Erinnerung – Sportunterricht

Poesie 21. Jan. 2022

Sport.

‘Kinder lernen visuell. Du wirst nie vergessen, was du gesehen hast.’

Die Stimme des Mannes ist klar und deutlich und jedes Wort die Wahrheit. Ich werde nie vergessen, was ich gesehen habe und die Bilder in meinem Kopf sind allgegenwärtig. Ich werde nie wieder ein Kind normal ansehen können. Nie. Wieder. Ich eingeschlossen. Ich bin jung, wir sind alle jung und wir sind im Umkleideraum der Sporthalle. Ich sitze mit anderen auf der Bank, wohlwissend, was gleich passieren wird. Meine Hände sind schweissnass. Ich schwitze, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Mir ist warm und gleichzeitig eiskalt. Mit zuckenden Augenlidern starre ich auf den farblosen Boden vor meinen Füssen. Die Zehenspitzen sind aneinandergepresst. Alles ist verkrampft. Im Augenwinkel nehme ich Schemen wahr. Andere Kinder, die sich unterhalten, kichern und sich ausziehen. Als wäre es normal. Und es ist normal. Das einzige was nicht normal ist, sind meine Gedanken. Sie springen Trampolin. Hoch und runter, hoch und runter. Du darfst das nicht denken. Du darfst das nicht sehen. Es ist normal. Zieh dich einfach an. Du kannst das. Schüchtern greife ich nach meinen Sportsachen in meiner Tasche, ohne den Blick vom Boden abzuwenden. Nein. So geht das nicht. Ich strecke die Hand nochmals aus und positioniere meine Tasche auf meinen Schoss, dann fange ich an meine Schuhe aufzubinden. Schuhe sind einfach auszuziehen. Du schaffst das, ermuntere ich mich selbst. Ich merke, wie die anderen mich ansehen. Sehe Silhouetten. Sehe Haut. Muss mich zusammenreissen, versuche die Gedanken auszuhusten. Immer und immer wieder. Verschlucke mich, kriege kaum Luft. Mir wird so warm, ich halte es kaum aus. Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich würge. Mir ist so unfassbar schlecht. Widerlich. Ich bin widerlich. Ich sollte mich schämen. Ich spüre, wie ich rot im Gesicht bin. Sie reden über mich. Etwas trifft mich am Kopf. Ich muss mich zusammenreissen. Ich klammere mich an die Bank. Meine Finger sind so verkrampft und die blanke Wut sprudelt in jeden einzelnen Knochen. Zu gerne würde ich zuhauen. Einfach um mich schlagen, aus dem Raum rennen, sofort. Ich halte es nicht aus. Aber ich versuche die Fassung zu bewahren. Die Gedanken des Mannes sind klar und deutlich und sie verschmelzen mit meinen. Vielleicht bilde ich mir ein, es wären seine, weil ich Angst habe, vor dem was ich geworden bin. Ich sehe den Mann auf dem Stuhl sitzen. Er beugt sich zu mir vor und kaut auf seiner Unterlippe. Er weiss ganz genau, wie ich mich fühle.
Langsam ziehe ich mir im Sitzen die Hose runter. Möchte mich nicht ansehen, tue es aber trotzdem. Ich will mich übergeben, aber ich kann nicht. Als die Hose unten ist, stecke ich die Beine in meine Sporthose. Ohne aufzustehen, befördere ich sie über meinen Po. Alles fängt an zu verschwimmen und die Stimmen werden lauter. Sie alle verstehen nicht, wie ich mich fühle, wissen nicht, wie es mir geht. Sie hören mich nur keuchen. Ich bin abstrakt. Ich bin nicht normal. Ich warte bis sie weg sind und ziehe den Rest meiner Sportsachen an. Geschafft. Die Beine sind schwer, als ich aufstehe und die Treppen zur Halle hochgehe.
Ich bin angezogen und trotzdem fühle ich mich nackt.

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