Nero, der Alpha - 1
Alle Alarmglocken schrillen, als es gegen DIE Tür poltert. Aus Gewohnheit kneife ich die Augen zusammen und ducke mich, auch wenn ich weiss, dass mir im Zwinger nichts zustoßen kann. Hundegebell mischt sich zu den Sirenen in meinem Kopf. Instinktiv halte ich mir die Ohren zu, aber egal wie sehr ich versuche die Geräusche abzuschirmen, sie dringen trotzdem zu mir durch und entflammen die blanke Panik in mir. Irgendetwas wird gleich passieren und was auch immer es sein wird - es wird Konsequenzen haben. Alles hat Konsequenzen und die Hoffnung, dass ich mir dieses Poltern nur einbilde, habe ich bereits aufgegeben, bevor sie überhaupt aufkeimen konnte. Das ist real. Es passiert gerade wirklich. Jemand poltert gegen DIE Tür. Gegen Neros Tür. Tür 16. Hysterisch. Hektisch. Fordernd. Die Person muss komplett wahnsinnig sein. Wie kann sie es wagen? Weiß sie nicht, was hier drin passiert? Was sie hier erwartet? Ich bin seit 23 Tagen hier und bisher hat es nie auch nur jemand gewagt, gegen diese Tür zu poltern. Es gibt eine Klingel. Vernünftige Menschen, Menschen mit Verstand benutzen diese Klingel. Neben der Klingel ist sogar ein Schild, dass extra davor warnt, gegen die Tür zu hämmern und mit Konsequenzen droht, wenn man sich nicht an die Anweisung hält. Konsequenzen. Wie ich dieses Wort hasse und verabscheue. Konsequenzen. Gehorche, oder es folgen Konsequenzen. Ich beiße mir auf die Lippen, schmecke das Blut auf der Zunge. Konsequenzen. Alles hat Konsequenzen. Alles, was ich tue, oder was ich sage. Konsequenzen. Das Poltern wird lauter und energischer. Drae’s Jaulen lässt mich zusammenfahren. Drae ist einzige Hündin im Rudel und ihr Jaulen ist so markant, dass ich es überall wiedererkennen würde. Schwere Schritte mischen sich unter die von Geräuschen überflutete Kulisse. Neros Springerstiefel. Wildes Hecheln und unruhiges Scharren neben meinem Zwinger. Aus Angst presse ich meinen Körper fester gegen die Gitterstäbe. Mein Zwinger ist mitten im Raum. Keine Ecke, in der ich mich verkriechen könnte, keine dicken Wände, die mich abschirmen. Nur nackte Gitterstäbe, die kaum Schutz bieten. Ich habe drei Tage lang getan, was er von mir verlangt hat und trotzdem bin ich hier. Warum bin ich nicht bei den anderen? ‘Damit du dich ausgeliefert fühlst’, antwortet eine Stimme in meinem Innern. Und sie hat recht. Ich bin gefangen. Ausgestellt wie ein Kunstwerk für jeden ersichtlich, der diesen Raum betritt. Wieder ein Jaulen von Drae, kurz darauf spüre ich etwas Warmes und Pelziges an meinen Fingern. Zögerlich öffne ich die Augen und erblicke die Hündin. Sie hat sich vor meinen Zwinger aufgestellt und drückt ihren Kopf gegen die Gitterstäbe, um die ich meine Finger geschlungen habe. Drae ist eine schneeweiße Wolfshündin. Das Alphaweibchen unter den fünf Wolfshunden und die Einzige, deren Wesen Wärme in sich trägt. Die anderen Fünf sind kalt. Eiskalt und böse. Wahre Bestien, abgerichtet darauf, mir Schmerzen zuzufügen und mir Gehorsam einzutrichtern. Drae hingegen vermittelt mir ein Gefühl von Sicherheit, ganz egal wie absurd sich das in meiner Lage anhören mag. Aber ich bin froh, dass sie hier ist. Das sie bei mir ist. Jetzt gerade in diesem Moment. Drae’s hellblaue Augen fixieren mich und als ich zwei Finger aus dem Zwinger strecke, um sie zu streicheln, gibt sie einen leisen Laut von sich. Es hört sich ein bisschen an wie Grunzen und das tut sie immer, wenn ihr etwas gefällt und es hat aus einem mir unerklärlichen Grund eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich kralle mich an ihrem warmen Fell fest und würden es die Gitterstäbe zulassen, hätte ich sie festgehalten wie ein Kind einen Teddybären.
“Kyr, wache”, befehligt Nero den schwarzen Rüden mit den stechend gelben Augen und das abgerichtete Tier tut, wie ihm geheissen. Ohne Umschweife platziert sich der Rüde neben Drae und fletscht die Zähne angriffslustig Richtung Tür, von der das Poltern herkommt. Der Hund, der auf den Namen Zor hört, schiebt direkt vor der Tür Wache und fletscht ebenfalls die Zähne, die restlichen Rüden laufen knurrend hinter Nero her, der sich in einem gemächlichen Schritttempo dem Unruhestifter nähert. Nero. Es ist schwierig, ihn aus der Ruhe zu bringen und es ist gar unmöglich sich gegen ihn aufzulehnen. Er hat mich für 40 Tage gekauft. 40 Tage und im Gegenzug würde er die Kosten der Entzugsklinik, in der meine Mutter zurzeit untergebracht ist, übernehmen. Sämtliche Auslagen. Absolut alles, bis sie geheilt ist. Aber 40 Tage sind eine lange Zeit in der Obhut eines Mannes ohne Herz und Erbarmen. Ich war viel zu naiv, um das zu erkennen, als ich mich herbringen lassen habe und obwohl ich es nun besser weiss, komme ich hier nicht mehr raus. Nicht vor Ablauf der Frist. Ein Frösteln überkommt mich, als Nero an meinem Zwinger vorbeiläuft und mich keines Blickes würdigt. Ein Frösteln und ein unangenehmes Ziehen zwischen meinen Beinen. Beschämt wende ich meine Augen von Nero ab und fühle mich ekelhaft. Ich weiss nicht wieso und wie er es macht, aber mein Körper reagiert auf ihn. Wie ein eingebauter Schutzmechanismus, als würde sich jede Faser in mir darauf vorbereiten, von diesem Mann missbraucht zu werden, sobald er auch nur in meiner Nähe ist. Und obwohl ich diese Reaktion verabscheue, bin ich machtlos gegen sie und Kyr entgeht das natürlich nicht. Der Hund hält kurz inne, schnüffelt und gibt einen schrillen Laut von sich, um seinen Meister von meiner Misere in Kenntnis zu setzen. Nero pfeift und Kyr begibt sich wieder in Wachstellung. Die Kommunikation zwischen Nero und seinen Hunden hat mich anfangs verblüfft, mittlerweile verteufle ich sie. Es ist beinahe so, als würden sie auf einer anderen Ebene kommunizieren, fast so wie Telepathie. Die Hunde wissen, was Nero will und denkt und andersherum ist es genauso. Ein Wolfsrudel und an der Spitze der Rangordnung ist ein Mensch. Nero, das Alphatier. Der Sadist. Das Monster.
An seinem Ziel angekommen, bleibt Nero stehen und die restlichen Hunde versammeln sich im Dreieck um ihn herum. Dann wird eine Schusswaffe gezückt und die Tür geöffnet. Vor der Tür steht ein weiterer hünenhafter Mann. Er ist von oben bis unten mit Blut besudelt und hat eine Frau in seiner Gewalt, die genauso blutgetränkt ist, wie er selbst. Eine Frau, die sich mit Händen und Füssen gegen seinen festen Griff wehrt.
“Tuga, fass”, zischt Nero ohne Abzuwarten, was der Mann von ihm will und der graue Wolfshund links von ihm prescht vorwärts. Blitzschnell und ohne Gnade verankert der Hund sein Gebiss im Unterschenkel der Frau. Ein qualvoller Schrei löst sich aus ihrer Kehle und als sie aus purer Verzweiflung versucht mit dem anderen Fuss nach Tuga zu treten und ihn abzuschütteln, schießt Ignar los und beißt ebenfalls zu. Beide Hunde zerren an der Frau und der Mann, der die Frau in seiner Gewalt hat, hat sichtlich Mühe, die Kontrolle über seine Geisel zu halten.
“Pfeif mal deine Köter zurück”, knurrt er in einem Tonfall, mit dem er sich hätte eine Kugel einfangen können. Aber zu meiner Überraschung verschwindet die Waffe -statt abgefeuert zu werden - wieder im Holster.
„Wozu?“, erwidert Nero kühl und Drae neben mir wird unruhig. Der Fremde legt von hinten eine Hand um den Hals der Frau, um sie in Bedrängnis zu bringen und sie davon abzuhalten, nach den Hunden treten zu wollen. Es zeigt Wirkung. Die Frau röchelt und erschlafft in seinem Griff.
„Jetzt mach schon! Pfeif sie zurück“, drängt der Mann weiter und in seinem Blick liegt etwas flehentliches, trotz der rauen Art.
“Tuga, Ignar, aus” Nero schnippt mit seinen Fingern und die Hunde ziehen sich auf Kommando zurück. Aus der Ferne kann ich nicht beurteilen, wie schwer die Frau verletzt ist und das ganze Blut macht es noch schwerer sich ein Bild zu machen. Aber ihr klägliches Wimmern lässt mich erschaudern. Ich weiß nur zu gut, wie schmerzvoll ein Biss sein kann. Als Tuga und Ignar wieder wie eine Einheit neben Nero stehen und sich die Mäuler lecken, bückt sich der Meister zu ihnen herunter und krault ihnen über den Kopf.
„Zufrieden?“
„Hast du noch Kapazitäten? Die Schlampe hat Tür 27 abgestochen, wenn ich mich beeile, kommt er durch.“ Der Mann lockert seinen Griff um den Hals der Frau und stabilisiert sie, damit sie nicht hinfällt. Diese Frau hat es geschafft einen Meister niederzustrecken? Fassungslos mustere ich die benommene Frau und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie das geschafft haben soll. Sie ist so dünn und schwach. Hatte sie Hilfsmittel? War der Mann aus Tür 27 etwa unvorsichtig? Gibt es sowas überhaupt?! Hatte ich einfach nur Pech, weil ich hinter Tür 16 gelandet bin?
„Lass ihn ausbluten und kümmere dich selbst um sie“, schlägt Nero vor. Der Fremde beginnt zu lachen. „Hast du Angst ihr nicht gewachsen zu sein oder was?“, zieht er Nero unverblümt auf und Kyr beginnt zu bellen. Die anderen Hunde stimmen mit ein. Nur Drae wirkt immer noch nervös, als würde sie der Sache nicht ganz trauen.
„Du wirfst mir einen angekauten Knochen vor?“ Nero richtet sich wieder zu seiner vollen Größe auf.
„Kümmere dich um sie oder mach sie kalt, ich habe keine Zeit, um mit dir Stöckchen werfen zu spielen.“ Mit diesen Worten lässt der Fremde die Frau einfach los und verpisst sich. Die Frau sackt auf den Boden direkt vor Neros Füße.
Ein leises „Hm“ verlässt seinen Mund. Dann streckt er den Finger aus, um den schlimmsten aller Befehle zu erteilen. Doch bevor die Rüden sich auf die Frau stürzen können, sprintet Drae los und attackiert Zor. Tuga und Ignar hechten zur Seite. Nur Farg, Drae’s Ebenbild, lässt sich nicht aufhalten. Mit einem Satz springt er auf die wehrlose Frau und gerade als er seine Zähne in ihrem Hals versenken will, schrillt ein Pfiff durch die Luft.