Kittykat671 - 5

Kittykat671 21. Jan. 2022

(Klinge / pflegen)

Jetzt bin ich es, der mit offenem Mund da steht und erstmal ein paar Sekunden braucht, um zu verarbeiten, was gerade aus dem scheuen Reh gesprudelt ist. Mein Körper reagiert schneller als mein Verstand. Blut schießt in meine Lende und ich spüre, wie es enger und enger in meiner Hose wird. Ich habe mit vielem gerechnet, aber garantiert nicht damit, dass das Mädchen die Offensive ergreift. Eher, dass sie mich auf meine unschöne Narbe anspricht. Bevor ich mich fangen und etwas darauf erwidern kann, klopft es energisch an der Tür. Fuck, was ist denn heute los?
Ohne großartig zu überlegen, lasse ich das Reh unerledigter Dinge stehen und öffne die Tür. Darwin. Ein Blick in sein Gesicht und ich weiss, dass irgendetwas verdammt nochmal ganz und gar nicht in Ordnung ist. Seine Haare stehen in alle Richtungen und die Jogginghose sieht aus, als hätte er jemanden abgestochen und sich danach in seinem Blut gewälzt.
“Notfall, Tür 33”, brüllt er mir entgegen und rennt los. Ein innerer Impuls sagt mir, dass ich keine Zeit verlieren und Darwin hinterher sprinten sollte, wäre da nicht das Reh, dass immer noch an Ort und Stelle steht und in so einem Notfall definitiv angebunden sein sollte. Scheisse. Ich muss eine Entscheidung fällen und weiss, dass wenn ich sie laufen lasse, ich uns alle in Gefahr bringe, aber das ist mir in diesem Moment herzlich egal. Manchmal muss man Freunde über das Business stellen. Ich renne ohne einen Kommentar, Befehl oder Sonstiges los. Schliesse nicht einmal die Tür hinter mir ab. Nein, ich lasse sie sogar offen stehen. Ich bin ein verdammter Vollidiot, aber als ich von Weitem schon die Tür von 33 auf dem Boden liegen sehe, weiss ich, dass, was auch immer dort drin passiert ist, definitiv nicht warten kann.
Als ich mein Ziel erreiche, fallen mir beinahe die Augen aus den Höhlen. Vor mir erstreckt sich ein Bild des Grauens. Ein Massaker. Der ganze Raum ist blutgetränkt und inmitten des Blutbads entdecke ich auf einem Podest eine völlig aufgelöste Frau, die etwas in ihren Händen hält, was in ein Laken eingewickelt ist.
“Ach du..”
“Scheisse”, fällt Darwin mir ins Wort. Er kauert völlig fertig mit der Welt neben der Tür. Blut klebt an Gesicht und Händen und als ich zu seinen Füssen Oskar auf dem Boden liegen sehe, muss ich schlucken. Oskar ist einer von uns und doppelt so breit wie Darwin und ich zusammen. Kein Fett, reine Muskelmasse. Irgendetwas Glibberiges hängt aus seiner Bauchhöhle raus und wenn ich raten müsste, würde ich auf den Darm tippen. Meine Augen folgen der Schleifspur, die zum Podest führt. Sag bloß, die Frau hat Oskar das angetan...
“Wie?”, frage ich Darwin verblüfft, dieser zuckt nur mit den Achseln. Es ist das zweite Mal, dass ich ihn an diesem Abend weinen sehe. Nicht, weil er Oskar sonderlich mochte, nein, wohl eher, weil die Nerven mit ihm durchgehen und ich kann es nachempfinden. Ein leises Wiegenlied zieht meine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau und ich erkenne die Stimme, als ich genauer hinhöre.
“Naomi?”
Die Frau hebt ihren Kopf und sieht in meine Richtung. Ja. Es ist Naomi. Sie ist oder besser gesagt war Oskars Lieblingsmädchen. Sie ist schon etliche Jahre im Etablissement. Aber unter all dem Blut und in dem Zustand wirkt sie wie eine Fremde auf mich. Ich ziehe die Stirn in Falten und verschaffe mir einen Gesamtüberblick über die aktuelle Situation. Eigentlich hatten Oskar und Naomi ein gutes Verhältnis zueinander. Zumindest ein besseres Verhältnis, als ich es zu all meinen Mädchen pflege und nicht einmal Johanna ist bei mir jemals so ausgerastet, wie es Naomi, dem Chaos nach zu urteilen, getan hat. Mein Blick bleibt an Oskars goldenen Gürtelschnalle kleben. Prompt kommt mir eine Idee. Ich gehe in die Hocke und fange an, an Oskars Hose herum zu hantieren, um den Gürtel zu lösen, was sich als knifflig und ziemlich widerlich herausstellt, besonders weil ich Oskars ‘Innereien’ zuerst aus dem Weg schaffen muss.
“Was zur Hölle machst du?” Darwins brüchiger Stimme nach zu urteilen, kämpft er genauso mit dem Brechreiz wie ich. Der Geruch ist das Schlimmste. Eine Mischung aus Eisen und Fäkalien. Ich will dem Ursprung davon gar nicht genauer auf den Grund gehen.
“Wieder für Ordnung Sorgen”, flüstere ich und bin heilfroh, als der Gürtel von der Hose ablässt. Ich wickle ihn ein paar Mal um meine linke Hand und komme mir vor wie ein schlechter Chirurg, bei dem ganzen Blut, dass nun an und auf mir klebt.
Mit langsamen Schritten nähere ich mich dem Podest und ziehe Naomis Aufmerksamkeit schneller auf mich, als mir lieb ist. Sie richtet sich auf wackligen Beinen auf und drückt das ekelhaft blutverschmierte Bündel fester an ihre Brust. Erst jetzt realisiere ich, was sie wie eine Löwin beschützt. Die Nabelschnur hängt noch herunter und wurde offensichtlich nicht fachgerecht getrennt. Mutter und Baby sind verbunden und ich muss kein Arzt sein, um zu kapieren, dass das Ding an ihrer Brust längst nicht mehr lebt oder bereits tot zur Welt gekommen ist. Es gibt keinen Mucks von sich.
“Spinnst du?”, zischt Darwin hinter mir, als auch er erkennt, was für ein Drama sich hier wohl abgespielt hat, aber ich lasse mich nicht von meinem Plan abbringen.
“Komm bloß nicht näher, Fynn!” faucht Naomi schrill, bückt sich nach irgendetwas auf dem Boden und als sie es drohend vor sich hält, erblicke ich das, was Oskar vermutlich zum Verhängnis geworden ist. Die silberne Klinge des Messers reflektiert das schwache Licht der Neonröhre über unseren Köpfen und sieht dabei aus wie eine billige Filmrequisite. Naomi muss Oskar unvorbereitet erwischt haben, anders kann ich mir nicht erklären, wie sie mit der mickrigen Waffe einen Koloss wie Oskar zu Fall gebracht hat. Ich habe zwar gehört, dass Mütter sogenannte Superkräfte entwickeln, wenn es um die Verteidigung ihres Nachwuchs geht, aber mit dem kleinen Messer so einen massiven Schaden und ein Blutbad anzurichten, übersteigt meine Vorstellungskraft. Trotzdem mahne ich mich zur Vorsicht, als ich die Distanz zwischen uns weiter verringere.
“Was ist passiert, Naomi?”
“Er wollte mir mein Baby wegnehmen! Er wollte es mir wegnehmen! Er hatte kein Recht sie mir wegzunehmen!”, schluchzt Naomi und fuchtelt schwach mit dem Messer in ihrer Hand rum.
“Und du wirst sie mir auch nicht wegnehmen!” Ein ohrenbetäubender Schrei verlässt ihre Kehle und verebbt in einem Schwall aus hysterischem Gelächter. Okay. Die Frau ist total übergeschnappt.
“Ich nehme sie dir nicht weg. Ich will dir nur helfen”, versichere ich ihr in einem ruhigen Tonfall. “Willst du mir erzählen, was genau passiert ist?”
Naomi wirft mir trotzig das Messer entgegen und obwohl ich genug schnell reagiere, trifft es mich dennoch an der Seite und hinterlässt einen Schnitt auf der nackten Haut, was mich schmerzhaft daran erinnert, dass ich mein T-Shirt von Susan hätte zurückfordern sollen. Die Wunde brennt, ist aber nichts, womit ich nicht klarkommen würde.
Grade als ich lospreschen will, um die nun unbewaffnete Frau zu überwältigen, zaubert diese doch tatsächlich eine weitere Waffe aus dem blutverschmierten Bündel hervor. Einen Revolver. Im Hintergrund höre ich Darwin laut fluchen. Ja, mein Freund. Das Glanzstück beeindruckt selbst mich. Ich halte kurz inne, wäge meine Chancen ab, die zugegebenermassen ziemlich schlecht stehen. Egal wie gut Naomi als Schützin ist, sie hat Oskar zur Strecke gebracht. Ich werde der Nächste sein, wenn ich nicht aufpasse. Im Augenwinkel nehme ich wahr, dass Darwin sich aus dem Staub macht. Vermutlich Hilfe holen. Wird Zeit für Plan B. Zeit schinden.
“Ich will dir nicht weh tun, Fynn”, kreischt Naomi ein paar Oktaven zu hoch und bringt meine Ohren zum Klirren.
“Du kannst mir nicht weh tun”, erwidere ich und knie mich hin. Naomi und mich trennen ungefähr noch knapp zehn Schritte. Ich lege den blutverschmierten Gürtel vor mir auf den Boden ab und tue etwas, was ich sonst meine Mädchen tun lasse. Ich senke den Kopf und strecke meine Arme vor mir aus.
“Was wird das?”
Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass Naomi ihren Revolver wieder in der Luft umher tanzen lässt, um mir zu imponieren.
“Ich weiss nicht, wie ich es dir anders beweisen soll, dass ich dir und deinem Baby wirklich nur helfen will.”
Die klaffende Schnittwunde stellt sich in dieser Position doch hinterhältiger heraus als angenommen. Aus dem anfänglichen Brennen ist ein Ziehen geworden und der Schnitt hört einfach nicht auf zu bluten. Soviel dazu, dass Naomi mir nicht weh tun kann. So wie es aussieht, hat sie es geschafft, mich ernsthaft zu verletzen. Zumindest wenn ich nichts gegen den stetigen Blutfluss unternehme. Die Sache mit dem Zeit schinden, wird also kritisch.
Naomi zögert die Entscheidung, ob sie mir vertrauen soll, ewig lange hinaus, wahrscheinlich genießt sie den Anblick von mir auf dem Boden zu sehr oder will ihre Machtposition solange wie möglich auskosten. Durchgeknalltes Miststück. Als sie sich jedoch wankend auf mich zu bewegt, schöpfe ich Hoffnung. Die sogleich schwindet.
“Wirf mir den Gürtel zu”, fordert mich das intelligente Biest auf und sabotiert meinen Plan A, der daraus bestand, sie mit dem Gürtel zu überwältigen, sobald sie nah genug ist. Widerwillig füge ich mich und werfe ihr den Gürtel zu, dabei versucht sie nicht einmal ihn aufzufangen, sondern hält weiterhin den Lauf der Knarre auf mich gerichtet.
“Für wie dumm hältst du mich eigentlich?”, lacht sie krächzend. Sehr dumm, aber offenbar lag ich mit meiner Schätzung falsch, antworte ich im Stillen, senke den Blick und presse die Lippen angespannt aufeinander. Darwin, lass mich nicht im Stich. Bitte.
Die Distanz zwischen Naomi und mir wird immer geringer. Zwei Schritte und sie steht direkt vor mir. Ich könnte alles auf eine Karte setzen und einen Sprung wagen.
“Sieh mich an”, herrscht sie mich an. Ich tue wie mir geheissen. Das Erste, was mir ins Auge fällt, ist die baumelnde Nabelschnur, die sogleich einen Brechreiz in mir auslöst. Schlimmer wird es, als ich das blutige Bündel in Naomis Hand nun aus der Nähe sehe und ich verstehe, wieso bei Naomi alle Sicherungen durchgebrannt sind. Der Schädel des Babys ist komplett zertrümmert. Verdammt Oskar, was zur Hölle hast du…
Naomi macht einen letzten Schritt auf mich zu und drückt mir das kalte Metall ihres Revolvers gegen die Stirn.
“Du widerlicher Schweinehund. Ihr seid alle gleich. Alle.” Die Verzweiflung in ihrer Stimme bildet einen völligen Kontrast zu dem Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie wirkt wie versteinert. Als wäre sie mit ihrem Baby gestorben. Ich muss schlucken. Rechne bereits mit einem Schuss und schließe die Augen. Stattdessen spüre ich etwas Warmes und Nasses auf meiner Wange. Naomi weint.
“Warum kann ich dich nicht abknallen, Fynn?”, schluchzt sie leise. Ihre Hand zittert. Das wäre der Moment, in dem ich sie überwältigen könnte. Irgendwas hält mich zurück. Vielleicht ist es der Schock, der Blutverlust oder ein plötzlicher Anflug von Idiotie. Regungslos verharre ich in meiner Position und übernehme auch nicht die Kontrolle, als Naomi die Waffe zurückzieht.
“Ich kann es nicht. Ich kann es einfach....”
“Sayonara, Schlampe!”, brüllt eine männliche Stimme durch den Raum, unmittelbar darauf folgt ein dumpfes Geräusch. Ein Schuss, ein Knacken und Blut spritzt in mein Gesicht. Was zur Hölle… Ein Speer einer Harpune hat sich fest in Naomis Hinterkopf verankert. Mit einem Ruck verliert sie den Boden unter ihren Füssen und wird mit Gewalt vom Podest gezogen. Meine Augen folgen ungläubig dem Seil und machen den Schützen aus. Breit grinsend steht er im Türrahmen und dreht an der Kurbel. Charon von Tür 5. Neben ihm Darwin, bleich wie ein Gespenst und genauso geschockt wie ich.
“Das ist schon die zweite Nutte, die heute durchdreht”, lacht Charon und kurbelt fröhlich weiter, als hätte er einen Fisch statt einer Frau am Haken. Darwin löst sich aus seiner Starre und kommt auf mich zu gerannt. Bei mir angekommen, schließt er mich in seine Arme. Das wäre dann die dritte Umarmung, die wir heute miteinander austauschen.
“Geht es dir gut?”, erkundigt er sich und inspiziert meine Wunde.
“Geht schon”, sage ich und kann meinen Blick nicht von Naomi lösen. Noch immer hält sie das Bündel in den Händen umklammert, als wolle sie es bis zur allerletzten Sekunde ihres Lebens beschützen und fest mit ihm verbunden sein.
Darwin schlingt seinen Arm unter meinen Achseln hindurch und hilft mir auf. Zusammen torkeln wir auf Charon zu, der stolz seinen Fang begutachtet. Naomis Arme und Beine zucken noch. Ihre Lider flattern und es sieht aus, als versuche sie irgendetwas zu sagen, aber kein Ton verlässt ihren Mund.
“Sag mal, warum hat dich die Schlampe nicht abgeknallt?”, fragt Charon und kickt Naomi den Revolver aus der Hand. Ein Wunder, dass sich bei der ganzen Aktion kein einziger Schuss gelöst hat.
“Ich weiss es nicht”, antworte ich und merke, wie ich allmählich Schwierigkeiten bekomme, das Gleichgewicht zu halten. Die beschissene Wunde zerrt an meinen Kräften. Ich muss sie unbedingt verarzten.

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