Löchlein
Sommer 2005
„Und wie findest du es? Gefällt es dir?“
Mein Traumprinz steht ganz oben auf der Leiter. Er hat einen Pinsel in der Hand und ein bisschen Farbe im Gesicht und in den Haaren.
„Wow!“
Ich stehe vom Bett auf und gucke begeistert zu ihm hoch. Die Wand ist viel dunkler als vorher und die Kratzspuren von Mietzi sind auch unter dem neuen Anstrich verschwunden. Ich vermisse Mietzi und finde es schade, dass sie weggelaufen ist. Aber so muss ich wenigstens nun nicht mehr so fest an sie denken. Wo sie jetzt wohl ist? Ob sie eine andere Familie gefunden hat, die sich um sie kümmert? Ich hoffe es.
„Also findest du es gut?“, fragt mich Joey nochmals und beäugt kritisch sein Kunstwerk.
„Mega gut!“, schwärme ich und empfange meinen Prinzen sehnsüchtig unten an der Leiter. Als seine Füße die letzte Sprosse passiert haben und er wieder sicher auf dem Boden angekommen ist, werfe ich mich dankbar in seine Arme. Joey streichelt mir über den Kopf. Ich liebe es, wenn er das tut.
„Entspricht auch mehr deinem Alter“, raunt Joey undeutlich in mein Ohr. Ich habe keine Ahnung, was er damit meint, aber ich nicke zufrieden. Egal ob Violett oder Rosa, ich mag beide Farben gern.
„Ich habe noch eine Überraschung für dich“, sagt Joey nach einer Weile und befreit sich aus meiner Umklammerung.
„Echt?“
Grinsend holt er hinter dem Farbkübel ein Paket hervor. Meine Augen werden riesig, als er mir die Erlaubnis gibt, es zu öffnen. Blitzschnell schnappe ich die Schere von meinem Schreibtisch und… Nilpferdgroße Tränen kullern vor Freude über mein Gesicht. Joey hat mir einen Bilderrahmen geschenkt und was für einer! Er ist aus echtem Kiefernholz und sieht wunderschön aus.
„Los, lass uns eine deiner Zeichnungen an die neue Wand hängen!“, schlägt Joey vor. Ich nicke völlig überwältigt von dem großartigen Geschenk und kann nicht anders, als Joey nochmals zu umarmen.
„Du bist der Allerbeste!“
„Das ist doch nur eine Kleinigkeit. Such dir eine Zeichnung aus und ich schlag schon mal einen Nagel in die Wand.“
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich sause zu meinem Schreibtisch und stürze mich auf die Truhe darunter. Dort drin sind meine Lieblingszeichnungen verstaut und ich muss gar nicht lange wühlen, um meinen absoluten Favoriten zu finden. Die Erinnerung an den Tag, an dem ich sie gemalt habe, löst besondere Gefühle in mir aus. Auch jetzt wird mir warm und es kribbelt überall. Es ist so schön, wenn es kribbelt. Ich habe Joey die Zeichnung noch nie gezeigt, aber heute werde ich es tun!
Schüchtern strecke ich sie Joey hin.
„Die da!“
Joeys Wangen werden feuerrot. Ob es ihm wohl so geht wie mir? Spürt er das Kribbeln?
„Willst du nicht lieber eine andere Zeichnung an die Wand hängen?“
Joeys Stimme klingt komisch. So rau und viel tiefer als sonst. Ist er wütend? Mag er die Zeichnung etwa nicht?
„Das ist aber meine Lieblingszeichnung“, sage ich und schaue Joey enttäuscht an. „Gefällt sie dir nicht?“
„Hast du..” Joey räuspert sich verlegen. “Hast du mir die ganze Zeit dabei zugesehen? Also bis zum Ende?“
„Ist das schlimm?“
“Warum hast du das getan?”
“Ich.. ich…”, stammele ich unsicher. “Weil ich es schön finde, wenn du..”
“Ist schon gut”, unterbricht mich Joey und dreht sich von mir weg. “Hängen wir es an die Wand.”
Als das Bild an meiner neuen Wand angebracht ist, bin ich überglücklich. Es passt einfach perfekt.
„Sag mal, würdest du mit mir mitkommen wollen, wenn ich diesen Ort verlasse?“ fragt mich Joey nach einer Weile nachdenklich, während wir beide mein Kunstwerk und die neue Wand betrachten. Warum sollte ich denn von hier weg wollen? Es ist doch schön hier. Ich schaue Joey ins immer noch knallrote Gesicht und weil er so betrübt aus der Wäsche guckt, sage ich einfach: „Ja!“, obwohl ich gar nicht weg will. Aber überall wo Joey ist, ist es bestimmt genauso schön.
Zusammen räumen wir die Unordnung auf, dann ist die Zeit um und Joey macht die Tür hinter sich zu. Ich flitze wieder zu meinem Schreibtisch, hole meinen Block und einen Bleistift und mache es mir mit einem Kissen vor der Tür, aus der Joey soeben verschwunden ist, gemütlich. Neugierig gucke ich durchs Schlüsselloch und fange an zu zeichnen. Joey läuft in seinem Zimmer hin und her. Das ist blöd. So schnell kann ich doch gar nicht malen, der soll mal still halten! Aber Joey hält erst still, als Papa auftaucht. Die beiden streiten sich und seit Joey Papa eingeholt hat und jetzt sogar einen Kopf größer ist als er, rutscht Papa fast jeden Tag die Hand aus. Heute ist der Streit besonders schlimm und laut. So laut, dass ich mir die Ohren zuhalten will. Ich habe Papa mal gefragt, warum er Joey Ohrfeigen gibt und er hat mir gesagt, das hätte etwas mit Autorität zu tun. Joey hätte keinen Anstand und er müsse besser gehorchen, so wie ich. Ich habe Joey gebeten, wieder brav zu sein, so wie früher, aber von mir lässt sich Joey auch nichts sagen. Er ist ein Rebell und irgendwie finde ich das total cool. Ich würde mich sowas nie trauen.
Während ich die beiden Streithähne beobachte, kaue ich ungeduldig auf meinem Bleistift rum. Vielleicht sollte ich einfach ein Kätzchen malen. Ja. Das ist eine gute Idee. Gerade als ich loslegen will, knallt es. Meine Augen huschen wieder zum Schlüsselloch. Plötzlich stehen viele Männer in Joeys Zimmer. Was wollen die denn hier?
Mein Herz klopft ganz wild, als Joey zusammen mit Papa auf die Knie geht und sie beide die Hände in die Höhe halten. Die fremden Männer haben Pistolen und schreien herum. Als einer der Männer sich auf Joey legt und ihn auf den Boden drückt, gehe ich ein paar Schritte von der Tür weg, weil sie bestimmt gleich geöffnet wird. Artig warte ich ab, bis es soweit ist und strecke bereitwillig meine Arme aus.
Die Männer katapultieren die Tür aus ihrer Angel und verpassen mir einen Schreck. Die sind aber ungeduldig, ich lauf doch schon nicht weg!
„Hier ist sie!“, ruft einer der Männer sehr laut. Hinter ihm tauchen mehr Männer auf und wuseln hektisch in alle Richtungen. „Scheisse“, flucht ein anderer und meint damit hoffentlich nicht mein Bild an der schönen Wand.
„Verdammte verfluchte Scheisse“, flucht er abermals. Ein Dritter brüllt „Sicher!“ als er an meinem Bett vorbeiläuft und aus einem anderen Zimmer ertönt ein Echo. Und noch einmal von ganz woanders. Das ist ein komisches Spiel, aber ich bleibe brav und strecke weiterhin geduldig die Arme aus, obwohl die schon anfangen schwer zu werden. Einer der Männer kommt auf mich zu, langsam und vorsichtig. Na endlich! Als der Mann vor mir in die Knie geht, bin ich verwirrt und als er dann noch die Haube vom Kopf zieht und gar kein Mann zum Vorschein kommt, wird mir flau im Magen. Mit einer Frau habe ich sowas noch nie gemacht. Ich will an der Frau vorbei zu Joey gucken, aber sie versperrt mir die Sicht.
„Du brauchst keine Angst mehr haben. Du bist in Sicherheit“, sagt sie in einem ruhigen Ton und lächelt mich freundlich an. „Du bist Melanie, Melanie Neuhaus richtig?“
Ich schüttle mit dem Kopf.
„Mein Name ist Löchlein“, teile ich der Frau mit. Der Mann, der neben der frisch gestrichenen Wand steht, flucht wieder.
„Diese verdammten Schweine!“ Er nimmt zügig die Haube vom Kopf, beugt sich herunter und muss stark würgen. Ob er was Falsches gegessen hat? Er sieht schön aus, fast so schön wie Joey. Mir gefallen die vielen Glitzersteine in seinem Gesicht. Der Mann, der vor der Tür steht, hält sich ein Gerät vor den Mund: „Das ist die Hölle hier, haltet den Blickschutz bereit.“
Die Hölle? Das ist mein Zuhause! Ich will schon protestieren, da legt die Frau ihre Hände behutsam auf meine ausgestreckten Arme, die schon sehr weh tun.
„Wir bringen dich jetzt hier raus. Okay? Du musst keine Angst haben.“
„Bitte, sie ist ein besonderes Mädchen, es macht sie kaputt, wenn sie die Wahrheit erfährt!“, höre ich Joey verzweifelt aus dem Hintergrund schreien. Er klingt so traurig. Irgendwas ist anders als sonst. Sonst ist er weniger aufgebracht, wenn wir Besuch bekommen.
„Halt die verdammte Fresse, du beschissener Hurensohn“, knurrt einer der Männer böse.
“Bitte!”, fleht Joey abermals aber der Mann hat kein Erbarmen.
Das Spiel gefällt mir überhaupt nicht. Ich fange an zu weinen. Die Frau zupft und zerrt an mir, aber ich will mich nicht bewegen. Ich will hierbleiben. Hier bei Joey, das ist mein Zuhause! Ich wehre mich mit Händen und Füssen, obwohl sich das nicht gehört.
“Wednesday! Wir brauchen hier Hilfe!”, ruft die Frau nah an meinem Ohr. “Okay, Melanie, beruhig dich. Das macht jetzt kurz Piecks”, sagt sie etwas leiser und holt etwas Funkelndes aus ihrer Verkleidung. Ich haue sie so fest wie ich kann, dann wird mir ganz schwarz vor Augen.
Sommer 2020
Ich drücke die dritte Zigarette an der Wand aus. Das alles dauert mir viel zu lange und ich werde allmählich ungeduldig. Fünfzehn Jahre warte ich nun schon. Irgendwann müssen sie ihn gehen lassen, unnötig das Ganze in die Länge zu ziehen. Ich bin nervös, obwohl ich diesen Moment unzählige Male in meinem Kopf durchgegangen bin. Es ist eine Frage, die alle beschäftigt. Selbst die, die absolut nichts damit zu tun haben.
“Wie reagierst du, wenn es soweit ist?”
Tja, wie würdest du wohl reagieren? Wie denn? Los, sag es mir. Keine Antwort? Schade.
Gerade als ich mir die vierte Kippe anzünden will, verlässt er endlich das Gebäude. Ein Blick reicht, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Ja, sie haben ihn dort drin kaputt gemacht. Er war vorher schon kaputt, aber jetzt? Von meinem Traumprinz von damals ist nichts mehr übrig. Ein gebrochener Mann mit struppigem Haar, eingefallenen Wangen und einem ausgemergelten Körper kommt mit langsamen Schritten in meine Richtung. Das Toy-Tattoo auf seiner Schläfe ist neu und irgendwie geschmacklos besonders in Anbetracht der gemeinsamen Vergangenheit, die wir miteinander teilen. Ich nehme einen letzten tiefen Atemzug und trete aus dem Schatten.
Er erkennt mich nicht, aber das überrascht mich nicht. Ich bin über die Jahre zu einer Frau herangewachsen. Ohne mich genauer anzusehen, versucht er einen Bogen um mich zu machen, aber ich stelle mich ihm solange in den Weg, bis er notgedrungen seinen Blick heben muss. Ich bin immer noch um einiges kleiner als er, aber Angst verspüre ich trotzdem nicht. Die Verwirrung steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er kann mich absolut nicht zuordnen und er fragt sich bestimmt, was zum Teufel ich von ihm will. Es ist an der Zeit, ihm ein bisschen auf die Sprünge zu helfen. Ich strecke meine Arme aus und lächle ihn an. Die Erkenntnis trifft ihn wie ein Schlag. Sein Mund öffnet sich und er gerät ins Taumeln. Ich überlege, ob ich ihn festhalten soll, aber lasse es bleiben. Während er hin und her schwankend seine Gedanken ordnet, denke ich an all die Briefe, die ich geschrieben habe und die meine leiblichen Eltern nicht abschicken konnten. Es war zu schwer für sie. Ich sollte ihn einfach vergessen. Hätten ihm meine Briefe geholfen? Ich hatte immer das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben. Aber ich wusste es schließlich auch nicht besser. Heute ist es anders. Heute verstehe ich vieles, was ich damals in meinem kindlichen Leichtsinn einfach ausgeblendet habe.
Zögernd legt Joey seine Hände auf meine ausgestreckten Arme und ich bemerke, dass er zittert. Früher hat er nie dabei gezittert. Wie einstudiert überkreuze ich die Arme und er bindet, schwer mit sich ringend, eine imaginäre Fessel darum. So wie damals. In seinen Augen sehe ich irgendetwas zerbrechen. Tränen sammeln sich darin. Ich merke, dass er mit sich hadert. Er weiß, dass das, was er gerade tut falsch ist. Total falsch und um es zu unterstreichen, schüttelt er hektisch den Kopf, als würden so all die bösen Erinnerungen verschwinden und einfach zusammen mit all den Dämonen aus seinen Ohren sickern. Auf Nimmerwiedersehen. Aber so einfach geht das nicht. Ich weiß das. Und er weiß es auch.
“Du bist…du… du… bi… bist”, stottert er herum und bindet die Fessel fertig. “
Gross geworden?”, beende ich seinen Satz und senke meine Arme.
Er nickt zustimmend.
“Sag mal, würdest du mit mir mitkommen wollen, wenn ich diesen Ort verlasse?”
Joey ist überrascht. Die Frage aus meinem Mund zu hören, ist seltsam. Auch für mich. Ohne etwas darauf zu erwidern, hebt er sein linkes Hosenbein. Eine Fußfessel. Nichts womit ich nicht gerechnet habe.
“Das da vorne ist mein Auto”, sage ich und zeige auf den roten Toyota Auris, den ich zu meinem 18. Geburtstag geschenkt bekommen habe. Damit verpasse ich Joey sichtlich einen Stich mitten ins Herz. Er zuckt zusammen. Ich lege ein Lächeln auf meine Lippen. ‘Papa’ hat so einen gefahren. Ich weiß das aber nur, weil Joey mir mal davon erzählt hatte.
“Du… solltest… nicht… hier… sein”, stöhnt Joey schwerfällig. Mir ist egal, wo ich sein sollte.
“Und kommst du mit?” Ich zupfe an seinem ausgebeulten Pulli herum und bewege meine Hüften dazu passend von rechts nach links und zurück. Er beobachtet mich dabei und zum ersten Mal erkenne ich etwas von dem alten Joey in dem kaputten Mann vor mir wieder. Er wird rot. Knallrot.
Als Joey auf der Beifahrerseite Platz nimmt und dabei aussieht wie ein Häufchen Elend erfasst mich das schlechte Gewissen. Ich habe als Kind zwar allen erzählt, wie es mir in diesem Haus und in diesem Zimmer ergangen ist, aber so richtig glauben wollte mir das niemand. Das hätte man mir alles eingetrichtert und weil alle von mir eine ganz andere Geschichte erwarteten, habe ich ihnen halt irgendwann gegeben, was sie so unbedingt hören wollten. Und es tut mir leid. Wirklich leid.
Ich seufze und starte den Motor. Wir fahren eine Weile und weil Joey nichts sagen will, versuche ich die Stille zu füllen.
“Warum hat niemand nach dir gesucht?”
Ich schaue rüber zu Joey, dieser zuckt lediglich mit den Schultern.
“Weißt du, Joey. Die haben mir keine andere Wahl gelassen. Mir wollte niemand glauben. Die wollten mir einfach nicht glauben.”
Meine Augen wandern zurück auf die Straße vor uns. Wieder dieses unangenehme Schweigen. Kaum vorstellbar, dass mir Stille früher so absolut gar nichts ausgemacht hat. Aber seit ich mir die explosive Lautstärke der realen Welt da draußen gewohnt bin, fühlt es sich komisch an, wenn es ruhig ist. Als befände ich mich in einem Vakuum. Einem Vakuum bestehend aus leisen Motorgeräuschen von meinem Toyota Auris und den eigenen Gedanken.
Eine Viertelstunde später steigen wir aus und ich führe Joey in meine Wohnung. Sie ist ziemlich leer und unspektakulär. Es gibt nur ein Zimmer, das ich Joey unbedingt zeigen will. Ich drücke mich von hinten an ihn heran, stelle mich auf die Zehenspitzen und halte ihm die Augen zu. Das Zittern kehrt zurück. Sein kompletter Körper versteift sich. Armer Joey, was haben die da drin nur mit dir gemacht?
“Das wird dir gefallen”, flüstere ich vorfreudig in sein Ohr und führe den Mann, der mir mal so viel bedeutet hat, in mein Schlafzimmer.
“Achtung”, warne ich ihn vor und nehme die Hände von seinem Gesicht. Ich sprinte um ihn herum und stelle mich in die Mitte des Raumes. Vorsichtig, fast schon in Zeitlupe öffnet er die Lider.
“Und gefällt es dir?”, hake ich ungeduldig nach, weil seine Reaktion auf sich warten lässt. Sein Kiefer senkt sich. Er schnappt nach Luft und blinzelt ein paar Mal.
“Www…. arum?”
Ich zeige auf die Wand, die frisch gestrichen ist. Gleiche Farbe wie damals.
“Moment, das Beste kommt erst”, kündige ich an und hole die Überraschung unter meinem Kopfkissen hervor. Da er wie festgefroren scheint, drücke ich ihm den Bilderrahmen in die unruhigen Hände. Wie gebannt starrt er auf das Kunstwerk darin und ich weiß, dass er es wiedererkennt. Seine Wangen glühen im selben Rot wie vor 15 Jahren. Egal, was die da drin mit ihm gemacht haben, ein bisschen Joey steckt noch immer in ihm.
“Ist … das…”
“Ich habe es zurückgefordert”, unterbreche ich ihn und betrachte zusammen mit ihm die Zeichnung in dem hölzernen Rahmen. Obwohl so viele Jahre verstrichen sind, hat es denselben Effekt auf mich. Für einen kurzen Augenblick erlaube ich mir einen Blick zwischen seine Beine und frage mich, wie sehr meine Erinnerungen und meine Zeichnungen von der Realität wohl abweichen.
“Würdest du es für mich aufhängen?”
Joeys Aufmerksamkeit wandert von dem Bild zu mir. Sein Mund verkrampft sich.
“Bitte?”
Ich reiche ihm eine Schachtel mit Nägeln und einen Hammer. Völlig überfordert sieht er mich an. Dann das Kunstwerk und anschließend die Wand. Er nimmt einen tiefen Atemzug und macht sich ans Werk. Er ist ungeschickter als früher und er braucht ein paar mehr Schläge, bis der Nagel genug tief ist, um das Bild daran aufzuhängen. Glücklich lasse ich mich aufs Bett fallen, während er an Ort und Stelle stehen bleibt und nichts mit sich anzufangen weiß.
“Warst du damals in mich verliebt?” frage ich ganz unverblümt. Joey starrt irritiert auf den Boden.
“Du.. warst..ein… besonderes.. M...M…”
Das reicht mir als Antwort. Ich klopfe mit der flachen Hand auf die Matratze und signalisiere ihm, sich neben mich zu setzen.
“Warum… das… alles?”
“Die Welt da draußen überfordert mich. Sie ist mir zu groß. Zu laut. Die Menschen sind komisch. Jeder denkt nur an sich. Es geht nur um Geld und um Macht und Ansehen. Ich will kein Teil davon sein. Ich brauche das alles nicht. Das ist nichts für mich, Joey. Ich habe es versucht. Wirklich. Aber es hat mich unglücklich gemacht.”
Joey schlurft zu mir und setzt sich neben mich.
“Du… siehst… die… Welt.. lieber… durch…”
“Durch ein Schlüsselloch”, beende ich Joeys Satz und muss lachen. Ich lehne mich an den Mann und es hat etwas Vertrautes, als es in meinem Bauch zu Kribbeln anfängt. Sein Geruch steigt mir in die Nase und obwohl er anders ist, als ich ihn in Erinnerung habe, mag ich ihn.
“Meinst du wir können einfach wieder zurückkehren?”
“Willst… du...das...denn?”
Ich muss nicht lange überlegen und strecke meine Arme bereitwillig aus. Joey tut es mir gleich und lächelt schief. Er hat eine Zahnlücke und auch viele Narben im Gesicht, die früher nicht da waren. Aber das stört mich nicht. Ich wünschte, ich hätte mehr tun können, um ihn davor zu bewahren oder zu retten. Ich war einfach noch zu klein. Viel zu klein und alle wollten nur das in ihm sehen, was sie eben sehen wollten.
Ich packe all meinen Mut zusammen und tue endlich das, was ich mich als Mädchen nie getraut habe, zu tun. Ich küsse ihn. Ich küsse meinen Joey und als unsere Lippen sich treffen, weiß ich, dass das, was mein kindliches Ich damals dachte, stimmte. Überall wo Joey ist, ist es schön und das ich nie wieder weg von ihm will.