Nero, der Alpha - 25
„Ich weiß es nicht“, antworte ich wahrheitsgemäß und blicke wehmütig hinunter auf die frischen Erdbeeren auf dem Tablett. Was ist, wenn Nero die Erdbeeren, die ich damals auf dieses dämliche Formular gekritzelt habe, wirklich aufgefallen sind und es gar kein Wunschdenken von mir ist, dass ich ihm vielleicht mehr bedeute, als er zugeben mag? Rika, du bist blöd. Du bist einfach superblöd. Frustriert schiebe ich mir eine Erdbeere in den Mund und zermalme sie mit meinen Zähnen.
„Neun Monate sind lang. Ich würde dir ja gerne anbieten, sie dir abzunehmen. Aber ich weiß nicht, ob ich solange durchhalte“, wirft Peyton ein, seufzt, dann faltet er seine Hände unter seinem Kinn zusammen und blickt Nero mitfühlend an. „Bleibt nur zu hoffen, dass 27 die Kurve kriegt und sich selbst um das Problem kümmern wird.“
„Hmmm…“, erwidert der Alpha, nimmt Peyton das Glas ab und leert es in einem Zug, als wäre der Inhalt Vodka Orange statt Orangensaft und als könnte er damit das Problem mit Johanna einfach schön- oder wegsaufen.
„Weißt du was? Wir machen es so. Hör zu. Wir schließen die Dame mindestens eine Stunde pro Tag und das jeden Tag an die Maschine an und bieten sie die restliche Zeit zum Verkauf an. Wobei, sie ist schwanger, das erschwert die Sache ein wenig, also sagen wir maximal zwei Freier pro Tag und wenn sich keine melden, übernehme ich das. Dann beobachten wir, wie lange sie diese Prozedur durchhält. Und unsere hübsche Rika kümmert sich um ihr Wohlergehen. Na, klingt das gut?“, schlägt Peyton mit einer fröhlichen und zuversichtlichen Miene vor. Ich bin entsetzt. Das, was er vorschlägt, ist furchtbar auf so vielen Ebenen. Absolut furchtbar. Ich verschlucke mich und hätte am liebsten die Erdbeere wieder aus- und quer über den Tisch gespuckt. Den Männern entgeht meine Reaktion auf den Vorschlag nicht. Allein meine Mimik muss Bände sprechen, sie kommentieren es zwar nicht, zeigen jedoch unterschiedliche Weisen, darauf zu reagieren.
“Ich denke über dein Angebot nach”, entgegnet Nero in seinem gewohnt gelangweilten Tonfall und kümmert sich desinteressiert um den Rest seines Frühstücks, während Peyton die Stirn in Falten legt und nachdenklich wirkt, als würde ihn meine Reaktion tatsächlich irgendwie beschäftigen.
Schweigen breitet sich aus, Schweigen, dass ich versuche mit Frühstück zu füllen, obwohl mir gar nicht nach Essen zumute ist, nachdem, was Peyton von sich gegeben und mit Johanna vor hat. An eine Maschine anschliessen. Freier. Oh Gott. Trotzdem beschmiere ich ein Stück Brot mit Butter und Marmelade, pelle das Ei und nasche von den frischen Erdbeeren.
Irgendwann schiebt Neros Handy mit einem Klingeln die angespannte Stille zur Seite. Der Alpha wirft einen müden Blick auf das Display, steckt das Telefon aber, ohne den Anruf entgegen zu nehmen, zurück in die Tasche seiner Jogginghose.
“In einer halben Stunde fahren wir ab”, verkündet Nero mit wenig Motivation in der Stimme. Peyton hingegen nickt und grinst. “Dann werde ich mir wohl etwas Anständiges anziehen müssen.”
“Du kommst mit?”, frage ich überrascht und verschlucke mich beinahe schon wieder an einer Erdbeere.
“Ja, ich dachte, ich nutze die Gelegenheit und erledige selbst ein paar Einkäufe. Ashley hat bald Geburtstag”, Peyton zwinkert mir zu. “Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich einer Fünfjährigen schenken soll, aber ich denke, ich finde bestimmt eine Verkäuferin, die mich liebend gerne berät. Oder hast du eine Idee, Rika?”
Ashley? Ich brauche einen kurzen Moment, bis ich realisiere, dass Peyton von seiner Tochter spricht. Irgendwie komme ich immer noch nicht damit klar, dass ein Mann aus dem Etablissement eine Tochter haben kann. Wo lebt sie? Wer ist die Mutter? Wie ist es dazu gekommen? In was für einem Verhältnis stehen sie zueinander? So viele Fragen, die ich mich nicht traue zu stellen und die mich eigentlich gar nichts angehen.
“Weisst du, was sie so mag?”, taste ich mich vorsichtig heran. Peyton kratzt sich verlegen am Kinn und wird sogar etwas rot im Gesicht. “Hmmm.. gute Frage. Ich habe keine Ahnung, worauf kleine Mädchen so stehen”, der Mann lächelt schief und steht auf. “Aber ich werde es herausfinden!”, motiviert und voller Tatendrang streckt er eine Hand in die Luft und ballt sie zur Faust. “Bis später!”
Mit diesen Worten lässt Peyton mich mit Nero in der Gemeinschaftsküche allein. Nero steht ebenfalls von seinem Stuhl auf und räumt seinen Teller sowie das Glas vom Tisch ab. Er packt beides in den Geschirrspüler und kehrt danach zu mir zurück. “Soll ich dir etwas davon einpacken?”, er deutet mit seiner Hand auf mein Tablett. Er will mir etwas davon einpacken? Wofür? Und wieso? Und weshalb und warum ist er jetzt so verflucht fürsorglich und …
Als ich länger brauche, um auf die einfache Ja-Nein-Frage zu antworten, richten sich Neros eisblaue Augen von meinem Frühstück auf mich. Seine Augen sind so eiskalt und gleichzeitig wunderschön, und mein bescheuertes Herz findet das auch, also macht das dumme Ding ein paar Luftsprünge und als wäre das nicht genug, flattern natürlich auch noch hundert blöde Schmetterlinge in meinen Bauch herum. Gar nicht hilfreich und überhaupt nicht hilfreich, wenn man doch irgendetwas auf die Frage erwidern sollte. Kann ich ihn stattdessen nicht einfach küssen? Nein Stockholm-Syndrom-Rika, reiss dich zusammen. Denk doch einfach an das, was die beiden Schweine mit Johanna vorhaben. Das sind böse und hinterhältige Männer. Auch wenn sie manchmal ganz normal wirken, schlummern in ihnen wahre Monster. Verbrecher. Schwerverbrecher, Vergewaltiger und Mörder.
„Nicht nötig“, sage ich, schnappe das Tablett vom Tisch und räume es selbst ab. Schließlich weiß ich, wo sich der Geschirrspüler befindet und welcher von den Kühlschränken Nero gehört.
„Wie du willst“, Nero folgt mir zur Küchenzeile und während ich mein halb aufgegessenes Essen vom Teller in den Mülleimer unter der Spüle verfrachte, was total verschwenderisch ist, holt er sich drei Karotten, eine Paprika und eine Gurke aus dem Kühlschrank heraus und beginnt das Gemüse zu waschen und auf einem Brett in Scheiben und Streifen zu schneiden. Als ich meinen Teller in den Geschirrspüler befördert habe, schaue ich Nero zu, wie er die Gemüsestreifen in Frischhaltefolie wickelt und im Anschluss in eine Lunchbox stopft.
„Proviant für die Shoppingtour?“, hake ich neugierig nach und zeige mit dem Finger auf die Lunchbox in seiner Hand. „Mhm“, erwidert er.
„Ernährst du dich immer so gesund?“
„Ich verzichte auf vieles, Erika. Beantwortet das deine Frage?“
„Und warum?“
„Weil ich es will.“
„Hat Gott etwas damit zu tun?“, mit der Frage trete ich ihm so nahe, dass es mich nicht überrascht, dass Nero wieder einmal die Flucht ergreift. Er geht wortlos an mir vorbei auf die Tür zu und als er dahinter verschwindet, bleibt mir nichts anderes übrig als ihm zu folgen, wenn ich ihn und Drae nicht im Stich lassen will.