Liebe kennt kein Alter

kontroverse Geschichten 21. Jan. 2022

Ein typischer Montagmorgen, denke ich und will mir gerade eine Zigarette anzünden, als die Beifahrertür aufgerissen wird. Etwas überrascht und überrumpelt schiebe ich die Zigarette unauffällig in meine Hemdtasche zurück. Eigentlich ist es verboten im Wagen zu rauchen, ich halte mich aber nur spärlich daran. Besonders wenn es wie heute aus Kübeln schüttet. Neugierig drehe ich mich zu der hektischen Frau um, die nervös an der Kleidung von ihrem… Kind rum zupft und erstarre. Sie wirft mir einen leicht verzweifelten Blick zu und schenkt mir ein dankbares Lächeln. Ich ringe mich zu einem freundlichen Gesichtsausdruck durch, erspähe neben der Frau zwei grosse Koffer und will die Fahrertür öffnen, als sie das Wort ergreift. „Sie retten uns gerade den Arsch. Oh entschuldigen Sie,… ähh Jimmy, das hast du nicht gehört. Ehm… können sie bitte meinen Sohn zur Schule fahren? Neumannstrasse 1? Ich muss dringend meinen Zug erwischen.“ Bevor ich etwas erwidern kann, befördert sie ihren Sohn bereits auf die Rückbank von meinem Taxi, drückt ihm einen Kuss auf die Stirn und schliesst die Tür. Dann hechtet sie wieder zur Beifahrertür, lehnt sich über den Sitz und drückt mir ein paar Scheine in die Hand. „Moment, das ist viel zu viel und ich ähh…“, stammele ich aber sie schüttelt lediglich mit dem Kopf und wirft einen Blick über ihre Schulter zu ihrem Sohn, der seinen Monstertruck fest in den Händen hält und sich sichtlich unwohl fühlt, so alleine in einem fremden Auto. „Der liebe Mann wird dich zur Schule fahren ja Jimmy? Sei ein braver Junge. Mami holt dich dann nachmittags wieder ab.“ Der Junge nickt leicht gequält und drückt seinen Monstertruck gegen seine Brust. „Super, ich bin ganz stolz auf dich.“ Die Frau verschwindet wieder aus meinem Wagen und befördert einen kleinen Rucksack mit Delfinmotiv auf den Beifahrersitz. „Sie sind wirklich meine Rettung.“
„Das ist viel zu viel Geld und Madame,… ich kann nicht.“
„Ich weiss, behalten sie das restliche Geld. Wirklich ich bin so froh, dass sie gerade hier parken! Sie sind wirklich meine Rettung.“ Sie wirft einen kurzen Blick auf ihre Uhr, dann schnappt sie wie von der Tarantel gestochen nach ihrem Koffer. „Neumannstrasse 1, der Sonnenlandschule. Vielen Dank nochmals!“ Die Beifahrertür wird zu geschleudert und ehe ich irgendwie reagieren kann, spurtet die Frau mitsamt Koffer über die Strasse und verschwindet im Bahnhof. Angespannt starre ich auf das Geld in meiner Hand und spüre, wie meine Finger schlagartig anfangen zu zittern. Ich kann doch nicht… Meine Augen wandern zum Rückspiegel hoch und verharren auf Jimmy, der wie versteinert auf meiner Rückbank sitzt und mit leerem Blick aus dem Fenster schaut. Seine kurzen blonden Haare sind mit etwas Gel zu einer Igelfrisur aufgestellt und verleihen dem kindlichen Gesicht einen frechen Touch. Er trägt einen blauen Regenponcho, der völlig durchnässt und ihm mindestens eine Nummer zu gross ist. Wahrscheinlich hat er dazu die passenden Gummistiefel an oder vielleicht sogar ein paar in etwas knalligeren Farben, aber ich traue mich nicht, mich umzudrehen und einen Blick nach hinten zu riskieren, um ein genaueres Bild zu erhaschen und zwinge mich, die Augen von seinen durch die Kälte leicht bläulich violett wirkenden Lippen und den süssen braunen Sommersprossen auf seinen Wangen zu lösen. Was sagt man in so einem Moment? Besser gesagt, was soll ich tun? Ich spüre wie unangenehme Hitze in mir aufsteigt und meine Haut zum Brennen bringt und das Blut darunter zum Brodeln. Normalerweise meide ich solche Situationen konsequent und jetzt, sitze ich hier und kann mich nicht rühren. Ich, alleine mit einem Jungen in einem Auto und ich sehe deutlich, wie er sich unwohl fühlt in meiner Gegenwart. Es schnürt mir die Kehle zu und verwehrt mir die Chance, das Wort zu ergreifen und irgendetwas zu sagen, um ihm die Angst vor mir zu nehmen. Ob er weiss, was in mir vorgeht? Ich schlucke und verbanne den Gedanken von mir auf ihm, wie ich sanft über seine leicht rötliche Wange streichle, ihn küsse, seinen kleinen zerbrechlichen Körper erkunde in den Hintergrund, stecke das Geld in meine Hose und drehe den Zündschüssel. Der Motor heult auf. Einen letzten kurzen Blick in den Rückspiegel. Unsere Augen treffen sich für einen Moment. Blau, wie sein Poncho. Nein. Ich darf nicht, es ist nicht richtig. Ich biege auf die Strasse ab und fahre für ein paar Minuten schneller als ich sollte. Als würde ich vor mir und meinen Fantasien davonrasen wollen. Es fällt mir sichtlich schwer, mich auf den Verkehr zu konzentrieren, immer wieder wandern meine Augen zum Rückspiegel und betrachten Jimmy, der mich beobachtet. Ob ich ihm gefalle, so wie er mir gefällt? Das ist absurd. Natürlich nicht.
Ich drehe das Radio lauter, in der Hoffnung, die Musik würde meinen inneren Monolog übertönen und reduziere stark das Tempo. Du machst ihm Angst. Ruhig. Fahr vorsichtig. Langsam. Er ist so jung. Schön. Diese Sommersprossen… Er gefällt mir. Nein. Ruhig. Fahr den Jungen einfach zur Schule. Aber… Nein. Ruhig. Fahr langsamer.
Mit 18 Jahren habe ich eine Therapeutin aufgesucht unter dem Vorwand unter Depressionen zu leiden, was zur Hälfte auch so gewesen ist. Ich habe ihr von meinen Fantasien erzählt, von Fantasien mit Kindern. Habe ihr erzählt, wie sehr ich mich zu ihnen hingezogen fühle. Sie meinte daraufhin, diese Fantasien würden verschwinden, wenn ich älter werde und jetzt, 12 Jahre später, sind sie immer noch da. Allgegenwärtig. Die Fantasien haben sich all die Jahre nicht geändert. Sobald ich einen Jungen sehe meistens zwischen 7 und 12 Jahren, stelle ich mir vor, wie ich ihm den Pullover und das Shirt ausziehe, um die weiche Kinderhaut darunter zu streicheln. Wie ich ihm die Hose aufknöpfe und… meine Augen wandern automatisch wieder zum Rückspiegel. Ja, auch jetzt würde ich gerne wissen, was sich unter dem blauen Regenponcho verbirgt. Ich könnte einfach anhalten, ihn auf den Rücksitz drücken und es herausfinden. Aber ich weiss, er würde es nicht wollen, es würde ihm nicht gefallen und ich würde ihm wehtun. Ich liebe Kinder viel zu sehr um ihnen weh zu tun. Anfangs habe ich mich gegen den Gedanken gewehrt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Aber mittlerweile, habe ich mich damit abgefunden so zu sein, wie ich bin. Ich habe keine andere Wahl, ich bin krank. Ich bin pädophil und ich habe es akzeptiert. Aber es ist so verflucht schwer, mit dieser Krankheit zu leben. Die ersten Wochen, als mich die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht getroffen hat, habe ich mit Verwirrung, Verzweiflung und Selbstmordgedanken gekämpft. Anfangs habe ich gehofft, Pädophilie wäre heilbar, aber als ich gelesen habe, dass Pädophilie als eine Sexualformt gilt, die nicht frei wählbar ist, genauso wenig wie Hetero – oder Homosexualität und eine Veränderung der sexuellen Orientierung nicht möglich sei, ist in mir alles zerbrochen. Es ist unheimlich schwer, sich damit abzufinden und man kann sich niemanden anvertrauen. Jeder würde dir den Rücken zudrehen, ob Familie, Verwandte oder Freunde. Jeder verurteilt dich. Man ist ein Monster, dass jederzeit aus seinen Fesseln ausbrechen könnte und,... der blonde Schopf von Jimmy taucht neben mir auf dicht gefolgt von dem Monstertruck, den er mir stolz vor die Nase hält. Instinktiv trete ich in die Bremse, halte meine Hand schützend vor den Jungen, während der Wagen unter quietschenden Reifen zum Stillstand kommt. Zu meinem Glück sind wir gerade auf einer wenig befahrenen Seitenstrasse, nicht weit weg von der Schule, Tempo 30. Der Wagen hinter mir rast laut hupend an mir vorbei, aber das ist mir egal. Jimmys kleine Hände klammern sich um meinen Arm fest und im Augenwinkel erkenne ich, wie der Junge sichtlich überrascht wie ich über meine Bremsaktion nach Luft schnappt. Ich spüre, wie mein Herz viel zu schnell in meiner Brust schlägt und droht herauszuspringen. Der Körperkontakt fühlt sich gut an, seine Fingernägel in meiner Haut und sein Gesicht direkt neben meinem. Wie kann sich etwas so gut anfühlen und gleichzeitig so falsch sein?
„Entschuldigung“, japst der kleine Junge, lässt meinen Arm los und lässt sich mitsamt Monstertruck zurück auf die Rückbank fallen. Mein Blick folgt Jimmy im Rückspiegel und verharrt auf ihm. Ich sollte etwas erwidern aber ich kriege keinen Ton heraus, viel zu sehr bringt mich seine kindliche Stimme in Verlegenheit. Er gefällt mir. Er gefällt mir viel zu sehr. Ich presse meinen Körper gegen den Sitz, in der Hoffnung mit dem Polster zu verwachsen und mich auf der Stelle aufzulösen. Der Drang, ihm über das blonde kurze Haar zu streicheln und ihn zu berühren ist so stark, dass ich mich schäme. Als mein Kopf den Gedanken weiterspinnt und ich mir vorstelle, wie sich Jimmy auf meinem Schoss wohl anfühlen würde, spüre ich, wie die Selbstbeherrschung langsam bröckelt und sich in meiner Hose etwas regt. Eine Mischung aus Unbehagen und Verlangen, ein ewiger Kampf, der in mir tobt. Langsam zähle ich bis auf 10 und puste die Luft aus. „Nicht böse sein.“ Jimmy steckt den Kopf in den Kragen seines Ponchos und schaut auf den Monstertruck in seiner Hand.
„Das… macht nichts.“
„Mama lässt mich nie vorne fahren, dabei ist das voll cool.“
Erst jetzt realisiere ich, dass sie vergessen hat ihren Sohn anzuschnallen. Oder hat er den Gurt von selbst gelöst, weil er… mir näher kommen… Nein. Niemals. Ich kratze mir nervös über den Oberschenkel und starre auf die leere Strasse vor mir. Ich weiss, ich sollte nicht, ich sollte einfach losfahren und den Jungen zur Schule bringen. Aber ich kann nicht. „Möchtest du vorne sitzen?“
„Jaaaaaa!!!“
„Na gut, eine Ausnahme, aber nicht Mama verraten. Das bleibt unser kleines Geheimnis.“
Seine Augen leuchten begeistert, während er nickt. Meine Bedenken ignorierend steige ich aus, öffne die Tür und ohne zu zögern nimmt Jimmy vorne auf dem Beifahrersitz Platz. Seinen Rucksack werfe ich auf die Rückbank.
Ein kleines bisschen unwohl ist mir schon, als ich mich wieder hinter das Steuer setze und Jimmy neben mir ansehe. Dieser befördert begeistert seinen Monstertruck auf das Armaturenbrett und strahlt mich an. „Sie sind wirklich ein cooler Erwachsener!“
Schlagartig spüre ich ein heisses Prickeln in meiner Wange. Ein kleines Kompliment, was so viel in mir auslöst.
„In welche Klasse gehst du denn?“, frage ich und drehe den Zündschlüssel um, wohl wissend, dass ich nicht auf direktem Weg zur Schule, die nur noch ein paar Minuten entfernt ist, fahren werde.
„In die Erste. Aber Schule ist doof.“
„Wirklich? Warum findest du die Schule doof? Da lernt man doch viel.“
Jimmy erzählt mir, dass er in der Schule von ein paar anderen Jungs gehänselt wird. Er meint, die wären nur so gemein zu ihm, weil er so klein ist für sein Alter. Und ja, das ist er, er ist klein, zierlich aber so voller Leben und Tatendrang. Ich bewundere ihn und desto mehr ich seinen wilden Erzählungen über Dinosaurier, Trucks und Cowboys lausche, je mehr verliere ich mich in dem Gedanken, mich daran gewöhnen zu wollen. An ihn und den Kontakt zu ihm. Obwohl ich weiss, dass ich mich irgendwann nicht mehr zurückhalten könnte. Ich fahre ein paar Runden um den Block, schiele immer wieder zu dem Jungen neben mir herüber und male mir aus, wie schön es sein könnte, ihn nur einmal in den Arm zu nehmen. Er lächelt mich ein paar Mal an, lässt seinen Monstertruck ein paar imaginäre Rennstrecken in der Luft fahren und berührt mich ab und zu am Arm, wenn er mir etwas draussen zeigen will. Je länger die Fahrt dauert, umso wärmer wird mir und zum ersten Mal seit Langem fühle ich mich wohl. Angekommen. Lebendig.
Die Kälte, die mich erfasst, als ich Jimmy schlussendlich widerwillig vor der Schule absetze, holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück - und die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann eine Woche später, als ich mich dabei erwische, wie ich jeden Tag vor Jimmys Schule parke, in der Hoffnung ihn wiederzusehen. Mittwoch und Freitag ist das sogar der Fall gewesen. Er hat mein Taxi von weiten erkannt, gewinkt und mich dabei angelächelt. Die Sehnsucht nach dem Gefühl, was er, sobald er in meiner Nähe ist, in mir auslöst, treibt mich an immer wieder vor der Schule anzuhalten und die Kinder zu beobachten. Dabei fallen mir noch mehr Kinder auf, die mir zusagen und die mir gefallen. Dinge, die ich jahrelang ausgeblendet habe, keimen auf. Liebeskummer, die Sehnsucht nach Berührung und den Wunsch nach einer Beziehung, die absolut verboten ist, konkurrieren immer mehr mit meinem Verstand und kratzen Löcher in meine selbsternannten Regeln und Mauern, die mir helfen sollen mit meiner Krankheit klar zu kommen. Jahrelang haben die Regeln funktioniert. Keine Kinderpornos, keine Nacktbilder, nur die Bilder im Quelle-Katalog sind erlaubt, wenn es gar nicht mehr geht. Die Bilder im Katalog sind okay, alles andere geht zu weit. Kinder wirklich lieben bedeutet auf das Ausleben seiner Fantasien zu verzichten. Wie ein Mantra. Kinder zu lieben, bedeutet zu verzichten. Und ich verzichte gerne, ich verzichte gerne – ich liebe Kinder. Ich liebe Kinder zu sehr.
Ich bin dreissig Jahre alt, hatte noch nie eine Beziehung, noch nie Sex und bin an dem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr ohne Bedenken sagen kann, dass ich niemals ein Kind anfassen werde. Das muss aufhören, ich kann nicht jeden Tag hier vor der Schule stehen und der Versuchung lachend ins Gesicht blicken, irgendwann wird sie mich an der Hand nehmen und mich blind in einen Treibsand führen, aus dem ich nicht mehr rauskommen werde.
Samstagabend beschliesse ich dem ein Ende zu setzen. Ich muss mir professionelle Hilfe suchen, mich an jemanden wenden, der mir zeigt, wie ich besser mit der Krankheit leben kann und der mich nicht dafür verurteilt oder wegsperrt - , denn als Pädophiler entlarvt zu werden, bedeutet der soziale Tod. Also durchforste ich das Internet, sehr bedacht bei der Wahl der Suchbegriffe, die ich bei Google eingebe und stosse auf eine Uniklinik, die sich mit dem Thema auseinandersetzt. Sie versprechen Hilfe und sie ist nicht unweit von meinem Wohnort entfernt in einer Grossstadt.
Doch bevor ich Montag dort erscheine, schreibe ich einen Brief an mich selbst. Falls mir die Worte fehlen, wenn ich dort erscheine, einen Brief abzugeben ist einfacher, als das, was in einem vorgeht mit Worten zu beschreiben. Jemanden ins Gesicht zu blicken und zu sagen, ich bin pädophil bedeutet sehr viel Überwindung, ganz egal, wer die Person ist, der man gegenübersteht.
Ich schreibe alles nieder, all meine Gefühle und Fantasien, ich schreibe über Jimmy und sein Lächeln, notiere meine Regeln, nicht nur um sie auf Papier zu verewigen, nein, auch um mich an sie zu erinnern und sie in meinem Kopf wieder präsent werden zu lassen. Sie müssen sich verankern und festigen, ansonsten fahre ich montags wieder zur Schule anstatt zur Klinik und das will ich nicht. Oder? Will ich es nicht? Seufzend stecke ich den Brief in meine Hose und stelle mich vor den Spiegel. Mittellanges blondes Haar, weiche Gesichtszüge, nicht markant, noch sehr jungenhaft. Eine gerade Nase, volle Lippen, in der linken Unterlippe ein kleiner Metallring, ein bisschen Bartwuchs nicht viel. Ich bin normal gebaut, grosse Hände, Hornhaut unter den Fingern durch das Zupfen der Gitarrenseiten. Ich sehe nicht aus, wie ein Monster, aber in mir schlummert eins. Nein. Ich bin ein Monster. Die Ketten sind gespannt. Es ist notwendig. Jimmy zu Liebe – und mir zu Liebe.

Der Weg zur Klinik ist die gefühlt weiteste und schwerste Fahrt, die ich je zurückgelegt habe. Bei jeder Ausfahrt habe ich mit dem Gedanken gespielt, den Schwanz einfach einzuziehen und zurück zu fahren. Einfach umdrehen, die Schule versuchen zu meiden und so weitermachen wie bisher. Ich habe mir schliesslich extra einen Beruf ausgesucht, bei dem ich so gut wie keinen direkten Kontakt zu Kindern habe, selbst meine Hobbys sind so gewählt, dass ich mit meinen Neigungen nicht konfrontiert werde. Pädophilie macht einsam und schränkt ein. Aber jahrelang hat es funktioniert. Irgendwie.
Mein Handy klingelt auf dem Armaturenbrett. Es ist Jonas. Ein Bandkollege, er spielt Gitarre, ich singe. Ich habe nicht viel mit ihm zu tun, manchmal treffen wir uns auch ausserhalb der Bandzeiten in einer Bar, trinken ein paar Cocktails, gehen danach wieder nach Hause, getrennt. Er ist gleich alt wie ich und sozusagen mein einziger Freund oder etwas, das dem nahe kommt. Heute ist Montag. Montag ist Bandprobe und ich sitze in meinem Auto unterwegs zu der Klinik und nicht zur Bandprobe und viel wichtiger – nicht zu Jimmys Schule. Zaghaft nehme ich den Anruf an.
„Hallo.“
„Max, wo steckst du? Hast du’s vergessen?“
„Ich fahre gerade.“
„Wohin?“
Für einen kurzen Moment spiele ich mit dem Gedanken ihm die Wahrheit zu sagen, entscheide mich aber doch für die Lüge.
„Zu einer Freundin.“
„Eine Freundin?“
Ohne etwas zu erwidern, lege ich auf, als ich meine Ausfahrt sehe. Das Handy klingelt noch ein paar Mal, aber ich gehe nicht ran. Heute wollte Jonas seinen Sohn mitbringen zur Bandprobe. Er ist gerade 8 Jahre alt geworden und ich fliehe vor der Konfrontation. Ich muss mich selbst in Ordnung bringen, bevor ich den Sohn meines Bandkollegen kennenlerne. Ich dachte, ich habe meine Krankheit im Griff. Aber die Sache mit Jimmy hat mich komplett aus der Bahn geworfen. Ich - ein Mann, völlig verknallt in einen Grundschüler. Deswegen ist der Besuch in der Klinik so wichtig. Er ist sozusagen essentiell, wenn ich diese Freundschaft aufrechterhalten will.
„Wahre Liebe erkenne man an dem Verantwortungsgefühl für den geliebten Menschen“ Ein Zitat von Erich Fromm, dass mir Kraft gibt, all das durchzustehen. Ich schaffe das.
Die Treppen zur Anmeldung sind fühlen sich an, wie die letzten Stufen vor dem Pranger. Die Frau hinter dem Schalter ist der Henker und ich spüre, wie sich das Seil um meinen Hals enger zieht, als unsere Blicke sich treffen.
„Wie kann ich ihnen helfen?“ Die freundliche Stimme der Frau lässt mich zu Stein erstarren. Jetzt ist es so weit. Kein Zurück. Ich muss da durch. Für einen kurzen Moment sehe ich Jimmys lächelndes Gesicht, blende es aber so schnell wie es erschienen ist, wieder aus.
„Ich brauche eine Therapie.“, quetsche ich hervor. Sie nickt verständnisvoll und schiebt einen Fragebogen durch den Spalt der Glasscheibe, die uns voneinander trennt. Zögerlich greife ich nach dem Blatt Papier und hole einen Kugelschreiber aus meiner Jacke. Sie zeigt auf ein paar Stühle hinter einem Tisch mit vielen Magazinen darauf. Mitsamt Bogen setze ich mich hin und fülle ihn aus. Wahrheitsgemäss. Der Bogen besteht aus zwei Blättern, viele Fragen sind zum Ankreuzen, bei einigen muss man mit Zahlen zwischen 1 und 10 bewerten. Es fällt mir schwer, mich selbst zu bewerten, aber ich versuche es.
Haben Sie jemals ein Kind angefasst? Nein. Spielen sie mit dem Gedanken ein Kind anzufassen? Nein. Ja. Nein. Konsumieren Sie Kinderpornographische Inhalte? Nein. Haben Sie Fantasien? Ja.



Nach 20 Minuten gebe ich den Bogen mit schweissnassen Händen ab und sehe zu, wie die Frau hinter dem Schalter ihn kurz überfliegt. Dann widmet sie sich wieder mir zu.
„Herr Kalt,…“, fängt sie an und steckt sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Dutt gelöst hat, hinter die Ohren. „ich rechne es ihnen hoch an, dass sie hierhergekommen sind, ich kann mir vorstellen, dass es für sie kein leichter Schritt gewesen ist. Aber leider muss ich ihnen mitteilen, dass unsere Psychologen sehr ausgelastet sind und unsere Kapazitäten beschränkt. Wir haben zurzeit nur wenige Therapieplätze frei und die, die wir haben stellen wir Männern zur Verfügung, die tatsächlich Kinder missbraucht haben. Fantasien allein sind leider nicht therapiewürdig.“
„Wie bitte?“, stammele ich und spüre, wie mir der Boden unter den Füssen droht wegzubrechen.
„Es tut mir wirklich sehr leid, Herr Kalt. Ich bin mir sicher, dass sie sich etwas anderes erhofft haben.“
„Ich weiss nicht was ich tun soll….bitte helfen sie mir.“
Die Frau hinter der Glasscheibe nickt wieder verständnisvoll, dann wirft sie nochmals einen Blick auf meinen Fragebogen in ihrer Hand.
„Sie haben angekreuzt, dass sie bereits in therapeutischer Behandlung waren?“
„Ja, mit 18 aufgrund meiner Depressionen. Ich habe das Thema angesprochen, aber meine Therapeutin meinte, die Fantasien würden verschwinden mit dem Alter. Aber sie sind… immer noch da.“
„Hören Sie Herr Kalt, ich kann ihnen leider wirklich nicht weiterhelfen, am besten sie suchen sich einen anderen Therapeuten…“
„Nein, keinen anderen Therapeuten, bitte… ich brauche professionelle Hilfe, jemand der sich auf das Thema spezialisiert hat, bitte... ich kann so nicht mehr weiterleben!“, unterbreche ich sie und stütze mich auf meinen Ellbogen auf dem Schalter ab. Meine Knie fühlen sich an wie Pudding.
„Ich weiss, diese Fantasien in ihren Kopf verwirren sie, aber ich denke nicht, dass sie….“
„Ich weiss nicht, wie lange ich mich noch zurückhalten kann.“, flüstere ich leise. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Nicht weil ich traurig bin, nein. Ich bin verzweifelt, wütend. Ich lege meine Handfläche auf die kalte Glasscheibe und senke meinen Blick.
„Bitte.“
Wie durch ein Vakuum höre ich eine Tastatur, dann ein Klicken einer Maus. Noch ein Klicken.
„Gut, ich habe einen Vorschlag für sie. Am Mittwoch findet sich eine Gruppe zusammen, es ist sozusagen ein Therapieprojekt und wird geleitet von einem klinischen Psychologen, der sich auf das Thema spezialisiert hat. Soll ich sie eintragen? Dort können sie mit Gleichgesinnten über ihre Krankheit sprechen und man wird sie über präventive Behandlungsmöglichkeiten aufklären. Eventuell wird ihnen das weiterhelfen.“
„Am Mittwoch?“
Sie nickt abermals und ich lasse mich eintragen.

Mittwoch. Die Fahrt zur Therapie dauert knapp zwei Stunden mit dem Auto. Aber das ist es mir wert. Was sind zwei Stunden im Vergleich zu den Jahren, die ich bereits mit der Krankheit durchgemacht habe und noch durchmachen werde? Ich werfe nochmals einen Blick auf den Flyer, der mir die Frau am Schalter vorgestern ausgehändigt hat. Auf dem Flyer ist ein Mann mit dunkelbraunen Haaren in einer Strassenbahn abgebildet, der einen Jungen anlächelt. In grossen roten Buchstaben steht darüber geschrieben ‚Lieben Sie Kinder mehr als ihnen lieb ist? ‘ Direkt darunter ist eine Telefonnummer. Wieder muss ich an Jimmy in seinem blauen Poncho denken und daran, was sein Lächeln in mir ausgelöst hat. Ich bin hier sowas von richtig.
Zuversichtlich steige ich aus dem Auto aus und begebe mich auf die Suche nach dem Sitzungszimmer mit der Nummer 71. Das Gebäude ist riesig und obwohl die Flure menschenleer sind, fühle ich mich irgendwie ausgestellt. Als ich vor dem Zimmer ankomme, atme ich nochmals tief durch. Ich schaffe das, hier wird mir geholfen.
Der Raum ist kleiner als erwartet. Sechs Stühle im Halbkreis vor einer Tafel, direkt neben der Tafel ist ein Schreibtisch auf dem, wie in der Uniklinik, ein paar Zeitschriften ausgelegt sind. Ich setze mich auf den freien Stuhl am Rand. Neben mir sitzt ein Mann mit kurzen weissen Haaren und einem zotteligen Bart im Gesicht. Seine braune Lederjacke spannt sich leicht über seinem runden Bauch und die auffällige Gürtelschnalle in Form eines Adlers mit ausgebreiteten Flügeln und die zu der Jacke passenden braunen hohen Stiefeln, lassen ihn ein bisschen wie ein Cowboy aus dem Wilden Westen wirken. Er mustert mich kurz von der Seite, dann widmet er sich wieder seinem Notizblock auf seinem Schoss und kritzelt ein paar Worte auf das linierte Papier.
Die Erkenntnis, dass der Mann neben mir, mit den gleichen Dämonen kämpft wie ich, erschreckt und beruhigt mich gleichermassen. Zu meiner Überraschung ist auch eine Frau anwesend, die genauso nervös wirkt, wie ich mich selbst fühle. Sie sitzt direkt neben einem Mann mit Dreitagebart, der zum Vergleich zu ihr wie die Ruhe in Person wirkt. Seine Hand liegt auf dem Oberschenkel der Frau und es macht den Anschein, als kennen sich die beiden sehr gut. Ich lege die Stirn in Falten. Seltsam, ob ich hier wirklich im richtigen Raum sitze? Bevor ich mir die weiteren Teilnehmer genauer ansehen kann, wird die Tür geöffnet und ein Mann mittleren Alters in einem leuchtend blauen Pullover und Brille auf der Nase steuert zielstrebig auf die Tafel zu und befördert seinen schwarzen Aktenkoffer auf den Schreibtisch. Dabei fallen ein paar Blätter herunter, aber das scheint ihn nicht zu stören.
Er wirft einen Blick in die Runde und als seine Augen für einen kurzen Moment auf mir ruhen, überkommt mich das vertraute Gefühl, dass ich noch aus der Schule kenne, wenn man beim Spicken erwischt worden ist. Vielleicht bin ich wirklich im falschen Zimmer. Meine Hand wandert zu dem Flyer in meiner Hose, aber bevor ich ihn herausziehen kann, ergreift der Mann im blauen Pullover bereits das Wort.
„Vielen Dank für ihr Erscheinen. Ich möchte mich ihnen gerne vorstellen. Mein Name ist Christopher Ammann und ich werde heute die Therapiesitzung leiten. Ich bin Psychologe und auf Pädophilie und Prävention von Kindesmissbrauch spezialisiert. Das heisst, ich helfe Menschen mit einer pädophilen Neigung ihre Fantasien und ihr Begehren nicht zur Tat werden zu lassen. Das Ziel dieses Therapieprojekts ist es in erster Linie selbstverständlich Kindesmissbrauch zu verhindern. Aber natürlich möchte ich ihnen auch helfen mit ihrer Neigung besser umgehen zu können und ihnen Wege aufzeigen auch mit ihrer Neigung ein geregeltes Leben führen zu können. Wie sie sehen, sind sie nicht allein. - Erst vor kurzem haben wir eine Kampagne gestartet, und nach Männern gesucht, die befürchten wegen ihrer sexuellen Neigung für Kinder eine Gefahr zu sein. Über 300 Männer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich gemeldet. Eine auf den ersten Blick erschreckend hohe Zahl. Daher bin ich sehr glücklich heute vor ihnen zu stehen und freue mich, dass sie bereit sind, sich helfen zu lassen.“
Automatisch fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich sitze im richtigen Zimmer und der Mann macht einen sehr guten Eindruck. 300 Männer, denen es so geht wie mir und das ist nur die Zahl, die sich gemeldet haben. Wie hoch wohl die Dunkelziffer ist? Zu wissen, dass man nicht der Einzige ist, dem es so geht, fühlt sich bereits an, wie Balsam auf der offenen und klaffenden Wunde. Etwas erleichtert lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück, neugierig und voller Vorfreude darauf, wie die Therapiesitzung verlaufen wird und was für einen Weg der Psychologe uns oder mir aufzeigen wird.
„Pädophilie ist nicht heilbar“, fährt Ammann fort und rückt sich die Brille auf seiner langen hakenförmigen Nase zurecht. „Die sexuelle Orientierung lässt sich leider nicht umpolen. Heilung ist in dem Sinne Illusion, sie müssen also mit der Vorstellung lebenslanger Abstinenz zu leben lernen.“
Ein Mann in kartiertem Hemd und beigefarbener Hose mit einer Baseballkappe auf dem Kopf meldet sich zu Wort: „Wenn Pädophilie nicht geheilt werden kann, was bieten sie uns dann an?“ Ammanns Augen formen sich kurz zu Schlitzen, als er den Mann mit der Baseballkappe ansieht, dann streift er sich, ohne den Blick von dem Mann zu lösen, kurz über seinen Pullover und schenkt ihm ein freundliches Lächeln. „Wir wollen ihnen die Verzweiflung und die Angst nehmen, einem Kind zu schaden. Nicht jeder Pädophile ist automatisch ein Kinderschänder. Das sexuelle Verlangen und die Beziehungswünsche richten sich zwar ausschliesslich auf Kinder, aber das bedeutet nicht, dass sie sie auch missbrauchen werden. Die Therapie soll ihnen bewusstmachen, dass sie trotz ihrer Veranlagung eine Wahl haben. Sie sind nicht als Kinderschänder geboren worden. Wie es ist unserer Kampagne so schön heisst, du bist nicht schuld an deinen Gefühlen, du bist kein schlechter Mensch, aber du bist verantwortlich für das, was du tust.“
Als der Mann mit der Baseballkappe etwas dazu erwidern will, drängelt sich die Frau in der Runde vor. „Ist Pädophilie denn eine Veranlagung oder eine Prägung?“ Sie klingt leicht angespannt und ich lehne mich in meinem Stuhl etwas weiter vor, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie trägt die langen braunen Haare offen, der Pony ist ungekämmt und ein paar Strähnen fallen ihr in ihr sichtlich müde wirkendes Gesicht. Tiefe graue Ringe unter den hellblauen Augen rauben ihr etwas von ihrer Jugend und lassen sie älter erscheinen, als wie wahrscheinlich ist. Um den Hals trägt sie eine Kette mit einem Anhänger, an dem sie nervös mit ihren Fingern rumspielt. Die andere Hand klammert sich am Oberschenkel des Mannes neben ihr fest. Das braune Kleid, das sie trägt, ist leicht zerknittert und unter dem dünnen Stoff zeichnen sich ihre Rippen ab.
„Sowohl als auch.“, beantwortet Ammann die Frage und notiert sie mit Kreide auf der Tafel hinter ihm. „Es sind die Gene, es sind Kindheitserfahrungen, es ist der individuelle Charakter. Aber im welchen Verhältnis diese Faktoren die sexuelle Ausrichtung eines Menschen bestimmen, kann zurzeit niemand genau sagen. Man nimmt an, dass Pädophilie bei Frauen nicht vorkommt. Es gibt zwar Frauen, die Kinder missbrauchen, aber bisher wurde in keinem dieser Fälle eine pädophile Veranlagung diagnostiziert.“
„Nicht?“, erkundigt sich der Mann mit der Baseballkappe und Ammann zuckt mit den Schultern. „Der Missbrauch hatte immer andere Gründe.“ Dann wendet sich Ammann wieder der Tafel zu und streicht die Frage der Frau mit roter Kreide durch. „Die wenigsten interessieren sich für die Unterscheidung zwischen Veranlagung und Prägung. Die Öffentlichkeit will ein klares Feindbild, sie wollen Menschen, an denen alles schlecht ist.“ Ammann wirft einen kurzen Blick in die Runde, dann öffnet er seinen Aktenkoffer auf dem Tisch, holt einen Notizblock und einen Kugelschreiber heraus, greift nach dem Stuhl unter dem Schreibtisch und setzt sich vor uns hin. „Ich wurde schon oft gefragt, wie ich überhaupt mit solchen Menschen arbeiten kann und ob ich wirklich ausschliessen kann, dass nicht doch einer einmal ein Kind missbrauchen wird. Wollen sie wissen, was ich gesagt habe?“ Wir nicken allesamt und Ammann fährt mit ernster Stimme fort. „Ich habe gesagt, dass ich es nicht ausschliessen kann! Das ist ein Risiko, das bei jeder Behandlung besteht. Aber wäre es wirklich besser, einfach nichts zu tun?“
„Das ist alles schön und recht, aber was wollen sie tun? Wollen sie uns alle kastrieren lassen? Einsperren? Ich schätze ihre Arbeit und den Willen uns zu helfen. Aber ich glaube nicht, dass sie die Fantasien in unseren Köpfen ausmerzen können.“ Der Mann neben mir tippt sich mit dem Finger an den Kopf. Unsere Fantasien ausmerzen? Wieder muss ich an Jimmy denken und daran, wie ich ihm über die leicht geröteten kindlichen Wangen streichle. Ich zucke zusammen und werfe Ammanns einen hilfesuchenden Blick zu, als würde mein Leben von der Antwort auf diese Frage abhängen.
Ammanns Mundwinkel ziehen sich für eine Millisekunde in die Höhe, ehe sich wieder ein ernster Ausdruck auf sein Gesicht legt. „Selbstverständlich wollen wir sie nicht alle kastrieren und wegsperren. Deswegen sind wir hier. Ich möchte, dass sie lernen, dass sie sich ohne ein schlechtes Gewissen in ihre Fantasien zurückziehen können, ohne diese jemals auszuleben. Mir ist bewusst, dass das ein schmaler Grat ist, aber es kann gelingen, wenn sie genug Eigenmotivation aufbringen können. Man kann diese Therapie natürlich auch medikamentös unterstützen und im Notfall auch auf einen medizinischen Eingriff zurückgreifen. Die Kosten dafür müssen sie in den meisten Fällen aber selbst tragen.“
Der Mann neben mir lacht kurz auf, dann schreibt er etwas in seinen Block. Ammann beobachtet ihn interessiert, macht sich ebenfalls ein paar Notizen, dann lenkt er die Aufmerksamkeit wieder in die Runde. „Ich denke, es ist an der Zeit für eine kleine Vorstellungsrunde. Möchte jemand den Anfang machen?“ Ein freundliches Lächeln schmiegt sich auf seine Lippen. Nach einem kurzen Moment der Stille steht ein Mann, der bisher wie ich, nur Zuhörer gewesen ist, auf. „Ich heisse Julian Kremer, ich bin 40 Jahre alt und ich glaube, ich bin pädophil. Also, ich bin mir da nicht so sicher…“
„Herr Kremer, vielen Dank für ihre Offenheit, gibt es einen Grund, wieso sie sich nicht so sicher sind?“
„Ich suche schon seit Jahren immer wieder Kontakt zu Jungs auf. Irgendwie kann ich mit Jungs einfach besser. Ich weiss nicht.“
„Entschuldigen Sie die Frage, aber wie alt sind die Jungs zu denen sie Kontakt aufsuchen?“
„So zwischen 9 bis 13. Wir spielen zusammen Onlinespiele… Minecraft zum Beispiel. Ich bin dort Admin von einem Server. Ich habe auch schon darüber nachgedacht, mich mit einem Jungen zu treffen, aber bisher ist es noch nicht dazu gekommen, weil ich weiss, dass das nicht okay wäre. Er ist gerade mal 11. Ich habe mich aber auch schon mit Frauen in meinem Alter getroffen über so Dating Seiten, aber irgendwie hat das nie so richtig funktioniert. Ich verstehe mich nicht mit den Frauen. Ganz anders ist es mit den Jungs. Sie himmeln mich an und das gefällt mir. Sehr sogar.“
„Ich verstehe. Hatten sie denn auch sexuelle Fantasien?“
„Ja...“
Der Mann mit dem leicht krausen Haar, dem schwarzen T-Shirt auf dem eine braun verpixelte Axt abgebildet ist und der zu engen Jeanshose seufzt laut auf und kratzt sich nervös über das Kinn. Als Ammann verständnisvoll nickt, setzt Kremer sich wieder hin und starrt leicht beschämt auf den Boden vor seinen Füssen. „Vielen Dank Herr Kremer. Wer möchte der nächste sein?“
„Jeremias Meier, 43 Jahre alt.“, der Mann mit der Baseballkappe steht auf. „Ich schätze ich bin beides.“
„Wie genau meinen sie das, Herr Meier? Sie sind beides?“, hakt Ammann nach und macht sich ein paar Notizen in sein Heft. „Ich bin sowohl Opfer wie Täter. Ich wurde von meinem Vater als Kind mehrfach missbraucht. Irgendwie durchlebe ich den Albtraum seitdem jeden Tag. Ich sehe ein Jungen, der mir gefällt und stelle mir vor, ich wäre er. Dann stelle ich mir vor, wie ich mich selbst….“, Jeremias lässt seinen Blick in die Runde schweifen und als seine Augen auf mir haften bleiben, merke ich, wie mir die Schamesröte ins Gesicht schiesst. Ich kann mir nicht erklären warum, aber es fühlt sich unangenehm an, als hätte er meine Gedanken gelesen und mich dabei ertappt, wie ich mir bei dem was er erzählt hat, gerade Jimmy vorgestellt habe. Er lächelt mich kurz an, legt den Kopf schief und fährt fort: „Jedenfalls habe ich bisher noch nie ein Kind angefasst. Ich lenke mich ab. Beobachte Vögel. Ich bin leidenschaftlicher Vogelbeobachter, aber ab und zu schwenkt mein Fernglas in das ein oder andere Kinderzimmer. Ich weiss nicht, ob ich nur ein Voyeur bin oder meine Fantasien in die Tat umsetzen würde. Die Frage beschäftigt mich. Manchmal fühlt es sich so an, als hätte mein Vater mich mit der Krankheit angesteckt. Der Wichser macht mir das Leben zur Hölle, sogar nachdem er ins Gras gebissen hat.“ Er ballt die Hände zur Faust und erhebt die Stimme. „Wie krank ist das? Ich weiss wie es sich anfühlt und trotzdem fühle ich mich zu Kindern hingezogen. Ich präferiere dabei kein Geschlecht, jung muss es sein. Ich will nicht angeben, ich bin ein sehr gebildeter und intelligenter Mann, aber gegen diesen Trieb bin ich machtlos. Ich hatte auch schon Beziehungen mit Frauen und Männern, aber das hat nicht funktioniert.“
„Sie versuchen sich also abzulenken indem sie Vögel beobachten?“
„Ja.“, erwidert Jeremias trocken und setzt sich wieder hin. „Ich beobachte Vögel, den ganzen verfluchten Tag.“
„Das ist ein Anfang, Herr Meier. Ablenkung ist ein wichtiger Schritt seine Dämonen in den Griff zu kriegen. Vielen Dank, dass sie uns das erzählt haben.“ Jeremias macht mit seiner Hand eine wegwerfende Bewegung und zieht sich die Baseballkappe ins Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube er… weint? Ich spüre wie meine Handflächen allmählich immer feuchter werden und wische unauffällig über meine Oberschenkel. Bald muss ich ebenfalls offenbaren, was in mir vorgeht.

Nachdem Ammann fertig ist mit seinen Notizen, richtet er seinen Blick wieder in die Runde.
Die sich sichtlich immer unwohler fühlende Frau in der Gruppe stupst den Mann neben sich von der Seite an. Was genau sie ihm zugeflüstert hat, verstehe ich nicht, aber der Mann räuspert sich. „Ich ähh…“, startet er und die Frau nickt zuversichtlich in seine Richtung. Seine Lippen formen sich zu einer schmalen Linie und ich bemerke, wie die ruhige Fassade, die er die ganze Therapiesitzung aufrechterhalten hat, langsam anfängt in sich zusammenzufallen. „Ich heisse Tom und das neben mir ist meine Frau Charlotte. Sie ist zu meiner ehm… Unterstützung da. Ähh… wir stehen das zusammen durch.“ Ammanns Augen mustern den Mann, dann notiert er sich etwas in sein Notizbuch. „Sehr schön Tom. Und was genau ist ihre Geschichte? Warum sind sie hier?“
Der Cowboy neben mir fängt kurz an zu grinsen, schüttelt den Kopf und schlägt die Beine übereinander. Ein seltsamer Kerl. Doch bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen kann, erzählt Tom weiter. „Ich bin 43 Jahre alt und ähh… wie soll ich sagen… ich liebe meine Frau sehr, ich bin auch davon ausgegangen total normal zu sein,… also ähh nicht falsch verstehen, ich will hier niemanden beleidigen. Aber ähh… war mir jahrelang nicht bewusst, pädophile Neigungen zu haben. Und dann, vor einem Jahr kam unsere Tochter Zoe zur Welt. Wir waren sehr glücklich und dann… und dann…“, eine Träne fliesst über die Wange von Tom und seine Frau holt hektisch ein Taschentuch aus ihrer Handtasche heraus. Er wischt sich die Träne aus dem Gesicht, schaut einmal in die Runde und richtet seinen Blick auf den Boden. „Ich habe mich wie ein normaler Vater um meine Tochter gekümmert, sie angezogen, die Windeln gewechselt, gefüttert und gebadet. Das war auch alles total in Ordnung,… aber aber… vor ein paar Monaten dann ist mir aufgefallen,… das wenn ich meine Tochter gebadet habe, sich das… äähh… gut angefühlt hat, also gut auf eine… falsche weise… ich habe gespürt wie… gespürt wie mich das erregt hat. Aber das war noch nicht alles… beim Windeln wechseln, wenn ihr Popo wund war… da war die Creme… und ich habe sie eingecremt und dann… mich dazu…“ der Mann bricht zusammen. Auch ich muss schlucken und spüre, wie eine unangenehme Hitze in mir aufsteigt und mir automatisch schlecht wird. Eine Mischung aus Entsetzen und Verständnis. Ammann legt seinen Block neben sich auf den Boden, spurtet auf den Mann zu und kniet sich vor ihm. Charlotte legt ihren Arm auf den Rücken von Tom und fängt ebenfalls an zu weinen. Das leise Wimmern von Tom löst auf mir eine Gänsehaut aus und es zieht sich alles in mir zusammen. Als würden meine Organe miteinander kollidieren. Bauchschmerzen und der Gedanke, dass ich,… wenn ich vielleicht Kinder haben werde, mich… auch nicht zurückhalten könnte…, nein ich werde niemals Kinder haben. Nie. Niemals. Unmöglich. Keine Option für einen Mann wie ich.
„Ich… ich… habe meinen Finger in sie… ich halte das nicht aus… ich halte es nicht aus.“ Auch Ammann legt einen Arm auf Toms Rücken. „Es ist alles gut Tom, wir werden ihnen helfen. Wir kriegen das in den Griff. Charlotte, würden sie ihren Mann bitte raus begleiten? Ich glaube er braucht erst mal eine Pause.“ Charlottes Gesicht ist tränenüberströmt und ihr zierlicher abgekämpft wirkender Körper zittert, aber sie schlingt ohne zu zögern die Arme um ihren Mann und hilft ihm aufzustehen. Ammann begleitet den aufgelösten Mann und seine Frau aus dem Zimmer. Durch die Tür hört man, ein paar Gesprächsfetzen und Tom, der einmal lautstark „ich bin ein Monster“ schreit. Ich bleibe wie angewurzelt auf meinem Stuhl sitzen. Ob man ihm wirklich helfen kann? Und wenn Ammann sagt, er kann ihm helfen, kann er dann auch mir helfen?
Der Cowboy neben mir streckt sich ausgiebig, dabei fällt sein Notizblock von seinem Schoss und landet vor seinen Stiefeln. Für einen kurzen Moment erhasche ich einen Blick auf die Skizze auf dem Block und erstarre. Auf dem Blatt Papier stehen die Namen der Personen, die sich bereits vorgestellt haben, - Ammanns, Kremers und der von Tom, aber ohne Nachnamen, - Charlotte fehlt. Ist er etwa… von der Polizei? Vielleicht ermittelt er verdeckt und das ist alles nur Scharade. Hier wird uns nicht geholfen, sondern wir werden gefunden. Dem Mann mit dem Cowboyhut scheint mein entsetzter Gesichtsausdruck nicht entgangen zu sein. Er lehnt sich vor, greift nach seinem Block und hält ihn mir hin. Verwirrt starre ich zwischen ihm und dem Block hin und her. „Ich kann mir Namen schlecht merken. Mögen sie… Zeichnungen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, blättert er in seinem Block ein paar Seiten weiter, stoppt und hält mir eine Zeichnung von einem kleinen Jungen nackt auf einem Pferd unter die Nase. Die Zeichnung ist … wirklich gut. So gut, dass ich den Blick abwenden muss. Er schmunzelt und befördert den Block wieder auf seinen Schoss. „Ich bin Künstler, nur die Wahl meiner Motive gefällt nicht jedem. Ihnen gefällt es offensichtlich.“
Die Tür geht wieder auf und ich bin mehr als froh darüber. Ammann steuert zielstrebig und etwas gestresst auf seinen Stuhl zu, bückt sich nach seinem Notizheft und setzt sich hin. „Entschuldigen Sie bitte die kurze Unterbrechung. Wollen wir fortfahren?“
„Warten wir nicht auf Tom und Charlotte?“, fragt der Mann neben mir. Ammann wischt sich kurz mit seiner Hand über die Stirn, dann wirft er einen Blick auf seine Uhr am Handgelenk, ein teures Model, und beantwortet die Frage: „Wir haben noch 10 Minuten, Tom und Charlotte werden an der nächsten Sitzung wieder teilnehmen. Wollen Sie sich als nächstes vorstellen, Herr…?“
„Konrad, einfach nur Konrad.“
„Freut mich sehr, Konrad, möchten sie etwas über sich erzählen?“
„Ich möchte gerne anderen die Chance geben, wie wäre es mit ihnen?“ Er dreht sich zu mir um und sein stechender Blick scheint mich beinahe aufzuspiessen. Überrumpelt und nervös rutsche ich auf meinem Stuhl rum. „Ich …ähh…“
Ammann mustert mich interessiert. „Sie müssen sich für nichts schämen. Wer sind sie und warum sind sie hier?“ Meine Hand wandert zu dem Brief in meiner Hose. Für den Notfall, falls ich keinen Ton herausbringe. Nein. Ich schaffe das. Ich brauche das. Ich schlucke und schliesse für einen kurzen Moment die Augen. „Mein Name ist Max, ich bin 30 und… ich habe bisher mit niemandem über meine… Krankheit gesprochen.“
„Freut mich sehr Max, dass sie den Schritt gewagt haben und zu uns gefunden haben. Das ist sicher nicht leicht für sie gewesen.“ Ich nicke. „Ehrlich gesagt, hat man mir gesagt, meine Fantasien seien nicht therapiewürdig und sie hätten kein Platz für Männer, die… bisher noch nie Kinder angefasst haben.“
Ammann zieht überrascht die Augenbraue in die Höhe. „Wirklich? Wo haben sie sich gemeldet?“ Ich erzähle ihm von meinem Besuch in der Uniklinik und er hört aufmerksam zu. Als ich fertig bin, schüttelt er den Kopf und macht sich wieder ein paar Notizen. „Vielen Dank Max. Ich muss leider eingestehen, dass unsere Kapazitäten aktuell sehr beschränkt sind. Deswegen wurde auch dieses Projekt ins Leben gerufen. Wir wissen noch nicht, wie effektiv diese Gruppensitzungen sind und ob sie zu einem Erfolg führen werden…“
„Woran messen sie die Erfolgsquote?“, unterbricht Konrad Ammann. Die beiden Männer funkeln sich kurz an, ehe sich Ammann zu einem freundlichen Lächeln durchringt. „Das ist eine sehr gute Frage, Konrad. Natürlich hoffen wir, mit diesem Projekt die Übergriffe an Kindern enorm zu vermindern und die Lebensqualität für die Betroffenen zu verbessern.“
„Heisst das, wir stehen nun unter Beobachtung?“, hakt Konrad nach und lehnt sich in seinem Stuhl vor. Ich ziehe die Stirn in Falten und mustere Ammann, der sichtlich angespannter wirkt als zuvor. Auch Jeremias und Kremer beobachten unseren Gruppenleiter interessiert. Ammanns Finger spielen mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. „Selbstverständlich stehen sie nicht unter Beobachtung, wir sind hier um ihnen zu helfen. Mehr nicht.“ Ammanns Augen wandern zur Uhr auf seinem Handgelenk. „Max, möchten sie uns noch mehr über sich erzählen?“
Ich überlege kurz und beschliesse trotz Bedenken mehr von mir preiszugeben. „Ich… hatte bisher nie eine Beziehung, kein Sex,… ich habe diese Fantasien schon lange und habe gehofft sie würden mit dem Alter verschwinden, aber sie sind immer noch da. Ich habe Angst, mich irgendwann nicht mehr im Griff zu haben, da das Verlangen immer stärker wird, einen Jungen zu berühren, ihn zu streicheln und zu küssen. Ich will niemanden wehtun, ich weiss, dass es falsch ist, aber ich fühle mich so.. so… einsam.“
„Vielen Dank Max. Ich kann mir vorstellen, dass das viel Überwindung gekostet hat.“ Ammann nickt mir zu und ich spüre, wie ein Stein von meinem Herzen fällt. Ich habe es ausgesprochen. Ich habe es geschafft. „Wie ihnen bereits aufgefallen ist, habe ich mir ein paar Notizen gemacht. Ich wäre froh, wenn sie alle nächste Woche wieder um die gleiche Uhrzeit erscheinen und dann können wir die Möglichkeiten durchgehen und eventuell sogar gemeinsam Lösungsansätze finden.“

Zurück im Auto zünde ich mir erst mal eine Zigarette an und lehne mich zurück. Vielleicht hilft mir das wirklich. Gerade als ich den ersten Zug nehme und die Luft auspuste, wird die Beifahrertür geöffnet. Überrascht wäre mir beinahe die Zigarette aus den Fingern gefallen. Ich reisse den Kopf rum und als ich die braune Lederjacke erkenne, atme ich erleichtert auf. Konrad. Ohne ein Wort setzt er sich in mein Auto und starrt aus dem Fenster. Etwas überfordert mit der Situation strecke ich ihm die halbvolle Zigarettenpackung hin. Dankend angelt er eine aus der Schachtel und ich zünde sie ihm an. Dann lehnt er sich im Sitz zurück und nimmt einen kräftigen Zug. Ich tue es ihm gleich. Wortlos rauchen wir nebeneinander für ein paar Minuten. Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Anscheinend ist er mir nach der Sitzung zum Parkplatz gefolgt, andererseits kann es auch sein, dass er einfach ein Taxi benötigt. Als Taxifahrer Fragen zu stellen, wenn sich jemand in sein Auto setzt, ist Schwachsinn. Dafür sind Taxis da. Trotzdem ist es merkwürdig. Als ich meine Zigarette fertig geraucht habe, ringe ich mich doch dazu durch, als Erster das Wort zu ergreifen. „Wohin soll ich sie fahren?“
Der Mann schmunzelt, nimmt noch einen Zug, dann wirft er die Zigarette durch das offene Fenster, öffnet den Reissverschluss seiner Lederjacke und holt seinen Notizblock hervor. Ich zucke zusammen und spüre wie ich automatisch nervös werde. Ist er etwa doch… ein… Polizist?
„Sie starren mich an, als hätte ich gerade einen Revolver aus der Jacke geholt.“, lacht er, dreht sich zu mir um und streckt mir die Hand entgegen. „Konrad.“ Skeptisch ergreife ich sie und nicke. Was genau will er von mir?
„Denkst du, die Therapie wird dir helfen?“
„Ich hoffe es.“
„Ich denke, diese Art von ‚Therapie‘ wird uns nicht helfen. Kennst du dich hier aus?“
Er denkt, die Therapie wird uns nicht helfen? Ich lege die Stirn in Falten und schaue aus der Windschutzscheibe auf den asphaltieren Parkplatzboden.
„Ein bisschen.“
„Ich bin um 12 Uhr zum Mittagessen verabredet, das hier ist die Adresse.“ Er reicht mir einen Zettel und ich gebe die Strasse in mein Navi ein. „Wenn wir jetzt losfahren, bist du eine halbe Stunde vorher da.“
„Das passt perfekt.“
Ich starte den Motor und biege auf die Strasse ab. Die Strecke ist 15 Minuten lang. 15 Minuten mit jemandem im Auto, der genauso ist wie ich. Konrad, über den ich nicht viel weiss, ausser dass er ‚Künstler‘ ist.
„Willst du wissen, mit wem ich mich zum Mittagessen verabredet habe?“ Bevor ich etwas erwidern kann, beantwortet er sich die Frage selbst. „Ich treffe mich mit Paulchen. Und willst du wissen, wer Paulchen ist?“
Ich schlucke und hadere für einen kurzen Moment mit mir auf die Bremse zu drücken. Paulchen. Nicht Paul. Paulchen. Konrad ist meine Reaktion nicht entgangen. Er lacht auf. „Keine Sorge, Paulchen ist etwas älter als du. Er nimmt dieses Mal sogar seine 13-jährige Tochter mit. Hmm… wie viele Jahre das schon her ist. Weisst du, früher war ich genauso wie du. So voller Selbstzweifel, habe mich selbst verleugnet, die Krankheit versucht wegzusperren. Ich war damals verheiratet mit einer Frau. Ganze 7 Jahre lang, habe ich ihr und mir etwas vorgemacht. Um meine Neigung zu kompensieren habe ich tagsüber als Erzieher für Kinder gearbeitet. Natürlich ohne sie anzufassen, es ging mir nur um den Kontakt. Aber diese Fantasien haben mich fertig gemacht… und die kleinen Kinderhände, die einen die ganze Zeit berühren…“ Konrad lehnt sich in seinen Sitz zurück und holt eine Packung Zigaretten aus seiner Jacke. „Ich dachte, ich schaffe es, der Versuchung zu widerstehen. Dachte, ich bin stärker.“ Er zündet sich die Zigarette an und nimmt einen Zug. „Aber ich habe es nicht geschafft. Ich habe angefangen zu trinken, viel zu trinken bis ich in einer Entzugsklinik gelandet bin. Dort wurde ich therapiert und musste mir eingestehen, ich bin pädophil und es wird nicht weggehen. Es gab also nur zwei Möglichkeiten. Ich bin nicht religiös, lebenslange Abstinenz ist nichts für mich, also habe ich Möglichkeit zwei gewählt. Ich habe beschlossen, meine Krankheit auszuleben.“
Ich muss husten, lasse das Fenster herunter, sollte auf der Stelle anhalten, aussteigen, aber ich starre wie gebannt auf die Strasse vor mir, spüre wie mein Fuss am Gaspedal klebt, auf der Stelle verharrt und wir im gleichen Tempo weiterfahren, während Neugier und Vernunft einen Kampf ausfechten. Und die Neugier hat einen Treffer gelandet.
„Interessiert, mehr zu erfahren?“, fragt Konrad und pustet den Rauch gegen die Windschutzscheibe. Ich nicke, den Blick nicht von der Strasse lösend und schiebe mir mit einer Hand ebenfalls eine Zigarette zwischen die Lippen. Konrad lehnt sich zu mir herüber und zündet sie an. „Ich habe mir einen Freund gesucht. Paulchen. Er ist mein erster gewesen. Der erste von vier. Er war zehn, seine Eltern hatten nicht viel Zeit für ihn und wir haben uns schnell angefreundet. Ich habe nie etwas mit Gewalt gemacht, es war alles mit seiner Zustimmung. Auch der Sex.“
„Du hast mit ihm… geschlafen? Ich … ich… kann mir nicht vorstellen, dass er das wollte. Ich meine…“
„Wenn er es nicht gewollt hätte, wäre er wohl nicht immer wieder zu mir gekommen oder?“, unterbricht mich Konrad harsch und ich zucke zusammen. „Ich habe ihm mehr gegeben, als seine Eltern ihn geben konnten. Ich war gut zu ihm. Ich habe ihn geliebt. Leider ist Paulchen älter geworden. Als er langsam zum Mann geworden ist, habe ich das Interesse verloren. Normalerweise ist mein Lieblingsalter zwischen 10 und 12. Das sind richtige Jungs. Aber an Paulchen hing ich ziemlich lange. Aber wie bei erwachsenen Paaren geht die Beziehung nach einer Weile halt auseinander. Aber wir verstehen uns heute immer noch super, trotz der Trennung.“
„Es hat Paulchen nicht geschadet? Das Ganze?“, hake ich nach und Konrad grinst. „Alles was passiert ist, war einvernehmlich. Natürlich wurde der kleine After ganz schön gedehnt, als ich den Jungen gefickt habe, aber körperlich geschadet hat es ihm nicht. Bei Paulchen wurde auch nie ein Trauma oder anderes festgestellt. Ihm geht es gut, heute hat er eine Frau und die beiden haben zusammen eine hübsche Tochter. Moment, fahr mal bitte rechts ran.“ Ich werfe kurz einen Blick über meine Schulter und folge seiner Bitte. Als der Wagen steht, lasse ich das Lenkrad los und werfe die Zigarette aus dem Fenster. Mein Herz droht aus der Brust zu springen, so sehr hämmert es. Es fühlt sich an, als würde sich das Pochen durch meinen Brustkorb fressen. Konrad hatte eine Beziehung mit einem Jungen. Eine einvernehmliche Beziehung. Was ist, wenn es tatsächlich möglich ist? Wenn ich mir all die Jahre etwas vorgemacht und mich umsonst gegeisselt habe?
„Du hast gesagt, du hattest vier Beziehungen,… wurdest du jemals erwischt? Also ist jemals irgendetwas passiert?“
„Dir gefällt das hm? Spielst mit dem Gedanken, auch den Schritt zu wagen? In all den Jahren hatte ich tatsächlich nur einmal Probleme mit der Justiz. Sieben Jahre auf Bewährung wegen sexuellen Missbrauchs. Ich habe einen Jungen in der Stadt getroffen, ihn in den Zoo eingeladen. Später hat seine Mutter davon erfahren und sich natürlich gefragt, wieso ein fremder Mann ihren Sohn in den Zoo mitnimmt. Sie hat das Kind unter Druck gesetzt, bis er alles brav und tapfer der Polizei erzählt hat. Ich bin ihm nicht böse deswegen, war schliesslich mein eigener Fehler. Ich hätte mich vorher der Mutter vorstellen sollen. Jetzt bin ich schlauer und achte auf die Kooperation mit dem Elternhaus. Die Eltern wissen über alles Bescheid. Na gut, fast alles. Das mit dem Sex verschweigen wir ihnen.“ Er zwinkert mir zu und schlägt den Notizblock auf. „Das hier ist Paulchen.“ Er hält mir ein Foto entgegen. Mit zittrigen Fingern nehme ich es an mich. Es ist ein schwarzweiss Foto, schon etwas älter. Ein kleiner Junge sitzt nackt auf einem Bett und lächelt in die Kamera. Er hat dunkles Haar und Sommersprossen im Gesicht. Bevor ich irgendetwas zu dem Foto sagen kann, reicht mir Konrad bereits das nächste. Paulchen nackt mit gespreizten Beinen im Gras sitzend. Immer noch fröhlich in die Kamera lächelnd. Mir wird etwas flau im Magen, als er mir ein weiteres Foto reicht. Ich schaue zu Konrad herüber und er nickt mir zu. Dann wage ich einen Blick auf das Foto. Der Junge kniet auf dem Boden, nackt und hält strahlend Konrads Penis mit beiden Händen umklammert vor sein Gesicht. Ein weiteres Foto folgt, Paulchen, der an Konrads Penis leckt. Noch ein Foto, Paulchen auf allen vieren von Hinten. Konrad streckt mir ein weiteres Foto entgegen und ich halte die Luft an. Das Foto vibriert in meinen schweissnassen Fingern, so sehr zittere ich, als ich erblicke, was darauf zu sehen ist. Es erregt mich, obwohl ich weiss, dass es falsch ist. Es erregt mich so stark, dass meine Wangen glühen und ich für einen kurzen Moment vergesse zu atmen. „Du bist ganz rot im Gesicht, Max. Es gefällt dir, stimmt’s? Ich habe noch mehr davon. Willst du sie sehen? Oder vielleicht ein paar meiner Zeichnungen?“ Konrads Stimme hallt in meinem Kopf. Ich will alles sehen. Jedes verdammte Foto und jede verdammte Zeichnung in seinem Block. Doch bevor eine Antwort meine Lippen verlässt, vernehme ich von ganz weit weg eine kleine Stimme, die mir zuflüstert und mir einen Strich durch die Rechnung macht. Kinder lieben, bedeutet zu verzichten. Kinder lieben, bedeutet zu verzichten.
Ich schüttle den Kopf, angle die Fotos von meinem Schoss und gebe sie Konrad zurück. Überrascht zieht er die Augenbrauen hoch. „Ich kann sehen, wie sehr dir die Fotos gefallen. Dein Schwanz springt fast aus der Hose.“
Ich beisse mir auf die Lippe, starte den Motor und fahre auf die Strasse. Noch 3 Minuten bis zum Ziel. „Max, du machst dir selbst was vor. Ich sehe doch wie sehr du es willst. Glaub mir, du wirst der Versuchung nicht widerstehen können. Wenn du dem Drang nicht nachgibst, wirst du irgendwann daran zu Grunde gehen. Verstehst du? Ich war wie du und als ich es zum ersten Mal ausprobiert habe, war mir klar, das ist es. Es hat sich gut angefühlt. Gut, verstehst du Max? Nicht falsch!“
Konrad streckt mir ein weiteres Foto vors Gesicht, aber ich halte meinen Blick starr auf die Strasse gerichtet. Im Augenwinkel erkenne ich einen blonden Jungen. Blond wie Jimmy. Aber ich versuche es zu ignorieren und schlage mit einer Hand seine mitsamt Foto aus meinem Gesicht. „Ich mache die Therapie.“, sage ich schroff und versuche den Worten, die meinen Mund verlassen haben, selbst Glauben zu schenken. Kinder zu lieben, bedeutet zu verzichten.
Konrad neben mir lacht laut auf. „Die Therapie! Das glaubst du dir doch selbst nicht. Denkst du wirklich, die wollen dir dort helfen? Denkst du dieser Ammann kümmert sich wirklich darum, wie es dir geht? Der hat doch keine Ahnung. Der fickt abends seine Frau und lacht über uns, wie wir zuhause auf unseren dicken Eiern sitzen. Alle ficken sie als wäre es eine Selbstverständlichkeit und wenn wir ficken, wenn wir ficken, verachten sie uns, wollen uns tot sehen. Die warten alle nur darauf, dass wir einmal ein Kind anfassen, weil sie dann die Berechtigung haben uns loszuwerden. Ja. Sie warten. Einmal ausrutschen, dann können sie uns endlich kalt machen. Pädophile sind Abschaum. Dabei können wir nicht mal etwas dafür. Sind so geboren, haben es uns nicht ausgesucht. Aber man hasst und verurteilt uns. Sie verurteilen und hassen uns sogar, wenn wir keine Kinder ficken. Niemand versteht uns. Niemand weiss wie wir uns fühlen. Sie bieten Therapien an, für Krankheiten die nicht heilbar sind. Das ist doch lächerlich! Soll ich dir sagen, wieso sie das tun? Menschenrechte. Weil es gegen das Gesetz ist uns alle abzuschlachten. Sie würden keine Sekunde zögern dir das Messer in den Schwanz zu rammen, wenn sie dafür nicht selbst im Knast landen würden. Es gibt auch keine verdammte Insel auf die sie uns abschieben können. Kein Platz für Männer wie uns in dieser dreckigen intoleranten Welt! Vor ein paar Jahren ging es den Schwulen doch noch genauso wie uns. Und jetzt ist es plötzlich in Ordnung schwul zu sein. Sie dürfen sich gegenseitig die Schwänze in den Arsch rammen, aber wehe wir schauen ein Kind länger als zwei Sekunden an. Gottverdammt, was können wir dafür, dass wir eine Sexualität haben, die von diesen Wichsern nicht toleriert wird? Die gegen das Gesetz ist? Ich habe es so satt.“
Gleich sind wir da. Gleich steigt er aus. Irgendwie hat er Recht. Aber andererseits,…
„Sorry,… ich wollte nicht so ausrasten. Aber das Thema belastet mich und ich sehe, wie es dich genauso belastet. Wie es jeden belastet der mit dieser Krankheit zu kämpfen hat. Wie bereits gesagt, ging es den Homosexuellen vor ein paar Jahren genau wie uns. Es ist gar nicht so lange her, da war ihre Sexualform genauso verpönt wie unsere. Widernatürlich, widerwärtig und verboten. Und jetzt wird es toleriert homosexuell zu sein. Sie dürfen sogar heiraten. Liebe kennt kein Geschlecht. Sagen sie. Sagen alle. Was ist, wenn Liebe auch kein Alter kennt?“
„Wie meinst du das, Liebe kennt kein Alter?“, frage ich und fahre auf den Parkplatz des Restaurants. Konrad legt seine Hand auf meine Schulter. „Wenn Pädophilie eine eigene Sexualform ist, dann ist es kein psychiatrisches Problem mehr, sondern ein politisches. Ich habe mit ein paar anderen zusammen eine Organisation gegründet. So eine Art Selbsthilfegruppe, wie die Anonymen Alkoholiker. Wir nennen uns *Zensur*. Nur müssen bei uns die Mitglieder nicht abstinent leben. Wir fordern stattdessen Sex mit Kindern zu legalisieren. Natürlich nur, wenn alles einvernehmlich ist und man dem Kind nicht schadet. Kinder lieben Erwachsene und Erwachsene lieben Kinder. Und unter uns. Nicht jedes Land ist so intolerant wie unseres. Es gibt Ecken, da wird unsere Liebe toleriert. Und ja, ich rede bewusst von Liebe und nicht von Sex.“
„Wir sind da.“, flüstere ich und schalte den Motor aus. Als Konrad mich von der Seite mustert, versuche ich mir nichts anmerken zu lassen, versuche den Krieg, der in meinem Kopf tobt auszublenden. Ich verstehe Konrad. Ich kann alles nachvollziehen, was er sagt. Aber es ist nicht richtig. Oder ist es richtig? Mache ich mir etwas vor? Bin ich zu sehr an die Prinzipien gewöhnt, die man uns eingetrichtert hat? Hat er vielleicht die Lösung für alle von uns? Muss Moral und Ethik neu definiert werden, wenn es um das Thema geht? Eine Stimme in mir schreit ja und versucht die Barrikade, die ich mir über die Jahre aufgebaut habe, zu durchbrechen. NEIN. Kinder lieben, bedeutet zu verzichten und ich verzichte gerne.
„Überleg es dir. Bei uns hast du einen Platz. Du kannst mich anrufen. Jederzeit.“ Er holt ein Foto aus seinem Block heraus. Es ist das, mit dem blonden Jungen. Der Junge sitzt nackt auf dem Schoss von Jemandem. Ich gehe davon aus, dass es Konrad ist. Konrad dreht das Bild und notiert mit einem Kugelschreiber seine Nummer auf die Rückseite und legt es umgedreht auf das Armaturenbrett. Dann schaut er kurz aus dem Fenster, lässt es herunter und winkt jemandem zu. Ich folge seinem Blick, schaue über seine Schulter und… das muss Paulchen sein. Ein Mann in meinem Alter, dunkles braunes Haar, schlanke Statur und neben ihm steht ein blondes Mädchen, das auf ihrem Smartphone herum drückt. Paulchen winkt in unsere Richtung und lächelt. Konrad öffnet die Beifahrertür und steigt aus. Doch bevor er geht, bückt er sich nochmals zu mir herunter. „Und Max, willst du nicht zuerst herausfinden, wie es sich anfühlt, bevor du ein Leben lang darauf verzichtest?“

Ich fahre nach Hause, sicher, das Richtige getan zu haben, als ich Konrads Foto mit der Telefonnummer in den Müll geworfen habe und finde mich einen Tag später trotzdem parkend vor Jimmys Schule wieder. Es regnet in Strömen und es ist kalt draussen. Es ist gerade grosse Pause, die Kinder spielen auf dem Schulhof. Hin und wieder wandern meine Augen von meinem Lenkrad zu den Kindern herüber. Beobachten sie. Suchen nach Jimmy, aber er ist nicht da. Warum bin ich schon wieder hier? Konrads Worte spuken in meinen Gedanken rum. Willst du nicht herausfinden, wie es sich anfühlt, bevor du darauf verzichtest. Ja, ich will wissen wie es sich anfühlt. Ich will es so sehr. Aber ich kann nicht. Ich darf nicht. Es ist falsch. Ich drehe die Heizung auf. Der Regen prasselt auf die Windschutzscheibe und allmählich laufen alle Fenster an. Dampf, der sich auf dem Fensterglas festsetzt und mir die Sicht raubt. Seufzend werfe ich einen Blick in den Rückspiegel und muss automatisch an Jimmy denken, wie er in seinem blauen Poncho auf meiner Rückbank gesessen und zu mir nach vorne geschaut hat. Der süsse blaue Poncho, der so perfekt zu seinen blauen Augen gepasst hat. Die niedlichen Sommersprossen auf seiner Wange, das Gefühl, als mich diese gestreift hat. Die Wärme. Ich hätte ihm so gerne über das blonde Haar gestreichelt. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Behaupten sollen, es wäre ein Versehen gewesen, wenn er mich fragend ansieht. Mir wird warm, aber ich drehe die Heizung nicht runter. Nein. Ich knöpfe mein schwarzes Hemd auf. Streichle mir über den Oberkörper. Wie sich wohl Jimmys kleine Hände auf meiner Haut anfühlen würden? Meine Hand wandert herunter zu meiner Hose, meine Finger spielen am Reissverschluss. Keiner könnte mich jetzt sehen wie ich… der Versuchung einfach nachgebe. Ich ziehe den Reissverschluss herunter und meine Hand verschwindet in meiner Boxershorts. Ich stelle mir vor, Jimmys Finger wären nun dort, wo meine sind, während ich ihm über seinen Kopf streichle, weiter runter an seinem Hals vorbei, über seinen nackten Rücken. Seine weiche Haut unter meinen Fingerkuppen, seinen Duft und er… auf meinem Schoss. Plötzlich klopft es am Fenster der Beifahrertür. Perplex und total überrumpelt nehme ich meine Hand aus meiner Hose und zieh den Reissverschluss hoch. Dann werfe ich einen kurzen Blick in den Rückspiegel und betrachte mich. Schweissperlen auf der Stirn, die Wangen gerötet. Verdammt. Ich streiche mir den Schweiss mit dem Handrücken vom Gesicht und streife mir ein paar lose Strähnen hinter die Ohren. Dann lasse ich das Fenster herunter und… Jimmy steht vor der Beifahrertür und streckt mir strahlend durch das Fenster einen Monstertruck entgegen. Das kann doch nicht wahr sein. „Hallo! Ich hab einen neuen Truck zum Geburtstag gekriegt! Wollen sie den mal sehen? Der ist voll cool!“
„Ehh… was?“ Mehr bringe ich nicht über meine Lippen. Mit offener Kinnlade starre ich den Jungen, der den gleichen blauen Poncho wie beim letzten Mal trägt, an. Bilde ich mir das ein?
„Sie mochten einen alten Monstertruck doch so sehr. Und ich hab ihr Auto hier gesehen und da dachte ich, ich könnte ihnen meinen neuen zeigen. Der ist sogar steuerbar! Sehen sie?“ Jimmy hält eine Fernbedienung hoch. Steuerbar? Warte… ich sollte ihn einfach wegschicken. Einfach losfahren. Aber… es regnet in Strömen und er steht im Regen. Ausserdem geht das Spielzeug doch kaputt, wenn es,… zu nass wird?
„Ich würde gern deinen neuen Monstertruck anschauen. Los steig ein.“
„Cool!“, Jimmy öffnet die Tür und nimmt klatschnass auf dem Beifahrersitz Platz. Dann präsentiert er mir begeistert seinen neuen grünen Monstertruck.
«Und wenn ich hier drücke, dann fährt der. Das geht natürlich jetzt im Auto nicht. Aber sehen sie?“ Jimmy drückt auf den Knopf der Fernbedienung und die Räder des Trucks fangen an sich zu drehen. „Wollen sie auch mal?“ Ich nicke und er gibt mir die Fernbedienung. Als ich ebenfalls den Knopf drücke und der Truck in seinen Händen anfängt mechanische Geräusche zu machen, fängt er an zu lachen. „Wirklich cool.“, erwidere ich und lächle ebenfalls. Ich reiche Jimmy wieder die Fernbedienung. „Schade, dass das Wetter nicht mitspielt, sonst hätten wir ihn ein paar Runden fahren lassen können.“
Jimmy schaut mich an und seine Mundwinkel ziehen sich nach unten. „Ja. Irgendwie regnet es immer an meinem Geburtstag.“ Plötzlich weiten sich seine Augen. „Boah. Ist das cool!!! Ist das ein Wolf?“ Er zeigt mit seinem Finger auf meine Brust und ich erstarre. Scheisse. Ich habe vergessen das Hemd zu zuknöpfen und Jimmy hat Sicht auf mein Tattoo auf der Brust. Ein riesiger Wolf mit stechend roten Augen, der die Zähne bleckt. „Ehmm… ja. Der Fenriswolf.“, stammele ich und spüre, wie ich nervös werde und meine Handflächeninnenseite nass.
„Fenriswolf?“, wiederholt Jimmy, lehnt sich zu mir herüber und bestaunt mit grossen Augen und offenen Mund mein Tattoo. „Ich finde Wölfe total toll! Was ist ein Fenriswolf? Hat das wehgetan? Mein Bruder hat auch Tattoos! Aber das hier ist viel cooler!“
„Ehh… es bedeutet wörtlich Sumpfwolf und der Fenriswolf kommt aus der nordischen Mythologie. Ja, es hat schon etwas wehgetan.“
„Darf ich den mal anfassen?“
Wie bitte? Bevor ich etwas erwidern kann, berührt Jimmy mich an der Brust. Zeichnet mit seinen Fingern den Wolf nach und ich verharre wie angewurzelt auf meinem Sitz. Ich spüre, wie meine Haut unter seiner Berührung anfängt zu prickeln, spüre, wie heisses Blut in meine Lende schiesst und… NEIN. NEIN NEIN NEIN NEIN. „Steig sofort aus Jimmy.“, flüstere ich. Jimmy sieht mich fragend an und zieht seine Hand zurück. „Was?“
„Steig sofort aus!!! Na los!“, brülle ich den Jungen an. Seine Augen füllen sich mit Wasser und ich sehe, Angst darin aufflackern. „NA LOS, HAU AB!“ Jimmy schnappt sich panisch seinen Monstertruck vom Armaturenbrett, steigt aus und rennt weg. Ich haue meinen Schädel gegen die Kopflehne des Stuhls. Mehrfach. Meine Finger krallen sich in meinen Oberschenkel fest und Tränen schiessen mir in die Augen. Das geht nicht. Das geht so nicht weiter. Nein. Meine Hand schnellt zum Steuerknüppel, ich lasse die Fenster herunter und rase los. Ich rase einfach los. Das Gaspedal heruntergedrückt. Fahre viel zu schnell. Fahre weg. Flüchte vor mir selbst. Vor Jimmy. Vor den Fantasien. Vor allem.

Ich weiss nicht wie lange ich gefahren bin. Aber als ich wieder klar denken kann, parke ich mit meinem Auto vor einem See. Hier habe ich früher als Kind gern gespielt und mit meinem Dad geangelt, als er noch gelebt hat. Ab und zu treffe ich mich hier mit Jonas und wir machen Musik. Ich starre auf die Oberfläche des Sees. Regentropfen prasseln auf das Wasser hinab und zaubern Muster in den sonst so flachen und ruhigen Wasserspiegel. Stille. Hier und da ein Vogel, der zwitschert. Sonst nur Regen und Stille. Der See liegt etwas abgelegen in einem Waldstück. Ich ziehe scharf die Luft ein. Konrad hat dem Drang nachgegeben und ich war kurz davor dasselbe zu tun. Jimmy so anzuschreien, ist nicht fair gewesen. Er hat nicht wissen können, was für einen Effekt seine Berührung auf mich hat. Woher auch. Niemand sieht die Krankheit. Erst wenn es zu spät ist. Wenn es zu spät ist… erkennt man das Monster, das in mir schlummert. Mein Handy klingelt. Es ist Jonas. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und nehme den Anruf entgegen.
„Hallo.“
„Max, hey, du hast dich gar nicht mehr gemeldet. Ist alles in Ordnung? Bist du noch bei der Freundin?“
„Alles in Ordnung.“
„Hört sich aber nicht so an. Ist etwas passiert?“
„Nein, alles super.“
„Bist du noch bei der Freundin?“
„Nein.“
„Wo bist du grade? Dir muss man auch alles aus der Nase ziehen heute.“
„Beim See, wieso?“
„Naja, ich wollt fragen, ob du vielleicht Lust hast vorbei zu kommen? Robby und ich haben einen Kuchen gebacken und keine Ahnung, ihr könntet euch mal kennenlernen. Er fragt die ganze Zeit nach dir und will dich kennenlernen. Er ist total begeistert von unserer Musik und singt die Songs immer nach. Vielleicht könnten wir zusammen einen Film schauen. Was meinst du?“
Tränen sammeln sich wieder in meinen Augen und ich spüre wie es mir die Kehle zuschnürt. Ich kann nicht. Ich halte den Hörer fester an mein Ohr, versuche die Selbstbeherrschung zurückzuerlangen, atme langsam ein und aus. Vergebens.
„Ey, was ist los??? Geht’s dir nicht gut?“
„Jonas… ich.. ich kann nicht verstehst du?! Ich kann nicht. Ich bin krank. Ich kann deinen Sohn nicht kennenlernen!“
„Was meinst du? Wovon zum Teufel redest du?“
„Ich bin pädophil! Okay? Es ist raus. Ich bin pädophil und ich will mir nicht ständig vorstellen müssen, wie ich deinen Sohn ficke, wenn ich bei dir bin. Okay? Verstehst du das? Ist eigentlich auch egal. Ich werde dem Ganzen jetzt ein Ende setzen.“
„Du bist was????“
Jonas schockierter Tonfall gibt mir den Rest. Ich werfe das Handy aus dem Fenster. Es ist genug. Ich drehe das Radio laut, in dem Versuch die Gedanken in meinem Kopf mit der Musik zu übertönen. Sie auszumerzen. Wie die Fantasien, die niemand ausmerzen kann. Mit leerem Blick starre ich aus der Windschutzscheibe direkt auf den See und trete das Gaspedal durch.

Es ist jetzt eine Woche her seit meinem Selbstmordversuch. Jonas hat alles Stehen und Liegen gelassen und ist zum See gefahren. Er hat mich rausgeholt. Die Rettungskräfte haben mich ins Leben zurückgeholt. Eine zweite Chance. Es geht mir besser. Ich habe Jonas alles erzählt und ich glaube er versteht mich. Er hat mich sogar zur Therapie begleitet. Konrad ist nicht mehr erschienen. Ob Liebe wirklich kein Alter kennt, weiss ich nicht, aber ich habe für mich beschlossen, dass ich gegen meine Dämonen ankämpfen werde. Ich habe angefangen Medikamente zu nehmen und sie helfen mir.





Vielen Dank an M. und K. für die Offenheit.

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