Nero, der Alpha - 13
Nach einer Weile rappelt sich Nero auf. Wie früher würdigt er mich keines Blickes. Er weigert sich konsequent auch nur einmal in meine Richtung zu schauen. Er sagt auch kein Wort. Ich sehe ihm zu, wie er die Tür mit der Nummer 16 abschliesst, die Waffen einsammelt und schliesslich Ignar den Flur hinunter trägt. Mit Nero verschwinden auch die restlichen Hunde aus dem Hauptraum. Ich bleibe alleine zurück. Wie auf Kommando rollt Lawine aus Gedanken über mich hinweg, als hätte sie nur darauf gewartet, mich unter ihr zu verschütten. Fünf Tage. Fünf lächerliche Tage! Haha! Was denkt Nero eigentlich wer er ist? Ich würde mich niemals freiwillig von seinen Hunden ‘ficken’ lassen, nicht in fünf Tagen und auch nicht in einer Woche, einem Monat, einem Jahr und schon gar nicht dabei auch noch lächeln. Sollte dieses Szenario jemals so oder so ähnlich eintreffen, dann nur weil er mich dazu zwingt und ich würde es nicht genießen, ich würde dabei sterben. Einfach draufgehen. Tot umfallen und nie wieder aufstehen. Urplötzlich muss ich an die Frauen im roten Zimmer denken und daran, wie lange diese schon hier sein müssen. Jeder Tag sieht für sie gleich aus. Um sie herum nur diese roten Wände, keine Beschäftigung, kein Reden, kein gar nichts. Eigentlich sollten sie schon längst alle durchdrehen. Randalieren. Sich gegen den Alpha auflehnen. Aber sie sind alle wie leblose Marionetten. Zombies. Sie lassen alles mit sich machen. Widerstandslos. Egal wie lang, wie oft und wenn Nero es fordert sogar mehrmals hintereinander. Ich beiße mir auf die Unterlippe und starre meine Füße an. Ich bewege den großen linken Zeh. Dann den rechten. Neros Worte spulen sich vor und zurück. ‚Was denkst du, wie oft und mit wie vielen Frauen ich das mache?‘ Er ist ein Monster. Monster darf man nicht gewinnen lassen. Vielleicht hat Nero recht. Vielleicht hätte er mich - egal wie sehr ich mich dagegen sträube, das zu akzeptieren - wirklich in fünf Tagen soweit gehabt. Dann wäre ich so, wie die anderen Frauen in dem roten Zimmer. Das rote Zimmer ist kein Hirngespinst eines testosterongeladenen Arschlochs, nein; das rote Zimmer ist die Realität. Und wäre Johanna nicht hinter Tür 16 gelandet und wäre das alles danach nicht passiert, dann wäre ich auch nur eine weitere bedeutungslose Marionette in Neros Sammlung.
Ich bewege wieder die Zehen. Aus einem Impuls heraus, versuche ich nach meinen Zehen zu greifen. Dehnen. Das habe ich vor jeder Tanzstunde und nach jeder Tanzstunde gemacht. Ich lehne mich mit dem Oberkörper in die Bewegung rein und halte die Spannung aus. Und irgendwie tut es gut. Als wäre ein Stückchen Normalität zurückgekehrt. Und genau das ist sie. Die verfluchte Lösung. Normalität. Ich muss die Normalität zurück in mein Leben holen, um nicht als Zombie zu enden. Motiviert führe ich meine Dehnungs-Routine fort und als meine Muskeln warm sind, kommt mir eine Idee. Ich ziehe mich an den Gitterstäben hoch und erinnere mich an all die vielen die Ballettstunden. Mit einer Hand halte ich mich an einem Gitterstab fest und gehe auf die Zehenspitzen. Ohne die passenden Schuhe muss ich vorsichtiger sein, trotzdem probiere ich ein paar Übungen aus. Die Anfängersachen bekomme ich locker hin. Ich übe solange, bis die Zehen wund sind und mir der Schweiß von der Stirn läuft. Zufrieden lasse ich mich auf den Po fallen und liebe das Gefühl etwas gemacht zu haben. Es ist befreiend und jeder Muskel in meinem Körper brennt. Das ist leben und solange ich lebe, wird er mich nicht brechen können. Was jetzt noch fehlt, ist eine heiße Dusche und ein Kakao sowie eine Kuscheldecke, in die ich mich einkuscheln könnte. Das wäre perfekt. Das war damals ein Ritual von Daria und mir. Zusammen duschen, dann einen Kakao im Café neben dem Ballettstudio trinken gehen und anschließend bei ihr zuhause vor dem Kamin sich in eine Kuscheldecke wickeln und zusammen witzige oder romantische Hörbücher hören. Manchmal haben wir uns auch in die Sauna gesetzt. Ihre Eltern hatten eine im Keller. Dort haben wir Salzstangen gefuttert und uns durch irgendwelche Magazine gewälzt. Selbst im Sommer, denn nach dem Training ist es wichtig, die Muskeln erstmal warm zu behalten und sie langsam abkühlen zu lassen, um Verspannungen vorzubeugen. Zumindest nach der Theorie unserer Ballettlehrerin und die muss es ja wissen - sie ist schließlich ein Profi.
Ich schließe die Augen und träume mich in Darias Arme. Spüre sie nah bei mir. Fühle ihre Hände auf meinem Körper. Meine Finger gleiten an mir herab zwischen meine Beine. Prompt will sich die Erinnerung an Kyr und was er mir angetan hat in der Vordergrund drängen. Ich spüre seine raue und ekelhafte Zunge, die meine intimste Stelle schändet. Ich will meine Hand schon angewidert zurückziehen, doch dann denke ich an Nero und an das, was er in der Show gesagt hat. Nach dem Missbrauch formt sich ein Monster im Kopf, ein Feindbild. „Lass das Monster nicht gewinnen, Rika“, flüstere ich mir leise gut zu und überwinde mich einfach weiterzumachen. Sanft streichle ich über meinen Venushügel hinab zu meinen Schamlippen. Ich bin so trocken, dass sich die Berührung unangenehm anfühlt. Ich will schon aufgeben, aber Nero lässt mich nicht. Er kämpft sich in mein Bewusstsein, schiebt Daria und Kyr zur Seite und nimmt den ganzen Platz in meinem Kopf ein. Ich muss an den Kuss denken, an den Kuss, der sich niemals wieder wiederholen wird. Seine weichen Lippen, die sich zurückhaltend an meine drücken. An seinen Duft, seine Statur, seine Dominanz. Wie er geht, wie er mich angesehen hat, wie er mein Kinn hält. Und mein Finger findet in der Wüste endlich die Oase. Ich werde so feucht und heiss, dass ich mich vor Hitze ganz auf den Boden lege und die eiskalten Steinplatten an meinem Rücken begrüße. Dann winkle ich die Beine an und lege meine Handfläche an meine Scham. Statt mich mit den Fingern zu streicheln, bewege ich mein Becken langsam hoch und runter. Drücke dabei immer wieder meine Pussy gegen meine Finger, reibe mich an ihnen und liebe das verheißungsvolle Kribbeln, das mich alles um mich herum vergessen lässt. Fast alles. Ich greife mit der freien Hand nach einem der Gitterstäbe hinter meinem Kopf und halte mich fest. Beschleunige mein Tempo und genieße die eiskalte Luft, die meine harten und empor gerichteten Brustwarzen umspielt. Ein Blick über meinen Körper und die Schweißperlen glitzern wie winzig kleine Kristalle auf meiner Haut. In diesem Augenblick, so kurz vor dem Höhepunkt, wird mir etwas ganz klar. Nero kann sich weigern mich anzusehen, aber mein Stöhnen kann er nicht ignorieren. Und ich bin laut, ich halte mich nicht zurück. Ich presse mich ein letztes Mal gegen meine Handfläche und gerade als ich mit einem Finger zum allerersten Mal in mich eindringen will, verpasse ich das Timing und der Orgasmus lässt sich nicht mehr hinauszögern.
Ich halte mich an dem Gitterstab fest, während ekstatische Wellen meinen Körper regelrecht erbeben lassen. Das Gefühl ist so gut und befreiend, dass ich, kaum ist es verebbt, völlig zufrieden und losgelöst anfange zu kichern. Entweder habe ich den Verstand verloren oder das war genau das, was ich gebraucht habe, um die Leere in mir wieder mit ein bisschen Rika zu füllen.
Die Tatsache, dass weder Nero noch irgendeiner der Hunde vorbeigekommen ist, um mich für mein ungehorsames und lautes Vergehen zu bestrafen, zeigt mir, dass selbst der Alpha nicht allmächtig ist. Ich habe ihn bloßgestellt, er wurde mit seiner Jungfräulichkeit konfrontiert, anschließend dieser Kampf mit der Domina und den anderen Meistern, dabei hat er beinahe einen Hund verloren und zum Schluss auch noch einen Tritt zwischen seine Kronjuwelen kassiert und zu guter Letzt die Erkenntnis gewonnen, dass er mich nicht so einfach brechen kann, wie er es gerne hätte, - das alles muss zu viel für ihn gewesen sein und das macht ihn auf eine abstruse Art menschlich und auch irgendwie verletzlich.
Irgendwann muss ich vor Müdigkeit eingeschlafen sein, denn als ich wieder zu mir komme und die Augen aufschlage, steht plötzlich vor der Zwingertür ein Tablett mit Essen und die Tür ist offen. Ich sehe mich kurz im Hauptraum um, stelle fest, dass ich immer noch alleine bin und krabble dann auf das Tablett zu. Drei Scheiben Brot, Erdbeermarmelade, Butter, etwas Schinken, Salami, Käse, ein Ei, Salz und Pfeffer und einen Orangensaft und eine kleine PET-Flasche Wasser. Zusätzlich liegt eine Serviette neben dem Keller und Besteck. Eine ziemliche große Portion, zumindest größer als sonst. Ich tippe mit dem Finger gegen die Erdbeermarmelade, die in einem kleinen Schüsselchen angerichtet auf dem Teller liegt. Es sind so Kleinigkeiten, die mir erst jetzt bewusst werden, wie zum Beispiel, dass Nero mir immer meine Lieblings-Marmeladensorte auf den Teller legt. Welche das ist, weiss er wahrscheinlich von dem Fragebogen, den ich direkt nach meiner Auskunft ausgefüllt habe. Während ich damals auf der Matratze darauf gewartet habe, dass Nero mich abholt, habe ich drei Erdbeeren auf den Fragebogen gekritzelt und irgendwie will mir mein Unterbewusstsein nun weismachen, dass er auf dieses kleine Detail geachtet hat und ich deshalb Erdbeermarmelade bekomme.
Als ich nach dem Orangensaft greife, erspähe ich unter dem Teller ein kleines Zettelchen. Was ist das? Neugierig hebe ich den Teller an und pflücke das Zettelchen darunter heraus. Auf den ersten Blick scheint es einfach ein Schnipsel von irgendeinem Blatt zu sein. Ich drehe es in meiner Hand und entdecke auf der Rückseite meine eigene Unterschrift. Momentmal. Ist das ein Stück aus meinem Vertrag? Hat er ihn etwa zerrissen? Bedeutet das, der Vertrag ist jetzt ungültig und es war alles umsonst oder was genau will Nero mir damit sagen? Ein leichtes Panikgefühl macht sich in mir breit. Nein, Rika. Lass das jetzt nicht zu. Das macht er extra. Er will dir nur Angst einjagen. Der Vertrag ist gültig, auch wenn er ihn zerrissen hat. Der Mittelsmann kann es bezeugen, dass dieses Arrangement zwischen uns geschlossen worden ist - Nero kann nicht einfach aussteigen, weil seine Methoden bei mir versagt haben. Ich schlucke mühsam die Panik hinunter und setze ein falsches Lächeln auf. In der Schule habe ich einmal gelernt, dass man sich automatisch besser fühlt, wenn man die Mundwinkel hochzieht und lacht, auch wenn einem gar nicht danach ist. Keine Ahnung, ob an dieser These etwas dran ist, aber probieren geht über studieren. Außerdem meinte Nero doch, dass er mich nicht gehen lassen kann. Ich schnappe mir mein Tablett vom Boden und steige aus dem Zwinger. Irgendwo muss Nero doch sein. Ziellos laufe ich den Flur herunter und als ich am roten Zimmer vorbeikomme, schiele ich durch das Fenster in den Raum hinein. Die Frauen stehen, liegen und sitzen herum. Von Nero und den Hunden fehlt jede Spur. Aus Jux stelle ich das Tablett auf den Boden ab und will die Türklinke runterdrücken, aber wer hätte es gedacht. Diese Tür ist im Gegensatz zu der Zwingertür abgeschlossen. Verriegelt. Keine Chance rein- oder rauszukommen. Trotzdem rüttle ich noch ein paar Mal an der Klinke mit der Absicht genug Lärm zu machen, dass Nero aus seinem Versteck kommt. Ich will die Sache klären. Die Konsequenzen sind mir egal. Super egal. Die Konsequenzen kann Nero sich sonst wohin stecken! Für einen Augenblick bin ich selbst überrascht, woher der plötzliche Mut und die Entschlossenheit herkommt, aber ich begrüsse die neue Rika. Die hat Mumm. Als wäre im Schlaf ein kleiner Hulk in mir herangewachsen, der total Bock hat, sich in den Kampf zu stürzen und dem Alpha eins auf die Rübe zu geben. Ich linse nochmal durchs Fenster und rupfe an der Klinke. Keine der Frauen reagiert auf das Geräusch. Beinahe schon gruselig, wie sie desinteressiert ins Leere starren, als hätte die Seele bereits den Körper verlassen und als wären sie nur noch willenlose Hüllen ohne Geist und Verstand. Zombies eben. Allein der Gedanke daran, dass ich in fünf Tagen vielleicht hätte eine von ihnen sein können, lässt mich erschaudern. Diese Frauen sind der lebhafte, oder halt eben der nicht so lebhafte, Beweis dafür, dass Nero nicht nur große Töne spuckt, sondern wirklich in der Lage ist, Frauen zu brechen, wenn nicht gerade eine Johanna in sein Leben tritt und Rika zu einer Waffe mit ordentlich Wumms formt. Johanna!
Ausgerüstet mit meinem Tablett mache ich mich auf den Weg zum Duschraum. Auch dort ist die Tür offen. Verwundert kneife ich die Augenbrauen zusammen und werfe einen Blick hinein. Dort sitzt sie. Johanna, die Waffenschmiedin. Auf der Matratze, die ihr Nero extra besorgt hat, mit einem Tablett auf dem Schoss und Drae, die neben ihr liegt und vor sich hin döst.
“Rika!”, begrüßt mich die Frau und winkt mich zu sich herbei. Im ersten Moment zucke ich zusammen, da laute Geräusche bisher immer untersagt gewesen waren und herumbrüllen sowieso. Aber nachdem ich die Türklinke bereits massakriert habe und die Konsequenzen noch nicht um die Ecke geschossen gekommen sind, ist es blödsinnig wieder zum ängstlichen Häschen zu werden. Also reiße ich mich am Riemen, strecke die Brust raus und gehe hocherhobenen Haupts und Tabletts auf Johanna zu und setze mich wie selbstverständlich neben sie auf die Matratze. Sie sieht mich erst mit grossen Augen an, dann schleicht sich ein wissendes Grinsen auf ihre Mundwinkel. “Ich habe den Radau mitbekommen, sieht aus, als wärst du als Siegerin hervorgegangen.” Sie ballt die Hand zur Faust und klopft mir damit auf die Schulter. “Ich wusste, du würdest es schaffen.” Ihr Grinsen wird breiter, als meine Mundwinkel sich von ihren anstecken lassen. Eigentlich ist mir gar nicht danach, mich mit ihr über Nero lustig zu machen, andererseits fühlt es sich toll an, so etwas wie eine Freundin zum Reden und Austauschen zu haben. “Du musst mir alles erzählen!” Johanna funkelt mich an und schnappt sich eine Scheibe Brot von ihrem Teller, die sie mit Salami bestückt. Nero hat ihr auch ein Tablett gebracht. Drei Scheiben Brot, Salami, ein bisschen Käse, ein Ei, Butter, Pfeffer und Salz, ein Orangensaft, eine PET-Flasche Wasser und Marmelade. Keine Erdbeermarmelade wie bei mir, sondern Aprikose. Schlagartig fährt mir ein Stich durch die Brust und tut da weh, wo mein Herz schlägt. Komm schon Rika, sowas darfst du gar nicht denken. Vielleicht wählt er die Marmeladen mit Zufall aus und es war immer nur Zufall, dass du Erdbeere bekommen hast und es liegt nicht daran, dass er dir Erdbeere gibt, weil du dumme Gans Erdbeeren auf dein Formular gekritzelt hast. Du bedeutest ihm nichts. Bilde dir jetzt nicht ein, dass du etwas Besonderes bist nur weil du Erdbeermarmelade bekommst.
“Musstest du eigentlich ein Formular ausfüllen?”, rutscht es mir heraus. Johanna sieht mich etwas verdattert an und ich kann es ihr nicht einmal verübeln. “Neee, wieso?”, erwidert sie und nimmt einen Biss von ihrem Salamibrot. “Tina hat mir übrigens die Verbände gewechselt. Ist schon besser geworden”, schiebt sie kauend hinterher und hebt strahlend ihr linkes Bein, dass immer noch ungewöhnlich dick und geschwollen aussieht.
“Ach nur so”, sage ich und bemühe mich um ein Lächeln. “Tina war also hier?”
Johanna nickt und nimmt einen weiteren Bissen. “Er hat sie hergebracht und sie hat mir den Verband gewechselt, während er das hier holen gegangen ist.” Johanna deutet mit ihrem Finger auf den Teller und macht den Eindruck, als wäre das total abgefahren, dass sie Essen von Nero bekommen hat. Ich schaue auf mein eigenes Tablett hinunter und fühle mich mies.
“Keine Ahnung, was du gemacht hast, aber ich könnte dich dafür küssen. Das ist die erste richtige Mahlzeit seit.. “ Johanna legt den Kopf schief und scheint zu überlegen. “Seit keine Ahnung wie lange. Bei meinem gab es nur Milch aus der Schüssel oder irgendetwas Undefinierbares aus der Dose. Das hier ist richtig Luxus. Dem hast du es gezeigt, Rika! Wie hast du das hinbekommen? Nun sag schon, spann mich nicht so auf die Folter!” Johanna stupst mich wieder mit ihrer Faust an.
“Was genau meinst du?”, druckse ich herum, nehme das Messer von meinem Tablet und lade ein bisschen Butter darauf auf, um mich mit irgendetwas zu beschäftigen.
“Na du spazierst hier einfach so rein, kein Köter weit und breit, dann dieses göttliche Frühstück und der Wichser hat ausgesehen, als hätte man ihn richtig durch die Mangel genommen. Hast du einen Köter von ihm erschossen? Ich hab einen Schuss gehört und Stimmen. Drei davon kannte ich. Die beiden Frauen und der eine Kerl.” Johanna sieht mich erwartungsvoll an. Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt ihr zu sagen, dass Nero die Mahlzeiten immer so zubereitet und das rein gar nichts mit dem Vorfall zu tun hat. Andererseits schnürt es mir die Kehle zu, zu wissen, dass er wohl wirklich total fertig sein muss und an dem, was passiert ist sichtlich zu kauen hat. “Ich habe nicht geschossen. Die eine Frau hat Ignar, also einen Hund von Nero, mit der Peitsche beinahe erdrosselt”, sage ich und schmiere die Butter auf eine Scheibe Brot. Dabei fällt mir auf, dass meine Hand ein bisschen zittert. Ehe Johanna es mitbekommt, lasse ich das Messer fallen und greife stattdessen zum Orangensaft. “Echt?” Johannas Augenbrauen schiessen überrascht nach oben. “Warum waren die überhaupt hier? Ich habe nur Gesprächsfetzen mitbekommen und konnte mir keinen Reim darauf bilden und als sie dann aufgesprungen ist,...” Johanna deutet mit ihrem Brot auf Drae, die noch immer friedlich neben ihr liegt und die Ruhe selbst ist, “...dachte ich mir schon, okay, da draussen steigt eine Party und ich bin nicht eingeladen, weil Fuss.” Sie grinst und wackelt vergnügt mit ihren Zehen. “Also raus mit der Sprache, ich will alle schmutzigen Details wissen! Und lass bloss nichts aus!”
Ich nehme einen grossen Schluck Orangensaft und hätte den süssen Saft am liebsten meine Luft- statt meine Speiseröhre hinunter gegossen. Das schlechte Gewissen trifft mich so unerwartet, wie Mut und Entschlossenheit verschwunden sind. Soll ich ihr wirklich alles erzählen? Sie hatte vorher schon keinen Respekt vor Nero und wenn sie die ganze Wahrheit kennen und wissen würde, was in der Liveshow und danach passiert ist, würde sie das garantiert gegen ihn einsetzen und ihn komplett vernichten. Keine Ahnung wie, aber ich bin mir sicher, sie könnte es. Nachdem, was sie 27 angetan hat, traue ich dieser Frau absolut alles zu und mit Drae an ihrer Seite, könnte er sich nicht einmal gegen sie verteidigen. Geschweige denn, wer weiss, was sie tut, wenn ihre Wunden verheilt sind und sie wirklich gefährlich werden könnte? ‘Warum schützt du Nero schon wieder?!’, meldet sich eine innere Stimme zu Wort, die absolut fassungslos darüber ist, dass ich mir schon wieder Sorgen um einen Mann mache, der so viele Frauen zu Grunde gerichtet hat.
“Gab wohl Zoff wegen irgendeiner Liveshow”, lüge ich und starre die Erdbeermarmelade auf meinen Teller anstatt Johanna in die Augen zu sehen. Wäre das hier ein Disney Film, würde meine Nase gleich den Pinocchio machen und den Teller in zwei Teile spalten. “Zoff wegen irgendeiner Liveshow?”, wiederholt Johanna ungläubig und dann legt sie zu allem Überfluss auch noch ihre Hand auf meine, die noch immer zittert, wie die einer alten Frau, die kürzlich an Parkinson erkrankt ist. “Alles in Ordnung, Rika?”, erkundigt Johanna sich. Ich ziehe meine Hand unter ihrer hervor, winke ab und zwinge mich zu einem Alles-ist-Gut-Lächeln, dass ich schon so häufig im Gesicht meiner Mutter gesehen habe, als sie mir versucht hat, zu verheimlichen, dass sie wieder voll drauf ist. Irgendwie hoffe ich, dass mein Lächeln überzeugender ist, als das meiner Mutter, weil ich sonst nicht wüsste, wie ich mich aus dieser Situation wieder heraus boxen könnte, ohne Johanna die ganze vernichtende Wahrheit zu beichten.
“Vorher war doch noch alles gut?” In Johannas Stimme schwingt aufrichtige Besorgnis mit. Toll, jetzt habe ich ihr gegenüber ebenfalls ein schlechtes Gewissen. Mein Blick fällt auf die Dusche vor uns. Dann muss ich daran denken, dass ich mich seit der Liveshow nicht mehr sauber gemacht habe. Prompt fühle ich mich aussen sowie innen widerlich. “Weisst du, was ich nicht verstehe?”, starte ich aus einem Impuls heraus und schiebe das Tablet von meinem Schoss. Ich stehe auf und gehe auf die Dusche zu.
“Was meinst du?”, ruft mir Johanna hinterher. Ich bleibe unter der Duschbrause stehen und betrachte mich in der Spiegelung des glänzenden Chrom Stahls. Wirklich etwas erkennen kann ich nicht. „Woher hast du all diese Wunden? Von 27 können sie nicht sein“, sprudelt es aus mir heraus. Ich drehe mich zu Johanna um und mustere sie von weitem. Nero’s Kleidung verdeckt das meiste, aber das macht nichts. Wie Johanna ausgesehen hat, als sie hier angekommen ist, hat sich ohnehin in mein Hirn gebrannt. Jederzeit abrufbar.
„Hast du sie nicht mehr alle?“, bellt mir Johanna entgegen und zieht die Stirn kraus. Irgendwie kann ich ihre Wut nachvollziehen. Es ist wirklich unverschämt von mir, ihr zu unterstellen, dass sie gelogen hat, was ihren Aufenthalt hinter Tür 27 angeht und was dort mit ihr passiert sein soll.
„Nero hat mir die Show gezeigt, in der du deinen Meister abgestochen hast und da hattest du keine sichtbaren Wunden. Und er war gar nicht so gemein zu dir, wie du es behauptet hast! Er war sogar richtig zärtlich“, brülle ich plötzlich grundlos wütend und will eigentlich gar nicht so aus meiner Haut fahren. Toll. Nun höre ich mich schon wieder total eifersüchtig an. Kann das bitte einmal aufhören?! Frustriert drehe ich die Dusche auf und zucke zusammen, als eiskaltes Wasser auf meinen erhitzten Körper herunter prasselt.
„Sag mal, geht’s noch?“, keift Johanna zurück und läuft knallrot an. Ich halte mir ‚total erwachsen‘ die Ohren zu und wende mich demonstrativ von ihr ab. Die Temperatur wird schnell wärmer, aber trotzdem ist eine Kälte in mir spürbar, die mir total unbekannt ist. Wie als hätte man einen Schalter umgelegt, greife ich nach dem Shampoo und beginne damit, wie wild über meinen Körper zu schrubben, als würde ich mir die Haut abschaben wollen und ja, vielleicht will ein ziemlich großer Teil von mir das auch. Meine alte Haut abkratzen, damit eine neue unverbrauchte Haut nachwachsen kann. Eine, die nicht geschändet worden ist. Eine, die unberührt ist. Aber bis darauf, dass ich mich wund scheuere, erreiche ich nichts. Das altbekannte Ekelgefühl kehrt zurück und schlingt sich wie ein Kokon, aus dem es kein Entkommen gibt, um mich.
„Rika!“ Johannas Stimme dringt an mein Ohr und wird aber von dem lauten Rauschen der Dusche fast komplett verschluckt. Ich seife mich ein weiteres Mal von oben bis unten ein. Und dann noch einmal. Bis die Flasche leer ist und nichts mehr hergibt. Blöde Flasche, lässt einen einfach im Stich. Genauso wie mein Bruder, den es nicht interessiert hat, wie es Mama und mir geht, seit Papa nicht mehr da ist. An den Kosten für die Pflege von Mama wollte er sich auch nicht beteiligen, obwohl er im Gegensatz zu mir das nötige Geld zur Verfügung gehabt hätte. „Das wäre rausgeworfenes Geld“, hatte er gesagt. „Die wird nie im Leben wieder clean.“ Vor lauter Wut donnere ich meine Faust gegen die Duschwand, mehrmals, immer wieder und schreie auf, als der Schmerz mich von hinten packt und in seine Arme zieht. Moment. Nicht der Schmerz. Nein. Etwas zieht mich von hinten weg aus dem Duschstrahl heraus und schleift mich über die Fliesen. Ich will mich wehren und um mich strampeln, doch dann sehe ich Neros Lederarmbänder auf meinem Brustkorb und lasse mich widerstandslos in seinem Griff fallen.
„Beruhig dich“, höre ich ihn leise sagen. Seine Wange kitzelt an meinem Ohr. „Ganz ruhig, Erika.“ Er geht langsam mit mir zu Boden, stützt mich, bis ich wohlbehalten unten ankomme und nicht mehr umfallen kann, dann lässt er mich los und weicht etwas von mir zurück.
„Wenn du sie noch einmal anfasst“, zischt Johanna von ihrer Matratze aus und im Augenwinkel kann ich wahrnehmen, wie sie irgendetwas in der Hand hält und es drohend in die Luft hält. Vielleicht die Gabel oder das Messer. Tuga taucht vor mir auf und drückt seine Schnauze gegen mein Gesicht. Eine warme Zunge leckt über meine Wange. Einmal, zweimal. Aus Reflex halte ich mir die Hände vors Gesicht, um den Angreifer abzuwehren. Aber Tuga versteht von alleine und zieht sich zurück.
„Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich zugesehen hätte, wie sie sich die Hand bricht?“, kontert Nero rau und ich höre, wie sich seine Stiefel entfernen. „Warte!“, sage ich und drehe mich um. Nero bleibt kurz stehen und blickt über seine Schulter. Johanna hat recht. Er sieht total fertig aus. Seine Augen wirken müde. Seine Gesichtszüge verhärtet und die Eiseskälte hat sich wieder fest in seinem Blick verankert.
„Wir müssen reden“, quetsche ich heraus und als Antwort erhalte ich etwas, das ich von Nero niemals erwartet hätte. Er zeigt mir einfach den Mittelfinger und verlässt ohne ein weiteres Wort den Duschraum. Total perplex starre ich ihm nach und kann nicht fassen, was da gerade vonstatten gegangen ist. Tuga stupst mich mit der Nase an, als wollte er wissen, was mit mir los ist. Das wüsste ich auch gerne, aber viel lieber wüsste ich, was mit Nero los ist. Wie mechanisch wandert mein Fokus von der Tür zu Johanna, die noch immer zu der Stelle blickt, wo Nero gerade verschwunden ist. „Hast du das gerade auch gesehen?“, frage ich immer noch fassungslos. Ihre Augen schnellen in meine Richtung, dann nickt sie. „Er hat dir gerade den Mittelfinger gezeigt“, entgegnet sie und klimpert entsetzt mit den Wimpern. Ich krabble auf allen Vieren auf Johanna zu und setze mich wieder zu ihr auf die Matratze. Meine Hand schießt zum Orangensaft und als das Glas meine Lippen berührt, schütte ich den Inhalt runter, als wäre es Wodka Orange und ich in Stimmung mir ordentlich einen hinter die Birne zu kippen. „Ich bin ja erst ungefähr einen Tag hier bei ihm, aber irgendwie habe ich ihn nicht so… plump eingeschätzt.“ Johanna zieht die Mundwinkel nach unten und glotzt die Gabel in ihrer Hand an. „Erinnert mich ein bisschen an Fynn“, seufzt sie und in ihrer Stimme schwingt ein trauriger Unterton mit.
„Fynn?“, bohre ich nach und als sie daraufhin die Augenbrauen zusammenzieht, merke ich von selbst, wen sie meint. 27. Den Meister, den sie abgestochen hat.
„Der von dem du behauptest hast, er wäre ja soooo zärtlich zu mir gewesen“, zieht sie mich auf und schenkt mir einen leicht säuerlichen Blick.
„Tut mir leid, aber im Video…“
„Im Video? Rika, das ist alles nur Show! Noch nie was von Theaterschminke und Lichteinfall gehört? Gut zugegeben, als die mich von ihm runtergezerrt haben, habe ich mir die ein oder andere Verletzung zugezogen. Und der eine Kerl hat mich ziemlich hart verprügelt, aber das soll nicht heißen, dass Fynn zimperlich mit mir vorgegangen ist. Gegen Ende war es vielleicht nicht mehr so schlimm wie am Anfang, aber halt trotzdem schlimm. Er ist ein Mistkerl und er hat verdient, was ich ihm angetan habe. Hörst du? Und dein Kerl hat auch verdient, was du ihm angetan hast. Irgendetwas musst du ja gemacht haben, dass er dir den Mittelfinger zeigt, statt seine Köter auf dich zu hetzen. Und der da“, Johanna zeigt auf Tuga, der sich vor mich hingesetzt hat und mich bedröppelt anguckt. „Der scheint dich ja plötzlich richtig zu mögen.“
„Irgendwie schon“, stimme ich ihr zu und strecke die Hand nach Tuga aus. Der graue Wolfshund drückt seinen Kopf dagegen und schmiegt sich gegen meine Handfläche.
„Weißt du Rika, vielleicht bin ich die Sache falsch angegangen. Ich habe meinen Meister abgestochen und bin bei deinem Kerl gelandet. Das heißt allein mit Abstechen kommen wir hier nicht raus. Die reichen uns einfach rum wie billige Nutten und wir können ja nicht alle von denen abstechen, obwohl ich das gerne würde. Wir müssen die Sache also anders angehen. Und ich glaube ich habe sogar schon eine Idee. Du musst ihn rumkriegen!“ Johanna grinst mich an, während sich in meinem Kopf nur ein riesiges Fragezeichen ausbreitet.
„Wie rumkriegen?“
„Na du machst dich an ihn ran. Bringst ihn dazu, sich in dich zu verlieben und wenn du ihn soweit hast, bittest du ihn einfach uns hier rauszuschmuggeln.“