Gott sieht zu

kontroverse Geschichten 12. März 2023


Gewidmet dir, der mit Schlangen spielt


Ich mag die Morgenröte. Ich habe sie schon immer gemocht. Besonders als kleiner Junge habe ich den Sonnenaufgang geliebt. Der Blick aus dem Fenster ins rote Meer am Himmel hoch oben fühlte sich für mich als Kind witzigerweise an wie ein Sieg. So als hätte ich die Nacht bezwungen, als hätte ich kleiner Knirps den bösen Sensenmann ein weiteres Mal ausgetrickst. Heute - heute glaube ich nicht mehr an sowas wie Sensenmännern. Heute weiss ich, dass hinter jedem weinenden Kind ein Hurensohn steckt, der den Tod verdient hat und mit dem Leben davonkommt.


Lächelnd steige ich in meine Boots, werfe mir einen Mantel um. Ich schreite die Straße hinab, beinahe so, als hätte ich eine weitere Nacht bezwungen. Als hätte ich sie mit bloßen Händen niedergestreckt. Der Gedanke erheitert mich irgendwie, obwohl mir zum Heulen zumute ist. In der Filmwelt gibt es einen Begriff für das, was ich vorhabe und einzig allein das Wort widert mich an - aber Gott sieht zu und ich muss ihm eine Show bieten. Etwas, das er nicht so schnell vergisst. Ein Ding drehen, das sich einprägt. Ich weiss, dass ich nur ein kleines Licht bin in einer Welt voller Scheinwerfer. Doch heute, ja heute, wird er zusehen. Er muss einfach zusehen - ich werde mit einem Knall beginnen.


Ich gehe auf das Haus zu, in dem ich aufgewachsen bin, sehe zu dem Fenster hoch, aus dem ich so oft hinaus geguckt habe - in der Hoffnung, die Sonne zu sehen, weil der Mond stets der Feind war. Heute sind die Vorhänge zugezogen und ich weiß ganz genau, was das zu bedeuten hat. Ich spüre ein vertrautes Kribbeln, das durch meinen Körper geht. Meine Ex sagt, dass traumatische Erlebnisse den Geist wecken, keine Ahnung, ob hinter der Aussage der durchgeknallten Schlampe wirklich etwas steckt, doch eine Sache ist sicher, ich bin sowas von hellwach und bereit, endlich loszulegen.

Die letzten Stufen zur Haustür fühlen sich trotzdem an, als hätte ich meine Boots mit Blei statt mit Füßen gefüllt. Ich überlege zu klingeln, lasse es und trete einfach ein. Der altbekannte Mief steigt mir in die Nase. Müll stapelt sich an den Seiten und dann, als ich die Küche betrete, sehe ich sie. Sie steht vor dem Herd, kocht irgendwas, von dem ich überzeugt bin, dass es ungenießbar schmeckt.


Ich trete an sie heran. Leise. Schmiege mich wie eine Krankheit an sie und ziehe sie in meine Arme hinein. Ich rieche den Alkohol in ihrem Atem und sehe den Rest, den sie sich eingeworfen hat, in ihren glasigen Augen widerspiegeln.
“Mom”, hauche ich zart in ihr Ohr. “Ich werde dich heute ficken”, füge ich hinzu. Meine Mundwinkel zucken, als die Frau nur ein planloses “Hä?” von sich gibt. “Schon gut, Mom”, erwidere ich und streichle ihr liebevoll über ihr zerrupftes Haar, dann lasse ich sie in der Küche stehen. Mein Weg führt vorbei am Zimmer meiner Schwester. Ich werfe einen Blick hinein, sehe sie auf der versifften Matratze und irgendein Kerl auf meiner versifften Schwester liegen. Ich lache und gehe wortlos weiter. Das Zimmer meines Bruders. Die Tür ist angelehnt. Von drinnen kommen Geräusche. Ich kenne das Konzert, das dort drin gespielt wird. Kenne es nur allzu gut. Ich trete mit einem Knall ein, sehe eine Tür fliegen.
“Dad”, sage ich und richte den Lauf der Knarre auf den Mann, der gerade Trompete mit dem Arschloch meines Bruders spielt.

“Ich will dich killen”, füge ich hinzu und drücke ab. Einmal, zweimal. Hirn schießt in alle Richtungen - färbt das Zimmer und meinen Bruder blutrot.

Vor meinem Zimmer stelle ich die Kamera auf, dann reiße ich die Vorhänge runter, begrüsse die aufgehende Sonne und fühle mich wie ein Sieger, obwohl der Kampf noch lange nicht gewonnen ist. Um zu gewinnen, muss ich alle zusehen lassen und meine Mutter bekommt einen Platz in der ersten Reihe. Ich stelle sogar extra einen Stuhl für sie auf und binde sie darauf fest. Ich hätte ihr auch die Augenlider am Kopf festgetackert, hätte ich nicht ohnehin gewusst, dass sie gerne dabei zusieht - denn man muss gerne zusehen, um diesen Anblick überhaupt ertragen zu können. Ich hole meinen Bruder aus seinem Zimmer heraus. Er ist nicht wirklich mein Bruder, nur ein weiteres Kind, das keiner haben will. Zumindest hat man uns das hier so beigebracht, hat es uns mit Schlägen eingetrichtert und einverleibt bei anderen Aktivitäten, die weh tun und Narben hinterlassen.


Ich bringe meinen Bruder in Position und winke meiner Mom und der Kamera zu. “Hallo Mom”, sage ich, hebe die Hand. “Hallo, ihr da draußen, die gerne zusehen, aber dennoch nicht hinsehen”, füge ich lächelnd hinzu. Es ist ein Lächeln, das an den Mundwinkeln zwickt. Meine Hand verschwindet in meinem Mantel und holt heraus, was ich brauche, um das hier gleich durchzuziehen. Ich schiebe mir zwei der blauen Pillen in den Mund und schlucke sie mühelos hinunter. Meine durchgeknallte Ex meinte einmal zu mir, wenn ich nie einen hoch bekomme, müsse ich halt Pillen schlucken oder sie sei weg. Gegangen ist sie gleichwohl, aber ich bin mir sicher, sie sieht jetzt zu. Genauso wie Gott zusieht und alle anderen. Die Kulisse ist perfekt und die Sonne scheint schüchtern zum Fenster hinein. Es ist fast genauso wie damals, nur habe ich die Rolle gewechselt. Ich bin nicht mehr der, der auf dem Bett liegt und weint, ich bin nun der andere. Der, der die Fäden in der Hand hält und mit den Marionetten spielt.
Es geht mir nicht darum, meinem Bruder, der eigentlich nicht mein Bruder ist, zu schaden. Nein, darum geht es mir nicht. Aber ich habe gelernt, wer will, dass man ihm zuhört, der muss laut sein. Und heute werde ich laut sein und ich werde sie alle dabei zusehen lassen, denn das macht einen Gewinner aus.

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