Nero, der Alpha - 23
Als ich ausgerüstet mit einer Wolldecke über der Schulter durch die Tür nach Draußen gehe, werde ich von warmen Sonnenstrahlen empfangen und von Tuga, der freudig auf mich zu trottet, um mich in Empfang zu nehmen. Ich streichle ihm übers Köpfchen und bin überwältigt von dem Anblick, der sich mir bietet. Eine breite, alte Holztreppe führt von Neros Zimmer hinunter auf eine riesige und saftig grüne Rasenfläche. Zwei Campingstühle stehen dicht nebeneinander vor einer kleinen Feuerstelle und weiter hinten fängt der Wald an. Farg rangelt gerade mit Kyr auf dem Rasen herum, während Zor einfach friedlich im Gras liegt und vor sich hin träumt. Nero versucht Ignar aufzurichten, der nur wackelig auf seinen vier Beinen steht und auf mich einen leicht weggetretenen Eindruck macht.
Das Wetter ist wunderschön und es riecht herrlich nach Wald und Frühling. Wer hätte gedacht, dass es selbst im Etablissement schöne Ecken gibt, an denen man sich gerne aufhält?
Ich setze mich auf die zweitunterste Treppenstufe und genieße das warme Licht, das in mein Gesicht fällt. Es ist etwas kühl draußen und ich bin froh, dass ich die Decke um mich gewickelt habe, denn es ist viel zu kalt, um nur im Kleid rauszugehen. Für unseren Shopping Ausflug muss ich mir einen Pullover oder eine Jacke von Nero ausleihen. Meine eigene Jacke habe ich damals, als ich hergebracht worden bin, im Auto des Mittelsmanns liegen lassen und so wie es aussieht, wurde diese nicht bei Nero abgegeben, sonst hätte er sie mir vermutlich zusammen mit meinen anderen Anziehsachen zurückgegeben.
Tuga setzt sich vor mich auf die erste Treppenstufe und holt sich ein paar weitere Streicheleinheiten ab, während Ignar gestützt von Nero sein Geschäft verrichtet. Ich hoffe, die Konsequenzen, die die Dominabraut erhalten wird für das, was sie Ignar angetan hat, haben es in sich. Der graue Wolfshund tut mir leid und es ist rührend, wie liebevoll sich der Alpha um ihn kümmert. Trotzdem wäre es vielleicht besser, Ignar zu einem Tierarzt zu bringen, aber irgendwie bezweifle ich, dass Nero sich von mir etwas sagen lassen würde.
Nachdem Ignar mit seiner “Morgentoilette” fertig ist, kommt der Alpha auf mich zu.
„Wenn ich dich so mitnehme, verspeisen die anderen dich zum Frühstück“, murmelt er leise vor sich hin und läuft dann, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, schlecht gelaunt an mir vorbei die Treppe hoch. „Warte hier“, sagt er noch, ehe er hinter der Tür und ins Zimmer hinein verschwindet. Perplex rufe ich ihm hinterher, wer mich denn zum Frühstück verspeisen wird, doch eine Antwort erhalte ich nicht, dafür wenig später einen von Neros Pullover. In der Farbe schwarz. Laut der Esoterik-Website Neros Lieblingsfarbe.
„Zieh den an, aber die Decke bleibt hier“, Nero reicht mir den Pullover und nimmt mir die Wolldecke ab, um sie in sein Zimmer zurück zu bringen. Ich wollte ihn ja sowieso nach einer Jacke oder einem Pullover fragen. Kurzerhand ziehe ich den Pullover über das Kleid an und rechne bereits damit, dass er mir viel zu groß sein wird. Er rutscht mir sogar ein bisschen von Schultern und wie Neros T-Shirt zuvor geht mir der Pulli bis zur Mitte Oberschenkel, so dass nur noch ein kleiner fliederfarbener Teil meines Kleids unten heraus guckt. Meine Hände versinken komplett im Stoff des Pullis, also muss ich die viel zu langen Ärmel etwas zurückschieben respektive hochkrempeln. Irgendwie komme ich mir in Neros Klamotten viel winziger vor als ich bin, aber Nero ist halt auch ein Riese. Als ich fertig bin, an mir herum zu nesteln und den Pullover zu richten, begutachtet mich der Alpha einmal von oben bis unten und seufzt dann resigniert.
„Was ist?“, frage ich und schaue ebenfalls an mir herunter, um nach dem Grund seines Seufzens zu suchen. Na gut, die weißen Ballerinas und die niedlichen Rüschen-Söckchen passen nicht so wirklich zum Rest des Outfits dazu. Genau genommen passe ich einfach nicht ins Etablissement. So überhaupt gar nicht. Zumindest nicht, wenn ich hier als Lehrling fungieren und mir Respekt verschaffen soll. Ich sehe aus, wie etwas, dass man unter den Stiefeln zertreten könnte und irgendwie fühle ich mich in der Rolle so ganz und gar nicht wohl.
„Tür 7, 9, 14, 17, 20, 33 und 36 teilen sich mit mir zusammen Gemeinschaftsräume. Du wirst ihnen also begegnen und du wirst ihn an deiner Seite brauchen, denn absolut keiner wird dich hier ernst nehmen“ Nero zeigt auf Tuga. „Du hast seinen Bruder gerettet. Er würde alles für dich tun. Und mit alles, meine ich alles“, die Mundwinkel des Alphas zucken kurz amüsiert und alleine diese kleine Regung in Neros sonst so emotionslosen Gesicht verpasst meinem eine unangenehme Röte. Natürlich weiß ich, worauf der Mann anspielt. Und seine Art Witze zu machen und dann auch noch auf meine Kosten, ist neu und irgendwie ungewohnt.
„Haha, sehr lustig“, quetsche ich mühsam hervor. Ich verziehe das Gesicht und betrachte den Hund vor mir. Plötzlich kommt mir eine Idee. „Tuga?“, und prompt sieht mich Hund erwartungsvoll an. „Fass!“, befehle ich und deute mit meinem Zeigefinger auf Nero. Statt zu gehorchen und alles zu machen, was ich will, wedelt Tuga nur fröhlich mit dem Schwanz herum und befördert seine Vorderpfoten auf meine Knie, um mir einmal quer über die hochroten Wangen zu lecken.
„Meintest du nicht, er macht alles, was ich will?“, maule ich und schiele gequält zu Nero rüber, der sich köstlich amüsiert. „Fast alles“, korrigiert er seine vorherige Aussage und grinst überheblich. „Mir gehorcht er aufs Wort. Hättest du die Zunge gerne woanders?“
„Deine oder seine?“, ziehe ich den Alpha auf und… übertreibe es damit, denn Neros Lächeln fällt in sich zusammen wie eine baufällige Ruine nach dem Kuss einer Abrissbirne.
„Steh auf und komm mit“, fordert er mich in einem monotonen Tonfall auf und dreht sich provokant von mir weg. Wie kann der Mann, der selbst Witze über sowas reisst, nur so sensibel reagieren, wenn man es auf seine Kosten tut? Ich schubse resigniert Tuga von mir runter und rapple mich auf. Nero gibt dem Hund das Kommando hierzubleiben, im Anschluss folge ich dem Alpha zu einer anderen Treppe, die ins Untergeschoss und zum Keller führt.