Nero, der Alpha - 24

Nero, der Alpha 27. Mai 2022

Die Tür zum Keller ist sogar mit “Keller” beschriftet und zu meiner Verwunderung nicht abgeschlossen. Wir verschwinden hinter dieser Tür und kommen an mehreren Türen vorbei, die mit Nummern beschriftet sind. Wahrscheinlich gelangt man vom Keller aus in die Räumlichkeiten der anderen Meister sowie umgekehrt. Die Wände des Kellers sind nicht wie erwartet und wie für einen Keller typisch aus Beton, sondern mit einem edlen und dunklem Holz verkleidet. Über unseren Köpfen sind Spotlights in der Decke eingelassen, die den schmalen Gang beleuchten. Eine Mischung aus alt und modern. Der Boden ist mit hellem Parkett bestückt und vor den einzelnen Türen liegen sogar Fußabtreter. Ganz individuelle Fußabtreter, jede Tür hat einen anderen. Tür 36 hat einen in der Farbe schwarz auf dem ein Piraten Totenkopf aufgedruckt ist. Tür 9 einen unifarbenen in Rot, Tür 14 einen pinken, auf dem mit weißer Schrift Bitch Reloaded geschrieben steht, Tür 20 hat ebenfalls einen schwarzen,  auf dem mit weißer Schrift  die Aufforderung ‚Verpiss dich, du Schwanzlutscher‘ vor dem Eintreten warnt, vor Tür 33 liegt ein bordeauxfarbener Fussabtreter mit dem Aufdruck “BOSS” und zwar in gold, Tür 7, also Peyton, besitzt einen dunkelblauen Fussabtreter mit einem Sternbild von der Waage, und zu guter Letzt Tür 17, ein Fussabtreter mit einem Pin-Up Model, dass ihr üppiges Dekolleté zur Schau stellt. Wir passieren Tür 17 und vor einer weiteren Tür ohne Fußabtreter bleibt Nero stehen und öffnet diese.

„Waschküche“, verkündet der Alpha und überlässt mir den Vortritt. Neugierig betrete ich die Waschküche und sondiere den Raum. Die Waschküche ist komplett in weiß gehalten. Boden, Wände und Decke, alles weiss gefliest. Außerdem zähle ich drei Waschmaschinen und dazu drei Trockner. Es sind aber auch Wäscheleinen gespannt, um die Wäsche gegebenenfalls aufzuhängen, statt in den Trockner zu werfen. Aktuell hängen sogar ein paar dunkelblaue Laken an den Leinen, viel mehr aber nicht.

Nero bleibt neben der Tür stehen, während ich mutig auf Erkundungstour gehe und in den Raum hineintrete. An den Wänden entlang entdecke ich längliche, weiße Boxen, die ein bisschen so aussehen wie Eistruhen. „Sind das Tiefkühltruhen?“, frage ich an Nero gewandt und er nickt träge. „Du wirst darin aber keine tiefgekühlte Erbsen vorfinden“, sagt er und im Augenwinkel nehme ich wahr, wie seine Mundwinkel abermals amüsiert zucken, als ich mich den Truhen vorsichtig nähere.

„Sondern?“, hake ich nach, drehe mich zu ihm um und befördere meine Brauen skeptisch nach oben.

„Was denkst du denn?“

Ich überlege kurz. Wir sind im Etablissement. Was könnten die hier wohl in Tiefkühltruhen lagern? Oh Gott, die haben doch nicht wirklich…  Nero scheint mein Entsetzen aufgefallen zu sein, denn er geht an mir vorbei und auf eine der Truhen zu, um diese für mich zu öffnen. Unsicher, ob ich wirklich einen Blick hinein werfen will, stelle ich mich vor dem riesigen, weißen Ungeheuer auf.  Ich linse  hinein und als ich sehe, was sich darin verbirgt, verziehe ich irritiert das Gesicht. Einzelne silberne Boxen, die mit Alufolie umwickelt sind.

„Was ist das?“

„Nichts, womit du etwas zu tun haben willst“, erwidert Nero und schließt die Truhe wieder. Vermutlich hat er recht. Besser ich weiß nicht, was sich in diesen Boxen befindet. Trotzdem frage ich mich, warum er sie mir dann überhaupt gezeigt hat.

„Jedenfalls - kann man seine Wäsche entweder selbst waschen oder sich in die Liste eintragen und Veronique übernimmt das für einen. Veronique kommt jeden Dienstag und Freitag vorbei und die Liste um sich einzutragen, befindet sich neben der Tür. Veronique’s Namen brauchst du dir nicht zu merken, der ändert sich jede Woche, diese Woche ist es Veronique, letzte Woche war es Chantale. Der aktuelle Name steht immer auf der Liste vermerkt. Aber im Prinzip ist es immer die gleiche Person, einfach mit einem wechselnden Namen.“

„Also habt ihr hier doch so etwas wie ein Putzpersonal?“, erkundige ich mich und verstehe den Sinn hinter den wechselnden Namen nicht so wirklich. Wenn immer dieselbe Person die Wäsche macht, reicht es denn nicht einfach, wenn Veronique sich einen Decknamen aussucht und diesen dann für die Dauer ihrer Beschäftigung behält? Warum machen sie es so unnötig kompliziert?

„Wir haben Veronique und Fritz. Fritz erledigt alle anderen Besorgungen. Sofern man diese nicht selbst erledigen will. Dafür gibt es ebenfalls eine Liste, diese befindet sich aber in der Gemeinschaftsküche. Der Name ändert sich, so wie der von Veronique, jede Woche.“

„Warum eigentlich? Also die Sache mit den Namen?“

Nero zuckt mit den Achseln. „Interessiert mich nicht. Genug gesehen?“

„Wäschst du deine Wäsche eigentlich selbst?“, die Frage rutscht mir einfach so heraus und ist mir im Nachhinein betrachtet sogar ein wenig unangenehm. Besonders als Nero mich so ansieht, als hätte ich ihn mit der Frage gerade beleidigt.

„Seit meinem siebten Lebensjahr wasche ich meine Wäsche selbst. Noch mehr Fragen, die dir auf der Zunge brennen, Erika?“

Ich schüttle mit dem Kopf und schlinge instinktiv die Arme um meinen Körper.

„Fantastisch, dann können wir ja weiter“, zischt Nero eine Spur zu gereizt, hält mir aber dennoch die Tür auf. Ich gehe an ihm vorbei in den Gang und folge ihm anschließend zur nächsten Tür. Hier bleibt er stehen und deutet mit seiner Hand auf den kleinen Dämonenschädel mit Teufelshörner über der Türklinke. „Fitnessraum, Sauna, Pool. Ich empfehle dir, diesen Raum nicht zu betreten, könnte klebrig und eventuell gefährlich sein ohne Begleitung. Willst du einen Blick hinein werfen?”, der Alpha zieht eine Augenbraue in die Höhe, während er die Hand auf die Türklinke befördert.

„Klebrig? Meinst du mit klebrig etwa Schweiss?“ , frage ich.
Nero verdreht die Augen und macht mit der freien Hand eine leichte Pumpbewegung vor seinem Schritt. Ich gebe ein leises “oh” von mir und schüttle mit dem Kopf. „Ich glaube, ich verzichte, mir reicht die Beschreibung, danke.”

„Hmmm“, erwidert Nero mürrisch und setzt unseren Weg fort. Die nächste Tür ist beschriftet mit Küche. Der Alpha stoppt und holt einmal tief Luft. „Die wissen bereits, dass du nicht mehr Ware sondern nun ein Lehrling bist. Das wird sie aber nicht davon abhalten,...“, er hält kurz inne und sieht mich resigniert an. „Trau einfach niemanden. Keinem. Außer vielleicht Sieben. Aber auch er kann hinterhältig sein.“

„Machst du dir etwa Sorgen um mich?“, frage ich schüchtern nach. Sowas wie Hoffnung keimt eine Millisekunde in mir auf, die sogleich erlischt, als Nero einfach die Tür öffnet und mich grob in den Raum hineinschiebt.

„Nicht um dich“, raunt er noch in mein Ohr und rauscht dann an mir vorbei. Vor dem Eingang allein gelassen, prallen unzählige, neue Eindrücke auf mich ein. Die Küche ist überschaubar aber dennoch im Verhältnis riesig. Links stehen drei Kühlschränke an der Zahl und an der Wand entlang säumt sich eine lange Küchentheke, die genug Platz bietet, um sich kulinarisch darauf entfalten zu können. Auf der Theke stehen diverse Küchenutensilien wie Toaster, Messerblock, Sandwichmaker, Reiskocher, Eierkocher und vieles mehr herum. Es gibt einen Herd mit modernen Abzugshaube, diverse Schränke mit viel Stauraum. Die Schränke sind, wie die Türen, jeweils mit Zahlen beschriftet, die vermutlich darauf hinweisen, welchem Meister der Schrank gehört. Neben der Tür, vor der ich immer noch stehe, wie bestellt und nicht abgeholt, finde ich die Liste vor, die Nero zuvor angesprochen hat.  Doch meine Aufmerksamkeit richtet sich schnell auf die rechten Hälfte des Raumes. Dort befinden sich drei längliche Holztische, mit jeweils sechs Stühlen. An einem der Holztische sitzt ein Mann. Und ich erkenne ihn  sofort wieder. Es ist der kleine Blonde, der Nero mit einer Waffe bedroht hat, als die Dominafrau uns einen Besuch abgestattet hatte. Der Mann trägt einen bodenlangen schwarzen Mantel und blättert lustlos in einer Zeitschrift herum, während er gelangweilt mit einem Löffel in einer Tasse herum rührt. Mein Fokus wandert weiter zum nächsten Tisch, der komplett leer ist und bleibt am letzten Tisch hängen, an dem Peyton zusammen mit einem anderen Kerl sitzt, den ich bisher noch nie gesehen habe. Peytons feuerroter Irokese ist heute nicht aufgestellt und hängt wie ein Vorhang über seine linke Schädelhälfte herunter, was mir sogar ein bisschen besser gefällt, als zurechtgemacht und hoch gestellt. Auch der plüschige, dunkelblaue Morgenmantel sowie das weiße Shirt, dass er darunter trägt, lassen den Mann wesentlich harmloser erscheinen, als wie gestern in seinem Nieten bestückten Lederanzug.
Von den drei anwesenden Männern im Raum - Nero einmal ausgeschlossen - ist Peyton auch der Einzige, der mich mit einem freundlichen Lächeln begrüßt und die Hand zum Gruss hebt. Der blonde Mann ignoriert mich komplett und ist zu vertieft in die Zeitschrift. Und der Typ neben Peyton sieht mich irgendwie so an, als wäre ich… sein Frühstück. Zu allem Überfluss leckt der Typ sich auch noch genüsslich über die schmalen Lippen und zwinkert mir dabei zu. Fehlt nur noch ein anzügliches Pfeifen und der Ekel wäre komplett. Anders als Nero und Peyton, die ungefähr im gleichen Alter sind, wirkt der Typ, der mit Peyton am Tisch sitzt, kaum älter als ich, obwohl er dem Anschein nach gleich groß ist wie sein Sitznachbar sein muss. Dennoch verleihen ihm die eher weiche Gesichtszüge etwas jungenhaftes. Dazu die orange-gefärbten und kurzen Haare und diese kleine Stupsnase in dem eher rundlichen Gesicht. Auch die Wahl der Klamotten und allgemein sein Stil lassen ihn jung erscheinen. Er trägt ein Bandshirt von Nirvana und ein Nietenhalsband um den Hals, schwarzen Eyeliner unter den Augen und weißes Puder auf den Wangen. Piercings stecken in Mund, Nase und Ohren und passend dazu sprudelt gerade ein Lied von My Chemical Romance - Welcome to the Black Parade aus dem Radio, der hinter Peyton auf einem alten Weinfass steht. Das Weinfass reiht sich perfekt zum Rest der eher rustikalen Einrichtung ein, denn auch die Küchentheke ist aus Holz sowie die Verkleidung an den Wänden und der Fußboden. An den Wänden hängen dekorativ auch noch ein paar Regale mit Spirituosen und Weinflaschen und in der Küche findet sich die gleiche Beleuchtung vor, wie im Flur. Spotlights.

Zögerlich mache ich ein paar Schritte in den Raum hinein und fühle wie die Anspannung zumindest ein bisschen von mir abfällt, als mich Peyton freundlich zu sich an den Tisch heran winkt.

„Schön, dass du uns noch ein bisschen erhalten bleibst, Rika“, empfängt er mich und deutet auf den freien Stuhl ihm gegenüber. „Setz dich. Das ist übrigens Jonte, der Lehrling von Tür 36”, Peyton zwinkert mir zu, als würden wir ein Geheimnis miteinander teilen. Ich sehe prompt abgeschnittene Schamlippen und tollwütige Stiere vor meinem Augen aufblitzen und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Typ mit den orangenen Haaren zu sowas Abartigem imstande sein soll. Ja, er sieht mich zwar an wie sein Frühstück, wirkt aber im Gegensatz zu den übrigen Kandidaten, denen ich im Etablissement bereits begegnet bin, rein optisch eher harmlos. Vielleicht liegt es an der Stupsnase. Oder seinen Klamotten. Oder an dem Fakt, dass er einfach so schrecklich jung aussieht…

Ich gebe ein leises „Hi“ von mir und bekomme als Antwort von Jonte einen extrem unangenehmen Kussmund mit Soundeffekt zugeworfen. Peyton funkelt Jonte daraufhin böse an und verpasst dem Jüngling mit dem Ellbogen einen Stoß in die Rippen. „Sei mal fünf Minuten anständig, Buddy“, weist er ihn in einem schroffen Tonfall zurecht, fängt aber gleich darauf an zu lachen, als könnte er sich selbst nicht wirklich ernst nehmen.

„Ich kann nichts dafür. Die bringt meine Eier zum Jucken“, verteidigt sich Jonte, lehnt er sich lässig in seinem Stuhl zurück, um mit seiner Hand für alle Welt sichtbar zu demonstrieren, wie sehr ich seine Eier zum Jucken bringe. Er kratzt sich einmal ausgiebig den Schritt und leckt sich abermals genüsslich über die Lippen. Ich werfe einen hilfesuchenden Blick über meine Schulter zu Nero, der vor einem der drei Kühlschränke steht und Irgendetwas zu suchen scheint.

„Uns jucken alle die Eier, also halt endlich mal den Rand, sonst stopf ich dir deine juckenden Eier mit Anlauf in die Fresse rein“, kläfft der blonde Mann genervt am anderen Tisch zu uns herüber und wirft treffsicher Jonte seinen Löffel gegen den Kopf. Jonte reibt sich einmal über die getroffene Stelle, doch statt sich zu beschweren, macht sich ein dümmliches Grinsen auf seinem jugendlichen Gesicht breit. „Mach doch, wenn du dich traust.“

„Alter, du gehst mir sowas von auf den Piss. Wo ist eigentlich 36? Geh doch dem auf den Sack”, der blonde Mann nimmt einen grosszügigen Schluck von der Tasse in seiner Hand und spuckt den Inhalt in unsere Richtung. Peyton verdreht mit einem Seufzen die Augen, während Jonte neben ihm direkt zum Gegenangriff ausholt und den Inhalt seiner Tasse wie ein Wasserspeier in Richtung des blonden Mannes speit. Zwischen den Tischen breitet sich auf dem Boden eine kleine, unappetitliche Pfütze aus.

„36? Der fickt die neue Ware“, schießt Jonte als Antwort zum Wasserstrahl hinterher und streckt, als wäre er nun der Sieger dieses “Anspuck-Wettkampfs”, stolz die magere Brust heraus, obwohl weder er noch der blonde Mann einen Treffer gelandet haben und es eigentlich unentschieden steht.

„Aha und warum fickst du nicht mit?“, kontert der Blonde und nimmt abermals einen Schluck von seiner Tasse. Er gurgelt den Inhalt kurz, ehe er ihn fontänenmäßig über den Tisch zu uns herüber spuckt und natürlich oder besser gesagt, Gott sei Dank, nicht trifft.

„Weil mich die Schlampe nicht anmacht. Hat Hängetitten, ganz im Gegensatz zu der Kleinen hier. Stramme schöne Tittchen“, Jontes Aufmerksamkeit springt auf mich über. Seine Augen kleben förmlich auf meiner Oberweite und ich bin froh, dass Nero’s überdimensional großer Pulli alles davon kaschiert und Jonte mit seiner Gafferei leer ausgeht.
„Meinst du mich macht jede Schlampe an, die mir hier serviert wird? Das Leben ist kein Wunschkonzert. Friss oder stirb. Am besten prägst du dir das gleich ein. Du nimmst, was dir vorgesetzt wird oder du bist hier Fehl am Platz, Jungchen”, blafft der blonde Mann zurück und grinst  dabei feindselig.

„Mhhhmmm, mach ich, mach ich. Alter Mann“, erwidert Jonte amüsiert und sieht mich an, als wäre ich nicht nur sein Frühstück sondern ein saftiges Steak, über das er sich hermachen möchte. Ich mache mich auf meinem Stuhl ganz klein und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Peyton bemerkt meine Reaktion und zieht Jonte prompt zu sich heran. „Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, zieh ich dir die Haut ab und mach mir daraus einen Strampler“, droht er und nimmt Jonte kurzerhand in den Schwitzkasten.

Jonte versucht erst gar nicht erst, sich aus den Schwitzkasten zu befreien. Im Gegenteil, er lacht los, als wäre es super lustig, im Schwitzkasten von einem Mann zu landen, der mindestens doppelt so breit ist wie man selbst. „Zählt Haut-Abziehen eigentlich als irreparable Schädigung?“, erkundigt er sich fröhlich glucksend, während Peyton den Griff um seinen Brustkorb sogar noch etwas verstärkt, als wollte er Jonte ausquetschen wie eine Zitrone.

„Grauzone“, antwortet der blonde Mann im Hintergrund und steht schwungvoll von seinem Stuhl auf, dann rollt er seine Zeitschrift zusammen und kommt mit lässigen Schritten auf uns zu. Als er vor uns zum Stillstand kommt, holt er einmal kräftig aus und schleudert dem Jungen, der im Schwitzkasten feststeckt, die Zeitschrift um die Ohren. Jonte verzieht keine Miene und lacht unbeirrt weiter.

„Manchmal hasse ich es, dass der Kerl keinen Schmerz spürt“, stöhnt Peyton frustriert auf.

„Wem sagst du das“, pflichtet ihm der Blonde bei, knallt seine Zeitschrift auf den Tisch und streckt mir anschliessend die Hand entgegen. „Ich bin Andriel, Tür 17, hocherfreut. So sieht man sich wieder.“

Zögerlich will ich die Geste erwidern, da taucht Nero hinter mir auf und stellt ein Tablett mit Essen vor uns ab. Wortlos setzt er sich auf den freien Stuhl neben mir und schnappt sich einen kleinen Teller mit einem Stück Brot, das mit Avocado und Tomate belegt ist, vom Tablett. Den Rest scheint er mir zu überlassen zu wollen. Zumindest nehme ich es an, denn er schiebt das Tablett zu mir herüber. Brot, Butter, Erdbeermarmelade, Käse, ein Ei, Salami, ein frischer Apfel und sogar eine Schüssel mit frischen Erdbeeren finden sich darauf vor. Auch Orangensaft und Wasser ist vertreten sowie zwei Gläser. Ich reiche Nero eins der Gläser und lasse Andriels Hand einfach so in der Luft stehen. Was total unfreundlich ist, aber ich erinnere mich an Nero’s Worte. Vertraue niemanden. Und prompt fängt der blonde Mann an zu grinsen.

„Ich kann das nicht ernst nehmen“, lacht er und streift sich mit der Hand, die er mir soeben noch hingestreckt hat, elegant über die blonde Haarpracht. „Du weißt schon, dass die nur zu einem Zweck da ist, oder?*, die Frage von Andriel ist an Nero gerichtet, nicht an mich. Doch dieser macht das, was er am besten kann. Er ignoriert den anderen Meister gekonnt und setzt eine gelangweilte Miene auf, während er einen Bissen von seinem super gesunden Frühstück nimmt. Wird er davon überhaupt satt? Von einem Stück Brot mit etwas Avocado und Tomate?

„Die ist nur hier, damit du endlich deine Hörner an ihr abstoßen kannst, du elendige Jungfrau“, schiebt Andriel schnaubend hinterher und bringt damit Jonte wieder zum Lachen, der es sich inzwischen in Peytons Schwitzkasten gemütlich gemacht hat. Offenbar war das nicht nur so daher gesagt, dass der Typ keinen Schmerz spürt. Da scheint etwas dran zu sein, denn das Gesicht von ihm läuft zwar langsam rot an, aber ansonsten zeigt Jonte keine Regung, die Schmerzen vermuten lassen würden.

„Du bist nur eifersüchtig, 17“, schaltet sich Peyton neckisch grinsend ein und entlässt Jonte endlich aus seinem Klammergriff. „Nimm's dir nicht so sehr zu Herzen. Irgendwann findest auch du deine Traumfrau.“

„Weißt du, warum es den Begriff ‚Traumfrau’ überhaupt gibt?“, Andriel befördert seine Mundwinkel so weit hoch, dass sich kleine Fältchen um seine hellblauen Augen bilden. „Ist eine Utopie. Wie Einhörner. Wäre zwar klasse, wenn sowas wie Einhörner oder Traumfrauen existieren würden, aber in Wirklichkeit wissen wir es doch alle besser. Frauen sind nur zum Ficken da. Und sobald der Junge dort drüben gelernt hat, wie‘s geht, ist die Braut weg vom Fenster. Tschüss und Hasta la Vista, Baby!“

„Wo er recht hat“, stimmt Jonte Andriel zu und glotzt mir wieder auf die Brüste, obwohl es da nicht viel zu sehen gibt außer Nero’s Pullover. „Wie viel Ärger bekomme ich wohl, wenn ich sie auch mal durchnehme?“

„Gute Frage”, die beiden Männer grinsen um die Wette und obwohl sie sich vorher noch einen erbitterten Anspuck-Wettkampf geliefert haben, ist es offensichtlich, dass sie auf der gleichen Wellenlänge surfen.

„Ohhhh, das ist mein Song!“, flötet Peyton plötzlich und steht abrupt von seinem Stuhl auf. Irgendein mexikanisches Lied sprudelt aus dem Radio hinter uns und erfüllt den Gemeinschaftsraum mit orientalischen Klängen. „Kannst du Tanzen, Rika?“, erkundigt sich der Mann mit dem Irokesen bei mir, während er bereits die Hüften passend zu der Musik kreisen lässt. Ich nicke unsicher, völlig überfordert mit der aktuellen Situation. Peyton lächelt mich an und deutet mit seinem Kinn Richtung Küche. „Spendierst du mir einen Tanz, Süsse?“

„W..as?“

Ich kapiere erst, dass Peytons kleine Tanzeinlage  lediglich zur Ablenkung dient, als Nero die Ablenkung nutzt, um Jonte grob am Nirvana-Shirt zu packen, über den Tisch und an sich ran zu ziehen bis ihre Nasen miteinander kuscheln. „Sollte ihr etwas zustoßen, sorge ich dafür, dass du niemals wieder eine Frau auf diese Art und Weise nehmen wirst. Glaube mir, ich kenne mich mit Grauzonen bestens aus und kenne Mittel und Wege, dir jeglichen Spaß an deinem Treiben zu nehmen, wenn mir der Sinn danach steht. Ich mache dich kaputt. Ich breche dich. Ich zerstöre dich”, droht Nero und in seiner Stimme schwingt so viel Boshaftigkeit mit, dass ich vor Schreck, die Luft anhalte und mich auf das Schlimmste gefasst mache.

„Ach ja?“, schnaubt Jonte angriffslustig, aber wenig beeindruckt von Neros Ansage.

„Ja“, bestätigt ihm Nero amüsiert und das Lächeln, dass seine Mundwinkel umspielt, ist eiskalt. „Lass den Jungen los. Die Schlampe ist es nicht wert, dass ihr beide euch an die Gurgel geht“, mischt sich Andriel ein, dessen gute Laune sich wohl aus dem Staub gemacht hat. Der Mann wirkt sogar etwas besorgt, als würde zumindest er Nero zu trauen, seine Drohung in die Realität umzusetzen und Jonte wirklich etwas anzutun. Wahrscheinlich würde Nero es auch tun. Nero ist niemand, der grundlos aus der Haut fährt, wie ich bereits feststellen musste. Aber ich mache mir nichts vor. In erster Linie geht es hier um Drae, nicht um mich. Sollte mir etwas passieren, dann sieht Nero seine Hündin niemals wieder. Und für seine Hunde ist der Mann sogar bereit zu töten. Ganz besonders für Drae.

Als ich unerwartet Peytons warme Hand an meinem Oberarm spüre, zucke ich zusammen, als hätte der Mann mir einen Stromschlag verpasst. „Komm her“, schnurrt Peyton völlig unbeeindruckt von meiner Reaktion oder dem Streit, der am Tisch tobt, zieht mich von meinem Stuhl hoch und wirbelt mich in seine Arme. Dann drängt er mich mit seinem tanzenden Körper immer weiter weg von den anderen, als wollte er mich aus der Gefahrenzone bugsieren oder Schlimmeres. Gleichzeitig versperrt er mir aber auch die Sicht. Ich will protestieren und mich aus seinen Armen befreien, um zurück zu Nero zu gelangen, da spüre ich schon Peytons kräftige Hände an meiner Hüfte. Ich erstarre wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

„Du hast Ballett getanzt, richtig?“, erkundigt er sich.

Ich blicke zu dem Mann hoch und da ist es wieder. Dieses warme und einladende Lächeln in dem markanten Gesicht und dieses Lächeln steht völlig im Kontrast zu der rabiaten Erscheinung dieses Mannes. Und auch die Herzchen-Boxershorts und die roten Plüsch-Sandaletten, die er heute trägt und die mir zuvor, unter dem Tisch verborgen, natürlich nicht aufgefallen sind, irritieren mich für einen Augenblick so sehr, dass ich nicht anders kann, als total perplex seine untere Partie anzustarren und zu versuchen, mir einen Reim auf alles zu bilden. Herzchen-Unterwäsche und Plüschsandaletten im Etablissement?

„Ich…“, quetsche ich heraus und habe die Frage bereits vergessen. Was wollte er wissen?

„Nur diesen einen Tanz, Rika. Machst du mir diesen Gefallen? Ja?“, fleht mich Peyton an, klimpert unschuldig mit den Wimpern und legt dabei wie ein Hündchen den Kopf schief. Ich verstehe nicht ganz, was das alles soll, doch als Peyton die Hände von meiner Hüfte nimmt und eine kleine Solonummer vor mir einlegt, die einerseits witzig ist, wegen dem sonderbaren Outfit, das er trägt, und beeindruckend zugleich, muss ich kichern. Ein Mann der Kontraste und dieser Mann bewegt sich unglaublich gut zur Musik, das muss man ihm lassen, aber Singen.. singen kann er so gar nicht. Scheint ihn überhaupt nicht zu stören. Er strahlt mich an, trällert voller Inbrunst und total schief mit dem Sänger die Strophe mit und streckt mir dabei auffordernd die Hand hin. „Bitte, bitte, bitte… tanz mit mir.”
Irgendwie schafft es der Mann auf seine Art und Weise umwerfend auszusehen und das trotz Morgenmantel, Sandaletten und Herzchen-Boxershorts. Zögerlich nehme ich die Tanz-Aufforderung an und lande direkt wieder in seinen muskulösen Armen. Zuerst stelle ich mich unbeholfen an, weil ich die Schrittfolge von Salsa überhaupt nicht kenne und noch nie so getanzt habe, aber Peyton ist geduldig, führt mich und nach kurzer Zeit habe ich den Dreh irgendwie raus und bewege mich im Tempo der Musik mit ihm mit. Dabei kommen wir uns unglaublich nah. So nah, dass ich die Hitze von seinem Körper spüren kann, genauso wie sein Temperament und auch die Leidenschaft fürs Tanzen. Das ist nicht nur ein Ablenkungsmanöver. Dieser Mann liebt es wirklich zu tanzen. Und er ist richtig richtig gut darin. Es macht sogar wahnsinnig viel Spass mit ihm durch die Küche zu wirbeln, bis er mich einmal mit Schwung unerwartet um 180 Grad dreht und meine Hüfte eng gegen seine drückt, so eng, dass mein Po mit seiner Lende kuschelt. Jetzt wäre ich dran, den Rhythmus beizubehalten, aber das würde bedeuten, mich gleichzeitig auch an ihm zu reiben. Ich versteife mich. Alleine die Vorstellung bereitet mir Unbehagen und Peyton bekommt diese Veränderung mit, denn er nimmt meine Hand, führt sie über meinen Kopf und lässt mich eine Umdrehung machen, so dass mein Po aus der Gefahrenzone kommt. Dankbar lächle ich ihn an und bin erleichtert, dass er schnell reagiert hat und mich zu nichts zwingt, was ich nicht will. Eigentlich so ganz und gar nicht Etablissement-konform.

Als das Lied vorbei ist, sind wir beide etwas aus der Puste und ich war so vertieft ins Tanzen, dass mir gar nicht aufgefallen ist, dass Andriel und auch Jonte verschwunden sind. Lediglich Andriels Zeitschrift liegt noch auf dem Tisch. Ein Blick auf das Cover und ich werde so rot, wie die Tomaten auf Neros Brotscheibe. ‚Pralle Titten XXL‘ steht in pinker Schrift auf dem Magazin und auf dem Titelblatt sind ein paar XXL-Brüste abgebildet. Ein Pornoheftchen. Wow. Ich sollte nicht überrascht sein.

„Das war…verdammt gut, Rika“, schwärmt Peyton und schwingt seinen Hintern zurück auf seinen Stuhl. Ich setze mich ebenfalls hin und schaue schüchtern zu Nero, der kaum etwas gegessen hat. Das Tomaten-Avocadobrot liegt beinahe unberührt auf dem Teller und Nero macht den Anschein komplett in Gedanken versunken zu sein. Peyton schnippt einmal mit dem Finger und holt Nero damit zurück zu uns an den Tisch. Der Alpha blinzelt verwirrt, fängt sich aber schnell, als er uns sieht.

„Alles in Ordnung?“, erkundigt sich Peyton bei Nero. Nero blickt auf seinen Teller hinunter und nimmt sein Brot in die Hand. „Teilst du 17‘s Meinung?“

„Du meinst, dass Rika nur zu einem Zweck da ist?“, Peyton mustert mich und sieht dann wieder Nero an. „Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Als die Mitteilung kam, dass sie dir einen Lehrling zugeteilt haben und ich Rikas Foto gesehen habe, war das auch mein erster Gedanke, das gebe ich zu, vor allem nach dem fiesen Patzer in deiner Liveshow. Andererseits, wenn es wirklich darum ginge, dass du dir die Hörner abstoßen sollst, hätten sie dir auch einfach einen Trip ins Loveland spendieren können. Vielleicht sehen sie wirklich etwas in ihr, was wir alle noch nicht sehen können.“

Nero lacht kalt auf. „Sie ist nicht das Problem“, zischt er und wirft mir einen finsteren Blick zu. „Ich hatte alles unter Kontrolle, bis 27‘s Ware bei mir abgeliefert wurde.“

„Du meinst diese Johanna?“, hakt Peyton nach und wirkt überrascht.

„Ja.“

„Sie ist also wirklich bei dir? Ich dachte, das war nur so daher gesagt.“

„Sie ist bei mir und schwanger. Das Kind, was sie unter ihrem Herzen trägt, hat Drae sofort verrückt spielen lassen. Sie hat mich nicht mehr an diese Frau heran gelassen, ohne nach mir zu schnappen. Ich hätte es unterbinden können, ja, aber ich kann mein übliches Programm bei einer Schwangeren nicht durchzuziehen. Es widerstrebt mir und töten kann ich diese Frau auch nicht, ohne das unschuldige Leben in ihr gleich mit auszulöschen. Und wenn ich diese Frau in das rote Zimmer zu den anderen stecke, weiß ich nicht, wie lange es dauert, bis sie dasselbe mit diesen Frauen macht, was sie mit Erika gemacht hat. Und freilassen ist keine Option.“

Peyton greift mit erhobenen Augenbrauen nach dem Orangensaft auf meinem Tablett und schenkt sich ein Glas ein. Er nimmt einen Schluck und schielt nachdenklich zu der Zeitschrift auf dem Tisch. „Und wenn du sie an jemanden übergibst, der zum Beispiel keine Skrupel hat, sein Programm auch bei einer Schwangeren durchzuziehen?“, Peyton tippt mit einem Finger auf die Zeitschrift und sieht Nero fragend an.
„Und wenn dasselbe passiert, was mit 27 passiert ist? Unterschätze diese Frau nicht. Ich habe sie erst zwei Tage und du siehst, wohin sie mich gebracht hat“, entgegnet Nero kühl und nimmt einen Bissen von seinem Brot.

„Ich glaube, es gibt keine Frau, die es schafft, 17 aus der Bahn zu werfen oder du gibst sie 36 und lässt Jonte und Kai mit ihr Spass haben. Aber dann könntest du sie wohl auch direkt selbst kaltmachen. Weisst du, in welchem Monat sie denn ist?“

„Ziemlich am Anfang.“

„Aha, also noch ganz frisch“, Peytons Fokus schwingt auf mich über. „Wie stehst du zu ihr, Rika? Seid ihr Freundinnen?“

Prompt befördert mich Peyton mit der Frage zwischen zwei Fronten. Ich schlucke. Ist das der Moment, in dem ich mich für eine Seite entscheiden muss? Soll ich den beiden erzählen, was ich über Johanna weiß oder lieber den Mund und zu Johanna halten, die mich genau genommen aus meiner misslichen Lage gerettet und davor bewahrt hat, eine der Frauen im roten Zimmer zu werden? Ich merke, wie ich mit jeder Sekunde, die verstreicht, nervöser werde. Was soll ich tun? Sind Johanna und ich überhaupt sowas wie Freundinnen oder benutzt sie mich nur für ihre Studie und um sich selbst zu retten? Dass die beiden Männer so offen vor mir über ein Problem sprechen, verunsichert mich nur umso mehr. Liegt es daran, dass ich nun ein Lehrling bin und theoretisch dazu gehöre? Zum Etablissement? Oder verfolgt Nero einen ganz anderen Plan? Ich linse zu ihm herüber und als auch seine eisblauen Augen mich erfassen, wird mir ganz mulmig. Ich kann die Situation so gar nicht abschätzen. Was soll ich nur machen….

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