Ein Hafen ohne Schiff

Ein Kind sitzt auf einer Brücke. Tränen rinnen über sein bleiches Gesicht, sie tropfen von seinem Kinn in den tiefblauen See zu seinen Füssen hinunter. Ein Engel sieht das und erscheint. «Was ist denn los mein Kind? Warum weinst du so bitterlich?», fragt der Engel und setzt sich neben das Kind, die Flügel zum Himmel empor gerichtet.
Das Kind starrt mit ausdruckslosen Augen auf die Oberfläche des Gewässers. «Ich war einmal ein Hafen», antwortet das Kind und greift mit seinen kleinen Händen ins Nichts hinein. «Ein Hafen?», wiederholt der Engel erstaunt und schmiegt seine Federn schützend um das Kind, um Wärme zu spenden, wo Frost eingekehrt.  
«Für jemanden war ich einmal ein Hafen und er für mich mein gestrandetes Schiff», erwidert das Kind mit zittriger Stimme. Eine Träne tropft in den dunklen Abgrund und verschwindet in der schier endlosen Schwärze.
«Das hört sich schön an», meint der Engel, zupft sich eine Feder aus seinem Flügel heraus und wirft sie in die Luft hinauf. Anmutig tänzelt das Gefieder wie zuvor die Trauer in den See hinab und hinterlässt ein bisschen Licht in all der Dunkelheit.
Das Kind lächelt geknickt.
«Was ist ein Engel ohne Flügel und was ist ein Hafen ohne sein Schiff?»