Nero, der Alpha - 19
Nero sinkt vor dem Lift auf die Knie und verfrachtet seine Hände wie automatisch unterwürfig auf den Rücken, als hätte ihm jemand imaginäre Handschellen umgelegt.
„Na geht doch“, lacht Red und auch Blue stimmt mit ein. „Uns sterben die Meister heute ja weg wie die Fliegen, - oder lebt der noch?“
Nero wirft einen Blick auf den Mann neben sich, der immer noch die Sturmhaube auf dem Kopf trägt. „Er atmet“, beantwortet Nero die Frage. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie erleichtert es mich, dass nicht noch jemand sterben musste, weil ich das alles hier mit meinem Benehmen ins Rollen gebracht habe.
„Immerhin einer, der heute nicht ins Gras beisst, was? Also reden wir über die anstehenden Konsequenzen. Die weiße Hündin ist nun erstmal in unserer Obhut.“
Allein diese Aussage löst so viel sichtbaren Schmerz in Neros Gesicht aus, dass selbst mein Herz anfängt zu bluten alleine von dem Anblick. Und dann knurrt der Alpha. Knurrt wie ein Wolf, den man in die Enge getrieben hat. Knurrt, als wollte er alles auseinander nehmen.
„Wir behalten sie solange bei uns, wie notwendig. Du lässt uns keine andere Wahl, 16. Deine Gefühle machen dich verwundbar und berechenbar. Lenkbar. Aber wir sind keine Unmenschen. Als Austausch stellen wir dir ein neues Weibchen zur Seite. Du wirst Erika für 60 Tage als Lehrling bei dir aufnehmen. Stellst du uns zufrieden, wirst du deinen weissen Liebling wohlbehalten zurückbekommen. Machst du Fehler oder kommst auf die Idee, deinen Schatz zu suchen oder zurückzuholen, werden wir kurzen Prozess mit ihr machen. Falls es dir entgangen sein sollte, du bist nun unsere Marionette. Wir ziehen an den Fäden, du führst aus. Das Prinzip sollte dir ja nicht neu sein“, Red hält kurz inne und man hört Papier rascheln. „Es sei denn, Erika möchte lieber zu einem anderen Meister und lehnt unser Angebot ab? Dann überlegen wir uns selbstverständlich was anderes.“
Nero sieht mich an und in seinen Augen ist die Bitte klar und deutlich erkennbar. Wieder einmal liegt die Entscheidung bei mir, ob ich Nero helfen oder ihn untergehen lassen möchte. Ich krieche unter dem Tisch hervor und richte mich langsam und mühsam auf. Obwohl ich hin und her wanke wie ein Boot auf hoher See und mein Kopf noch immer dröhnt von den Schlägen, die ich einkassiert habe, gibt es nur eine Antwort auf Red‘s Frage.
„Ich nehme das Angebot an.“
„Sehr gut“, erwidert Green und klatscht dem Geräusch zufolge, was durch die Lautsprecher Boxen erklingt, erfreut in die Hände.
„Was die Sache mit deiner Jungfräulichkeit betrifft, 16“, Blue lässt offenbar nicht locker mit dem Thema. „Solange du aggressiv bleibst und wenn ich mir den Zustand von 8 so ansehe, kann ich sagen, dass dein Platz in der Rangliste durchaus noch gerechtfertigt ist, wenn man dich genügend reizt. Also sehen wir davon ab, dass du jetzt und hier weitermachen musst, wo 8 aufgehört hat. Erstens haben wir keine Zeit, obwohl es bestimmt schnell vorbei sein würde“, Blue lacht einmal laut auf, als wäre der Seitenhieb irgendwie witzig gewesen. „Und Zweitens bezweifle ich, dass du überhaupt einen hoch kriegen würdest, wenn ich das hier mache.“ - Drae‘s Jaulen ist erneut zu hören, diesmal sogar lauter, länger und durchdringender als zuvor. Mein Fokus schnellt auf Nero und obwohl seine Haare ihm ins Gesicht hängen und er den Kopf demütig gesenkt unten hält, erkenne ich sie. Die Tränen, die über seine Wange laufen und von seinem Kinn auf seinen Schoß tropfen. Oh Gott, Nero…
„Ich liebe solche Momente. Gerade rechtzeitig bei uns eingetroffen, das hübsche Ding. Ach 16, sollte es ein nächstes Mal geben, unterschätze uns nicht. Wir wissen ganz genau, wie wir an unser Ziel kommen. Alles andere ist nur ein netter Zeitvertreib. Green wird sich um die nötigen Vorkehrungen kümmern. Er wird dir alles zukommen lassen, um unsere Erika erfolgreich in die Welt des Etablissement einzuführen. Und eine Sache noch. Du bist verantwortlich für sie. Sollte ihr etwas zustoßen oder sollte sie abhauen, wirst du zur Rechenschaft gezogen. Also pass gut auf die Kleine auf, wenn du dein Hündchen zurückhaben willst. Von meiner Seite aus wäre das Meeting beendet.“
„Ich habe dem auch nichts mehr hinzu zu fügen. Wir beobachten, wie die Sache läuft und 16, Zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Denk darüber nach, ohne uns bist du ein Nichts. Und nach dem heutigen Abend wird dir bestimmt bewusst geworden sein, dass wir dich und deine Arbeit sehr schätzen.“ Red‘s letzte Worte hören sich mehr wie eine Drohung als wie ein Kompliment oder ein Lob an. Es schwingt eine gewisse Boshaftigkeit in seiner verzerrten, metallischen Stimme mit.
„Du wirst von mir hören, 16. Und Erika, viel Spaß im Etablissement. Lass uns die Entscheidung nicht bereuen“, meldet sich nun auch Green zu Wort. Und als hätten sie Nero nicht schon genug gefoltert, quälen sie ihn ein letztes Mal mit Drae‘s kläglichen Jaulen, ehe sie sich verabschieden und den Lift hinter Nero freigeben.
Schweigend begeben wir uns zurück zur Treppe und als wir sie hinaufgehen, wird mir erst bewusst, was ich soeben getan habe. Ich habe weitere 44 Tage auf mich genommen. 44 weitere Tage im Etablissement. Oder sind es 60 Tage und die Tage, die ich schon hier bin, zählen nicht? Mühsam versuche ich mich zu erinnern, was genau Green, Red oder Blue gesagt haben, aber in meinem Kopf ist so viel Chaos, dass es unmöglich ist, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen und Nero zu fragen, traue ich mich nicht. Er weint noch immer. Es ist ein lautloses Weinen und Neros Haltung spricht Bände. Er ist gebrochen. Sie haben ihn gebrochen. Die Drei aus der Chefetage haben keinen Hehl daraus gemacht, dass sie am größeren Hebel sitzen und ich frage mich, ob alle Meister nur ihre Marionetten sind. Menschen, die von anderen Menschen dazu gezwungen werden anderen zur Unterhaltung und fürs große Geld wehzutun. Schlagartig wird mit die Intensität von Neros Worten bewusst. Er muss die Frauen kaputt machen, selbst wenn er keine Freude dabei verspürt. Und ich dumme Kuh werde ihm nun dabei helfen müssen, weil Blue, Red und Green in mir eine neue Geldquelle sehen, aus der sie Profit schöpfen wollen. Ich soll anderen Frauen dasselbe Leid zufügen, was ich selbst erdulden musste? Kann ich sowas überhaupt? Skrupellos soll ich sein. War das wirklich skrupellos von mir, mich gegen Nero aufzulehnen und die Hunde auf Will zu hetzen? Habe ich mich selbst in den 24 Tagen etwa verloren? Und warum haben diese Schweine mir das Angebot gemacht und nicht so einer wie Johanna, die ihren Meister hinterhältig einfach abgestochen hat? Sie ist skrupellos. Sie hat mich auch dazu angestiftet, mich gegen Nero aufzulehnen und trotzdem ist sie nun nicht an meiner Stelle, kein Lehrling. Ob sie sich überhaupt noch hinter Tür 16 befindet oder haben sie sie mitgenommen als sie auch Drae entführt haben?
Vor seiner eigenen Tür, Tür 16, bleibt Nero stehen und holt den Schlüssel aus der Hose. Ich bemerke, wie seine sonst so ruhigen Hände zittern. Am liebsten hätte ich ihm den Schlüssel aus der Hand genommen und die Tür für ihn geöffnet. Aber das würde er wieder als Demütigung ansehen, also schaue ich mit schweren Herzen zu, wie er sich abmüht, um den Schlüssel ins Schlüsselloch zu bekommen. Was wird uns wohl hinter dieser Tür erwarten? Ein Gemetzel?
Als Nero den Schlüssel im Schloss umdreht und die Tür langsam aufstößt, halte ich die Luft an. Der Anblick, der sich uns bietet, verpasst mir einen gewaltigen Schock.
Das Erste, was mir ins Auge sticht, sind die vier Rüden, die mitten im Raum nebeneinander wie im Krieg gefallene Soldaten aufgereiht sind und auf dem Boden liegen. Von links nach rechts. Zor, Tuga, Kyr und Farg. Dahinter an der grauen Wand ist mit Blut ein glückliches Smileygesicht aufgemalt. Wie makaber. Im Zwinger selbst liegt respektive sitzt Johanna. Die Klamotten, die sie von Nero bekommen hat, sind völlig zerrissen und sie ist mit Handschellen an den Gitterstäben hinter ihrem Rücken angemacht. Ein seltsamer Geruch drängt sich uns entgegen. Eine Mischung aus faulem Obst und angebranntem Zucker. Während ich wie festgefroren auf die abscheuliche Szenerie starre, hält sich Nero eine Hand vor Mund und Nase und nähert sich vorsichtig und langsam seinen Hunden. Vor Farg geht er in die Knie, prüft den Hund, drückt sein Ohr gegen Fargs Bauch, schaut ihm in den Mund, bewegt seine Beine, seinen Kopf und geht dann zum Nächsten über. Gleiches Spiel bei Kyr. Ich beobachte Nero und komme mir dabei so furchtbar nutzlos vor.
„Ist mir ihnen alles in Ordnung?“, frage ich schüchtern nach, als Nero auch Tuga abtastet. Nero sieht mich nicht an, er macht einfach weiter und erst als er mit Zor fertig ist, richtet er sich auf und lädt den schwarzen Rüden auf seinen Armen auf. Ohne ein Wort läuft er mit dem Hund den Flur hinunter und lässt mich mit den drei übrigen Hunden sowie Johanna und den endlos vielen Fragen in meinem Kopf allein im Hauptraum zurück.
‚Mach was, Rika‘, drängt eine Stimme in meinem Kopf und sie hat recht. Ich kann hier nicht einfach nur rumstehen. Langsam löse ich mich aus meiner Starre und schliesse die schwere Tür mit der Nummer 16 hinter mir zu. Tuga ist meine erste Anlaufstelle. Ich gehe vor dem Hund in die Knie und mache genau dasselbe, was Nero bereits getan hat. Ich presse mein Ohr auf seinen Bauch und als ich einen Herzschlag höre, atme ich erleichtert aus. Sie leben. Wahrscheinlich sind sie alle nur betäubt oder ausgeknockt.
Nero kehrt ohne Zor zurück und als er mich vor Tuga knien sieht, nickt er mir einmal zu und lädt dann Farg auf seinen Armen auf, um mit ihm ebenfalls in den hinteren Räumen zu verschwinden. Er bringt die Hunde irgendwohin. In Sicherheit. Vermutlich in sein Zimmer. Ich schaue Nero hinterher und als er außer Sichtweite ist, mache ich ein paar zögerliche Schritte auf den Käfig zu. Johanna rührt sich nicht und da sie vorher schon ziemlich übel zugerichtet ausgesehen hat, fällt es mir schwer einzuschätzen, ob neue Verletzungen dazu gekommen sind. Ich schleiche mich an sie heran und wie zuvor bei Tuga, knie ich mich vor sie hin. Erleichtert stelle ich fest, dass ihr Brustkorb sich langsam hebt und senkt. Sie atmet. Ich drücke meine Handfläche gegen ihre Stirn und anschließend gegen ihre Wange, um ihre Körpertemperatur zu fühlen. Scheint ganz normal zu sein, kein Fieber.
„Johanna?“, ich schüttle sie vorsichtig. Sie verzieht nur ein bisschen das Gesicht, rümpft die Nase, zieht die Stirn kraus, murmelt irgendetwas vor sich hin, aber ist nicht wirklich ansprechbar. Aus einem Impuls heraus greife ich nach ihrem linken Arm und überprüfe die Armbeuge. Keine Einstichstellen. Ich wiederhole selbiges mit dem rechten Arm, aber auch hier finde ich nichts. Vielleicht Chloroform? Irgendetwas müssen sie ihr verabreicht haben, denn sie wirkt total weggetreten. Ich befreie mich aus der Wolldecke und lege sie Johanna um, um sie warm zu halten, dann widme ich mich den Handschellen um ihren Handgelenken. Ich zerre und rüttle daran. Wie nicht anders zu erwarten, bekomme ich die so nicht auf. Mist. Ich schaue mich einmal im Zwinger um und taste Johanna ab, doch ein Schlüssel, um die Handschellen zu öffnen, finde ich nicht. Nero kehrt zurück und hievt Tuga auf seine Arme auf.
„Sie lebt, aber ich bekomme die Handschellen nicht auf“, informiere ich Nero, der sieht mich nur kurz an, zuckt mit den Schultern, als wäre ihm das egal, und verschwindet mit Tuga im Flur. Na großartig, jetzt wo Drae weg ist, ist Johanna ihm und seinem Zorn natürlich komplett ausgeliefert und das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass ich nun nicht mehr das Opfer bin, sondern sozusagen seine Assistentin aka seine Komplizin, was so viel heißt wie, dass ich Johanna auf sein Geheiss Schmerzen zu fügen werden muss. Ich will das nicht. Absolut nicht. Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Rika, du bist so unfassbar blöd. Seufzend setze ich mich neben Johanna auf den Boden und lehne meinen Rücken an die Gitterstäbe an. Wer auch immer Drae geholt hat, muss unmittelbar nachdem wir die Tür verlassen haben, irgendwie eingebrochen sein und es geschafft haben, die Hunde zu betäuben, bevor sie angreifen können. Bloß wie? Wieder blicke ich mich im Raum um. Spontan fallen mir Betäubungspfeile ein, so wie sie es in Zoos anwenden, wenn ein Raubtier transportiert oder ruhig gestellt werden muss. Aber ich bezweifle, dass irgendjemand es schaffen könnte, alle vier Rüden ganz schnell und ohne groß Aufsehen zu erregen mit Pfeilen zu betäuben, ehe einer angreifen könnte. Und auch ein präparierte Fleischstücke mit Betäubungsmittel in den Raum werfen und darauf hoffen, dass sich die Hunde darauf stürzen werden, halte ich eher für unwahrscheinlich. Zumal ich nicht glaube, dass Neros Hunde sich von Fremden füttern lassen würden, so gut trainiert wie sie sind.
Nero kehrt mit der Matratze aus dem Duschraum zurück. Ich mache große Augen, als er sie in den Zwinger hineinschiebt und vor mich und Johanna auf dem Boden ablegt. Er schenkt mir keinerlei Beachtung, steigt aus dem Zwinger und kümmert sich um Kyr. Wie zuvor bei den anderen lädt er auch den schwarzen Rüden auf seinen Armen auf und trägt ihn den Flur hinunter. Wenig später kehrt der Alpha mit einem Bündel Klamotten und einer PET-Flasche Wasser unter dem Arm zurück. Er tritt in den Zwinger und legt einen Pullover sowie eine Jogginghose auf der Matratze ab und direkt daneben die Wasserflasche. Dann geht er vor Johanna in die Hocke und wirft einen prüfenden Blick auf die Handschellen um ihre Gelenke. Seine linke Hand verschwindet in seinen dichten, dunkelbraunen Haaren und ich staune nicht schlecht, als er eine Haarnadel heraus zaubert, die ich niemals in seinen Haaren vermutet hätte. Sie hat auch haargenau dieselbe Farbe wie sein Haar und fällt schon nur deshalb nicht auf. Mithilfe der Haarnadel löst er die Handschellen im Handumdrehen, als wäre er darin geübt. Anders als bei den Hunden packt er Johanna an ihren wunden Handgelenken und schleift sie lieblos über den Boden auf die Matratze. Johanna gibt ein paar leise Geräusche von sich, ist aber immer noch völlig weggetreten.
“Was hast du mit ihr vor?”, flüstere ich, als könnte Johanna jeden Augenblick aufwachen, was sie vermutlich nicht tun wird. Nero funkelt mich finster an. Seine Mundwinkel zucken, was vermutlich nichts Gutes verheißt. Aber er hat ihr eine Matratze und Klamotten zur Verfügung gestellt, was mich auf eine sonderbare Art und Weise sowas wie Hoffnung schöpfen lässt, dass er ihr nichts allzu Böses antun will.
“Du meinst, was haben wir mit ihr vor?”, holt Nero mich auf den Boden der Tatsachen zurück und sein Blick ist so bitterböse, das ich automatisch zurück schrecke. Ja, Rika, der Mann ist gefährlich und offenbar immer noch verdammt wütend auf dich. Kein Wunder, wahrscheinlich gibt er mir an allem die Schuld, weil ich halt auch einfach schuld an allem bin, was in seinem Leben gerade schief läuft.
“Hattest du den schon mal einen Lehrling?”, piepse ich kleinlaut. Nero schüttelt den Kopf. Entweder will er keine Lehrlinge ausbilden oder… es gab bisher niemanden, der seine Hunde so kontrollieren konnte, wie er es kann. Niemanden ausser… mir. Ich traue mich nicht nachzufragen, also halte ich die Klappe und beobachte ihn, wie er sich wieder zu seiner vollen Größe aufrichtet. Ich blicke zu ihm hoch. Und als die eisblauen Augen auf mich herabsehen, passiert es erneut. Meine dumme Libido reagiert wie auf Knopfdruck auf diesen Mann. Die Situation ist so beschissen und so unangenehm und trotzdem kann ich an nichts anderes denken, als von diesem Mann irgendwie berührt werden zu wollen. Prompt spüre ich, wie ich knallrot anlaufe. Als Nero dann auch noch seine Hand ausstreckt, um mir auf die Beine zu helfen, wäre ich am liebsten auf der Stelle gestorben. Das Kribbeln überall auf und in meinem Körper ist so intensiv, dass ich mich schäme. Kann das nicht einfach bitte aufhören? Dieser Mann will nichts von mir. Er hasst mich. Warum kann mein hinterhältiger Körper das nicht einfach begreifen und aufhören auf diesen Mann zu reagieren?
Ich schlucke und ergreife zögerlich die Hand. Es ist für Nero ein Klacks mich auf die Beine zu ziehen und als ich dicht vor ihm stehe und noch immer zu ihm hochschauen muss, um in seine Augen zu blicken, verschwört sich auch noch mein Kopf gegen mich und zeigt mir einen Film, wie Nero mich plötzlich an sich heranzieht und mich küssen will. Nichts von alledem passiert natürlich tatsächlich, statt mich zu küssen, verlässt Nero einfach den Zwinger und wartet neben der Tür, dass ich es ihm gleich tue, damit er den Käfig abschliessen und Johanna darin einsperren kann. Geknickt komme ich der lautlosen Forderung nach, versuche mir aber nicht anmerken zu lassen, dass mich seine abweisende Art, blöd wie ich bin, verletzt oder dass zwischen meinen Beinen ein flammendes Inferno ausgebrochen ist, dass sich mit absolut Nichts erklären lässt und total irrsinnig ist. Und zu allem Überfluss sage ich auch noch so etwas total Bescheuertes wie: “Der Trick mit der Haarnadel war sowas von cool.” Kaum haben die Worte meinen Mund verlassen, bereue ich sie auch schon. Gott Rika, du bist so dumm. So unfassbar dumm. Wie alt bist du? 12?
Nero schließt die Tür hinter mir zu und hebt argwöhnisch eine Augenbraue in die Höhe. “Sowas von cool?”, wiederholt er in einem spöttischen Tonfall und giesst Salz in die offene Wunde.
“Sorry”, murmle ich verlegen und lasse meinen Blick verloren im Raum umherschweifen, auf der Suche nach irgendetwas, um von meinem Fauxpas abzulenken. Mein Blick bleibt an dem makaberen Smiley haften. Das blutige, gruselige Grinsesmiley.
“Ist das eine Botschaft?”, platzt es etwas unbeholfen aus mir heraus. Neros Blick folgt meinem ausgestreckten Zeigefinger.
“Ach. Das ist kindisch”, erwidert Nero träge. “Sie haben Wilhelms Überreste übrigens mitgenommen und irgendeiner von denen wollte wohl lustig sein. Immerhin müssen wir uns nicht mehr um das Gemetzel kümmern, dass du hinterlassen hast. Sie haben hinter sich aufgeräumt.” Er seufzt leise. “Das hätte alles anders ablaufen sollen.”
“Wie denn?”, hake ich verwirrt nach. Nero sieht mich mürrisch an und runzelt die Stirn. Okay. Er misstraut mir ganz offensichtlich immer noch.
“Jedenfalls nicht so. Du wirst bei mir im Zimmer schlafen müssen, ich will dich im Auge behalten.” Er deutet mit seiner Hand auf mich, dann auf sich selbst. “Das zwischen uns, was auch immer du dir davon erhoffst, diese 60 Tagen laufen rein professionell ab. Ich werde tun, was sie von mir verlangen und solltest du irgendetwas im Schilde führen und sollte Drae deswegen etwas zustoßen, glaube mir, ich werde dich töten und dabei keine Gnade walten lassen.” Die Drohung ist unmissverständlich und tut so weh, dass ich am liebsten losgeheult hätte. Moment. Warte. Hat er mir gerade eine Abfuhr erteilt? Das sollte mich eigentlich nicht überraschen, trotzdem finde ich es unfair von ihm mir zu unterstellen, das alles hier wäre Teil von irgendeinem bösen Plan, den ich weiterhin verfolge. Als würde ich irgendwie mit diesem Red, Green und Blue unter einer Decke stecken! Dieser Vollidiot. Er sollte dankbar sein, dass ich überhaupt auf dieses bescheuerte Angebot eingegangen bin! Ich hätte auch einfach nein sagen können!
“Du eingebildeter Sack!”, sprudelt es aus mir heraus, angetrieben von der Wut, die jeglichen gesunden Menschenverstand erstmal zur Seite schiebt. Meine Gefühle nehmen Überhand.
“Ich habe dem Angebot nur zugestimmt, um dir zu helfen! Und wenn du denkst, ich habe es aus anderen Gründen getan, dann hast du dich geschnitten!”, keife ich ihn an und als wäre das nicht genug, wage ich es auch noch, mit meinem Finger gegen seine Brust zu tippen, als würde ich ihm die Leviten lesen wollen. Damit überrumple ich ihn. Sein Mund steht offen und ich merke, wie er gerade versucht, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Ich bin selbst völlig irritiert über meinen irrationalen Wutausbruch. Was ist denn nur in mich gefahren? Beinahe so, als hätte ich Johanna verschluckt und als würde sie nun aus mir heraus Feuer spucken.
“Helfen nennst du das?”, zischt Nero und hat sich offensichtlich wieder gefangen. Er packt meine Hand, die soeben seinen Brustkorb noch mit Fingerstupsern drangsaliert hat, und schließt sie in seiner ein, dann ballt seine Hand zur Faust und quetscht meine unangenehm darin ein.
“Du tust mir weh”, fauche ich und versuche meine Hand zu befreien, aber alle Bemühungen sind zwecklos. Er ist zu stark und das weiß er. „Lass mich los, du blödes Trampeltier!“
“60 Tage, Erika.” Er beißt sich seinerseits vor Wut auf die Unterlippe und lässt meine Hand so abrupt los, als wäre sie giftig. Ich bringe sie vor ihm in Sicherheit und weiche sicherheitshalber einen Schritt zurück. „Hätte ich das Angebot etwa ablehnen sollen? Und dann? Was wäre dann passiert? Hm?“ Mein Tonfall ist harscher, als beabsichtigt. Eigentlich will ich nicht mit ihm streiten, aber ich habe es so satt, sowas einfach auf mir sitzen zu lassen.. Konsequenzen hin oder her. Konsequenzen für den Arsch!
“Ich.. ich wäre lieber gestorben, als sie bei diesen... “ Der Alpha knurrt. Knurrt mich an und es schwingt so viel Schmerz und Sehnsucht in seiner Stimme mit, dass es mir die Kehle zuschnürt. Er vermisst Drae, obwohl sie noch nicht einmal lange weg ist und er hat Angst. Angst um sie und was die Mistkerle mit ihr machen könnten. Ihr antun könnten. Es ist so klar ersichtlich, wie viel ihm diese Hündin bedeutet. Mehr als alles andere. Ich muss dem Drang widerstehen, Nero zu umarmen, denn irgendetwas sagt mir, dass er das nicht wollen würde, schon gar nicht, nach der Abfuhr, die er mir erteilt hat. In diesem Moment frage ich mich, wie alt Drae eigentlich ist? Wenn Nero schon zwölf Jahre im Etablissement ist, ist sie die ganzen zwölf Jahre über mit ihm hier gewesen und falls ja, was ist mit den anderen Hunden? Wie hat Nero seine Hunde bekommen und wie sah sein Leben aus, bevor er ins Etablissement gekommen ist? Ich würde ihm nur allzu gerne all meine Fragen stellen, bezweifle aber, dass ich jetzt oder jemals Antworten darauf erhalten würde. Der Mann ist so verschlossen und in sich gekehrt. Gefühle zeigen ist gegen seine Natur und in letzter Zeit brechen sie aus ihm heraus, als hätte die harte Schale, die er sich aufgebaut hat, Risse bekommen. Johanna und die Chefetage haben recht. Neros Hunde sind sein Verhängnis, ohne sie wäre er vermutlich komplett unantastbar und unberechenbar und ich will nicht wissen, was passiert, wenn Drae wirklich etwas zustoßen sollte.
“Sie bedeutet dir viel”, sage ich und spreche das Offensichtliche aus. „Mehr als alles andere“, füge ich leise hinzu. Ohne etwas darauf zu erwidern, rauscht Nero an mir vorbei. Als er um die Ecke verschwunden ist, schwillt das Bedürfnis abzuhauen um ein Vielfaches an. Ich will nach Hause. Einfach nur nach Hause. Ich muss an das denken, was die Chefetage gesagt hat. Ich soll das neue Weibchen an Neros Seite werden. Keine Ahnung, was sich die drei Schweine dabei gedacht haben. Dieser Mann würde mich niemals an sich ranlassen. Selbst wenn ich versuchen würde Drae für den Zeitraum zu ersetzen, würde er abblocken. Keiner kann Drae ersetzen. Sie ist der Mittelpunkt seines Lebens und die Erkenntnis schmerzt irgendwie. Dumme, masochistische Rika. Eifersüchtig auf einen Hund.