Erinnerung – Ekel

Poesie 21. Jan. 2022

Ekel. Ich treffe mich mit S. Meine Eltern wissen nicht, dass ich im Zug sitze und nicht da bin, wo ich zu sein habe. Manchmal akzeptiert man die Lüge besser, als die Wahrheit, denn in Wahrheit tue ich etwas, das ich später garantiert bereuen werde. Das weiss ich, als der Zug aus dem Bahnhof fährt und eine zweistündige Fahrt voller Zweifel und Nervosität vor mir liegt. Der Mann in meinem Kopf lacht, so wie er es immer tut, wenn er merkt, dass die Fassade bricht.
Ich sehe genauso aus, wie ich mich fühle. Bleiche Haut, die in ein endlos schwarzes Loch gezogen wird. Ein ausgemergelter Körper zugeschnürt mit Stoff. Schön verpackt, jedoch beschädigt. Eine Frau setzt sich mir gegenüber. Sie mustert mich, sieht hinter das Gesicht und kratzt an der unsichtbaren Wand, die zwischen uns ist. Sie streckt mir einen Flyer entgegen. Ich bedanke mich. Weiche ihren Fragen aus, lese den Slogan. Jesus wird mir den Weg zeigen. Jesus wird mich begleiten. Jesus habe auch ihr geholfen. Ich versuche sie zu ignorieren und starre aus dem Fenster. Als sie aussteigt, sehe ich im Fensterglas den letzten Blick, den sie mir jemals zuwerfen wird. In ihrem Blick liegt so viel Nächstenliebe und Mitleid, obwohl sie mich nicht kennt und die Dämonen nicht sehen kann. Ich muss lachen, obwohl mir zum Weinen zu Mute ist. Ich werde den Flyer S schenken. Drogen nehme ich nicht, auch wenn es den Anschein macht.
S wartet bereits auf mich. Er ist nervöser als ich und es dauert nicht lange, bis ich meine Nervosität herunterschlucke und auf ihn zugehe. Wir begrüssen uns und als meine Haut seine berührt, weiss ich, dass es ein Fehler ist. Es ist so falsch, dass es mir die Luft in der Kehle abschnürt, aber ich lasse mir nichts anmerken. Der Mann in mir lächelt. Willst du es, dann musst du es wollen. Ich will es. Es ist eine der vielen Optionen und Optionen sind wählbar.
S's Haare sind kurz, die Wangen gerötet. Er ist klein, fettleibig und jung. Er ist ein Mitläufer, sagt er. Will dazugehören, weil er nirgendswo dazu gehört, wie ich. Wir reden während wir zu ihm nach Hause laufen. Er schwitzt, seine Augen sind rot unterlaufen. S erzählt von seinen Freunden und ich höre zu und merke, dass er die Definition von Freunden nicht verstanden hat. Als er sich eine Zigarette anzündet, meint er, er würde rauchen, weil alle rauchen. Mit jedem Schritt wird mir bewusster und bewusster, dass der Ekel Hand in Hand mit mir geht. Er begleitet mich und eine leichte Gänsehaut breitet sich aus. So viel Ekel. So viel Abscheu. Ich versuche die Luft anzuhalten und muss husten. Drehe mein Gesicht zur Seite, starre S aber trotzdem immer wieder an. Meine Haut fühlt sich klebrig an.
Wir kommen an einem Einkaufshaus vorbei. Ich überrede S hineinzugehen und uns Horrorfilme zu kaufen. Der Gedanke an Blut und Tod erregt mich, das wird helfen. Denke ich. Wir kaufen uns einen Splatterfilm und Cornflakes.
Bei ihm Zuhause angekommen, lerne ich seine Mutter kennen. Sie wirkt nett. Wir verziehen uns in sein Zimmer und er erzählt mir, was seine Eltern ihm antun. Ich starre auf das Loch in der Wand und bemerke das Zittern seiner Hand auf seinem Schoss. Sein Bauch ist dick. Die Narben auf seinem Arm sind tief. Er hört gerne Rammstein, sagt er. Die Musik donnert aus den Lautsprechern. Im Hintergrund hören wir Streit, als die Eingangstür geöffnet wird und sein Vater nach Hause kommt. S wird aggressiv, wie ausgetauscht. Nicht mehr schüchtern, nicht mehr nervös. Seine Wangen glühen und seine Hand ist geballt. S tut mir leid.
Ich schlage vor den Film anzusehen. Er holt die Milch aus dem Kühlschrank, gibt mir eine Schüssel. Er hat Mundgeruch. Mir wird schlecht, aber ich esse die Cornflakes. Er schiebt die DVD in den Rekorder. Die Menschen im Film werden brutal abgeschlachtet. Das ganze Bild ist rot, aber ich spüre nichts ausser Ekel. Jede Zelle in mir will flüchten und aus diesem Haus verschwinden, aber ich bleibe sitzen und höre den Mann in meinem Kopf lachen.
Ich schaue S zu, wie er die Cornflakes in seinen Mund schaufelt und denke an verwesende Ratten in einer Kanalisation. Er strahlt mich an. Sagt, dass er die Cornflakes mag und schon lange nicht mehr welche gegessen hat. Ich versuche zu lächeln. Der Film wird mir nicht helfen. Irgendwann fange ich an, ihn zu streicheln und tue das, was ich mir selbst eingetrichtert habe zu tun und das, wofür ich gekommen bin. Es funktioniert nicht, mir wird schlecht dabei und meine ganze Haut ist so furchtbar klebrig. Die Kopfschmerzen werden schlimmer und ich muss mich davon abhalten, die Gedanken, die aufkommen, aus meinem Schädel schütteln zu wollen. Ich halte die Luft an, will nicht mehr atmen, keuche und huste aber der Geruch bleibt trotzdem in der Nase stecken. Es ist genau das, was ich erwartet habe und trotzdem schlägt mir die Überraschung ein Loch in den Bauch. Ich würge innerlich und irgendwann hören wir auf, weil S zu nervös ist. Er ist so klein und so verschwitzt. So viel rot in seinem Gesicht.

Sein Geruch hat sich in den Stoff meiner Kleider gefressen und er ist überall an mir. Ich will brennen, aber ich nehme den Zug nach Hause… und alles was ich spüre ist Ekel.

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