber der weitaus größere Stockholm-Syndrom-Rika-Teil will keine Sekunde von dem, was gerade passiert, verpassen und den Moment in sich aufsaugen. Ihn auf ewig festhalten und ihn am liebsten in ein Fotoalbum pinnen. Doch statt mein Gesicht zu umfassen und mich zu küssen, verirren sich Neros Finger zu meinem Hals und als ich den Grund dafür erkenne, trifft mich die Welle aus Enttäuschung wie ein Tsunami und spült all meine naiven Wünsche und Hoffnungen mit sich fort.

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