Hässlichkeit
Fangen wir einmal an. Es braucht schon unglaublich viel Mut zu seiner Hässlichkeit zu stehen. Seit ich realisieren kann, dass Schönheit eine Währung ist und die Mehrheit bestimmt, was als schön, erstrebens- und begehrenswert gilt, kämpfe ich mit meinen elendigen Dämonen. Von einem Tag auf den anderen hat mein Spiegelbild plötzlich an Bedeutung bekommen. Ui, toll, fantastisch! Habe ich darum gebeten? Nein, selbstverständlich nicht. Kann ich es ändern? Nein, nun nicht mehr. Zu spät. Der Zug ist abgefahren. Tschüss Zug. Ach. Es ist einfach essentiell gut auszusehen, wenn man Erfolg haben will ohne sich grossartig anzustrengen - oder ohne einen Kampf. Natürlich, Schönheit kann auch ihre Tücken haben, aber in erster Linie hast du schlichtweg mehr Wege zu gehen, mehr Pfade zu beschreiten und das nur, weil dein Körper - mit dem du nebenbei geboren worden bist und den du dir nicht aussuchen konntest - der gesetzten Norm entspricht. Siehst du überdurchschnittlich gut aus, wird dich jeder lieben und haben wollen. Du bist automatisch begehrenswert und viele nehmen dich und dein perfektes Aussehen sogar als Vorbild an. So will ich auch aussehen. Mensch, siehst du doch klasse aus. Mir doch egal, wie beschissen dein Charakter ist, aber diese Ohren, wow! Und diese Nase erst! Und die Lippen! Sind die etwa von Gucci? Nein, von Mama und Papa! Nein echt? Ach was! Cool!
Was nicht von Geburt an Schönheit da war, dem Mangel wird chirurgisch halt nachgeholfen. Willst du jemand sein, dann sei schön. Schönheit ist das nonplusultra. Und wieder sinke ich in den Sumpf meiner Grässlichkeit zurück, während ich den Löffel zu meinem missratenen Mund führe. Ich meine, man darf nicht einmal fett sein. Fett gilt nämlich nicht als attraktiv und schlank ist das neue schön, seit die Menschen im Überfluss leben. Lächerlich. Und lächerlich ist auch, dass ich viel zu lange versucht habe, den Status "schlank sein" zu erreichen. Diäten, Sport und sogar Präparate. Aber ich kann nicht genug verzichten und dadurch bleibt mir der Luxus schlank respektive schön sein verwehrt. Ich bin dick und ja, es ist mir egal geworden. Denn ich habe akzeptiert, hässlich zu sein. Wenn man genauer darüber nachdenkt und seinen Grips ein bisschen anstrengt, ist hässlich sein irgendwie total in Ordnung. Es gibt nur weniger Wege, die ich gehen kann, aber es sind auch weniger Augen auf mich gerichtet. Wirklich. Es gibt nur wenige Verfechter meiner Hässlichkeit. Ein paar einzelne Individuen, die ihr kümmerliches Sein mit Beleidigungen mir gegenüber aufwerten. Aber im Grunde widmet sich niemand freiwillig dem Abscheulichen, wenn man seine Aufmerksamkeit dem Schönen zuwenden und vielleicht einen Stich landen kann. Man watet im Dunkel der Verborgenheit. Man ist nichts und Nichts ist der Schatten. Diese Seite der Medaille ist trüb, aber sicher, sofern man die abfälligen Bemerkungen erstmal erfolgreich ignorieren kann.
Ich, zum Beispiel, kann diesen Löffel geniessen, ohne das mir jemand dabei unbedingt zuschauen und seinen Senf dazu abgeben möchte. Die Substanz schmeckt zwar bitter auf der Zunge. Ist zäh zwischen den Zähnen und etwas blutig im Abgang. Tja, mein Pech. Ich speise gerne exklusiv. In meinem Kühlschrank habe ich noch mehr davon. Die Ration reicht bestimmt für eine ganze Woche, dann bin ich gezwungen meinen widerwärtigen Körper wieder unter die Schönen unter uns zu befördern. Zugegeben wenn man mit Menschen konfrontiert wird, die im Besitz von etwas sind, was man niemals haben wird, zerreisst einen der Neid wie ein ausgehungerter Geier ein Stück Aas. Man ist das Fleisch im Schnabel der Unwissenden und Schönen. Aber wie sollen sie auch wissen, wie man sich unter ihnen fühlt, wenn sie einen nicht einmal wirklich wahrnehmen. Bewusst unbewusst wahrnehmen. Selbst wenn man sie anrempelt, würdigen sie dich meistens keines zweiten Blickes. Ausser du hältst sie fest und wenn es auch nur für eine Sekunde ist. Und im Normalfall reicht eine Sekunde für den Stich. Meine Nadel ist immer griffbereit und der Inhalt der Spritze wirkt langsam.
Es dauert etwas, bis der Stoff in die Blutbahn gerät und das Hirn benebelt. Im Idealfall sitzt die Schönheit bereits in einem Café und lüftet den wirren Kopf aus, in der Hoffnung der plötzliche Schwindel würde baldigst vorüberziehen. Aber das wird er nicht. Irgendwann, wenn der Zeitpunkt gut und am günstigsten ist, lernen wir uns dann kennen. Wenn Schönheit auf Hässlichkeit trifft. Dieser Gedanke zaubert mir stets ein widerliches Lächeln in mein geschundenes Gesicht. Ironischerweise bevorzuge selbst ich Makellosigkeit. Sie schmeckt irgendwie süsser,… vielleicht rede ich mir das auch nur ein. Naja. Man will halt doch immer das, was man nicht haben kann oder darf. Und dann holt man es sich irgendwann einfach mit Gewalt und wenn es soweit ist, ist die Schüssel voll und der Bauch leer. Die Gier erledigt den Rest. Anfangs würgt man noch ein- oder zweimal, aber wenn man sich an den Geschmack der Schönheit gewöhnt hat, fällt das Schlucken einfacher. Beim ersten Mal habe ich mich übergeben, aber daran sind bestimmt zum Teil die Schuldgefühle ausschlaggebend gewesen. Du darfst das nicht essen. Das ist falsch. Das ist krank. Unmenschlich. Ach was, völliger Bullshit. Daran ist nichts unmenschlich. Unmenschlich ist diese Oberflächlichkeit. Diese Ausgrenzung und Intoleranz gegenüber denen, die nicht so viel Glück mit ihrem Genpool haben. Wenn ich könnte, würde ich sie alle fressen. Bei dem Gedanke daran, spüre ich, wie sich meine Verdauungssäfte ihren Weg durch meine Speiseröhre nach oben bahnen. Schnell schlucke ich sie mit einem weiteren Happen hinunter. Genug mit dem Unsinn. Die Schüssel ist halb voll und ich habe Hunger. Hunger nach mehr. Mehr Schönheit für mich.