Camp Rosered - 2 (2016)
Ihr Mund öffnet sich und formt ein grosses ‚O‘. Dann fängt sie wieder an zu kichern. Als sie realisiert, dass ich immer noch wie angewurzelt im Türspalt stehe und auf eine Erklärung warte, streckt sie mir mit einem Gesicht so strahlend wie die Teletubby-Sonne ihre Puppe entgegen. Merkwürdiges Mädchen. Wahrscheinlich ist sie… geistig behindert. Oh Gott, ist das Gemein wenn ich sowas von ihr denke? Sie sieht aus wie…ein Teenager, benimmt sich aber wie ein Kleinkind, da liegt die Vermutung schliesslich nahe, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmen kann. Oder? Man, bin ich ein Arschloch. Andererseits sind hier alle irgendwie schräg.
Ich lasse Eimer und Besen mit einem Schulterzucken stehen und gehe auf Emily zu. Der Boden ist klebrig und bei jedem Schritt, spüre ich, wie meine Sohlen versuchen anzudocken. Hat hier jemand den Boden mit Klebstift eingekleistert?
„Verstehst du mich?“, frage ich und nehme die malträtierte Puppe entgegen. Sie freut sich und fängt an, ihre eigenen Haare mit der Bürste zu kämmen. Anscheinend versteht sie mich nicht. Meine Augen suchen den Raum ab, aber bis auf den Tisch auf dem Emily sitzt, ist er leer. Ich fische mein Handy aus der Hose, um meine Nachrichten zu checken und auf die Uhr zu schauen. Verdammt. In dem Gebäude hat man einfach keinen Empfang und in 4 Stunden sollte ich kostümiert Autos den Weg ins Junkfoodparadis weisen. Ach, wen interessiert schon mein alter Job. Die sollen sich einen neuen Gockel suchen. Der Job hier ist eigentlich gar nicht so schlecht. Klar, die Leute sind komisch aber hey, die Bezahlung ist mehr als grosszügig.
Ich starre auf die Puppe in meiner Hand. Sie ist durchnässt, ein Knopfauge seilt sich ab, auf dem Kleid klebt undefinierbarer Dreck und büschelweise Haare scheinen auch zu fehlen. Lediglich ein paar Haarfetzen hängen vom ramponierten und überschminkten Puppenkopf. Hässliches Teil. Ob sie die aus einem Geisterschloss geklaut hat?
Als ich wieder aufsehe, sieht mich Emily mit grossen Augen an. «Möchtest du die wiederhaben?» Sie nickt und ich reiche ich die Puppe. Glücklich umklammert sie die Abscheulichkeit in ihren Händen. «M….o…..mmmmm..LL..ieeeee!» Überrascht ziehe ich die Augenbraue in die Höhe. Sie kann also doch reden. «Heisst die Puppy Molly?», frage ich nach und Emily streckt die Zunge raus, verdreht sie merkwürdig in der Luft und als Sabber von der Spitze tropft, ziehen sich ihre Mundwinkel begeistert in die Höhe.
«Ich nehme das mal als ein Ja. Hast du Lust auf Barbeque, Em?» Die Zunge verschwindet blitzschnell im Mund, dann sieht sie mich erneut mit grossen, ach was, gigantischen Hundeaugen an und nickt eifrig mit dem Kopf. Wieder ein Ja. Irgendwie ist sie ja süss. «Soll ich dir vom Tisch helfen?» Wieder ein Nicken. Vorsichtig lege ich die Arme um ihre Taille und hebe sie vom Tisch. Wie gut, dass das Mädchen passend zu ihrer Körpergrösse nicht viel wiegt. Die Puppe nicht loslassend, lässt sie sich von mir hochheben und auf die Füsse stellen.
«Super, dann gehen wir…Oh Gott, was ist das?» Auf der Stelle, wo vorhin Emily gesessen hat, ist ein grosser blutiger Fleck auf der Tischfläche. Panisch drehe ich Emily um und... oh mein Gott., Oh.. Shit. Zwischen ihren Beinen tropft langsam Blut herunter und ihr Kleid ist ganz besudelt davon. Scheisse. «Geht es dir gut Emily????» Sie schaut mich lediglich verwirrt an, schnappt sich die Haarbürste vom Tisch und beginnt wieder die lichte Haarpracht von Molly zu kämmen. Es scheint ihr nichts wehzutun. Das ist schon mal gut. Aber scheisse, was ist wenn sie mir hier verblutet? Panisch schnappe ich nach ihrem Handgelenk und gehe vor ihr in die Hocke. «Wir gehen jetzt Barbeque essen OK?» Ihr Blick wandert verlegen zwischen mir und der Puppe hin und her, dann lässt sie die Puppe auf den Boden fallen und nickt. «Wer zuerst da ist, hat gewonnen OK?» Das muss ich nicht zweimal sagen. Wie von der Tarantel gestochen, befreit sie sich aus meinem Griff und rennt aus dem Raum. Ganz nach dem Motto immer der Nase folgen, erreicht sie vor mir, scheisse ist sie schnell, den Pausenraum. Am Ziel angekommen bleibt sie abrupt stehen und schaut mit einem siegreichen Grinsen auf den Lippen zu mir zurück.
Völlig ausser Puste bleibe ich neben ihr stehen und wäre beinahe auf der Blutspur, die sie hinterlassen hat ausgerutscht. «Du hast gewonnen Kleine…», hechele ich und bemerke erst jetzt, dass alle Augen auf mich und Emily gerichtet sind. Spasti zieht gerade an seiner Zigarette, während El Kastor auf einem Stück Fleisch kaut, der Gorilla ist bereits verschwunden und aus Jesters Gesicht weicht alle Farbe. «Michael!.... Oh… Nein!!!» Seine schrille Stimme lässt Luke, die gerade noch mit ihrer Serviette Rosen gefaltet hat, aufschrecken. Ihr Blick wandert von Jester zu mir und Emily. Anstelle in Panik auszubrechen, verdreht sie lediglich die Augen, steht auf und kommt auf uns zu. «Sie ruiniert den Boden! Das ist widerlich! Weiche von mir! Dämonin! Kann sie bitte jemand entfernen? Bitte??!» Jester hyperventiliert und stützt sich am Tisch ab.
«Und wieder einmal wünsche ich mir, ich hätte eine Kamera…» Spasti steckt sich die Zigarette zwischen die Lippen, platziert seine Ellbogen auf den Tisch und bettet sein Kinn auf seinen Handflächen. Und wie ich diesen Clown hasse, macht sich über uns lustig, obwohl Emily gerade vor seinen Augen verblutet.
«Sag mal Michael, hast du ein Schwein geschlachtet?» Seine Mundwinkel ziehen sich in die Höhe.
«Haha, sehr lustig.»
«Tja, du siehst aus, als hättest du eins geschlachtet.»
Ich schaue an mir herab und… überall auf meinem weissen Putzkraftoutfit ist Emilys Blut verteilt. Fuck. Tränen schiessen mir in die Augen. «Ich habe ihr nichts angetan… ich schwöre… sie sass da auf einem Tisch und dann habe ich sie …. Ich habe ihr wirklich nichts angetan, sie…»
Luke greift nach Emilys Hand und wirft mir einen giftigen Blick zu. «Hör auf zu flennen. Sie hat ihre Tage.»
«Ihre was?»
«Gott bewahre!!! Entfernt dieses widerliche Wesen sofooooo….» Jesters Knie geben unter ihm nach und mit einem Rumms fällt der ganze Mann wie ein Sack Kartoffeln auf den Boden. El Kastor springt von seinem Stuhl auf und hechtet ausgerüstet mit Serviette und einer Flasche Wasser zu Jester. Lediglich Spasti bleibt ruhig sitzen und zieht an seiner Zigarette.
«Ihr Männer seid solche Idioten.» Mit diesen Worten verschwindet Luke, eine protestierende Emily hinter sich herziehend, aus dem Pausenraum.
«Ihre… Tage.», wiederhole ich und inspiziere nochmals meine Kleidung. Igitt. An mir klebt… Als hätte er meine Gedanken gelesen, meldet sich Spasti zu Wort.
«Menstruation.»
«Ekelhaft… Dämonen….Dämonen…entfernt sie…»
«Was ist denn mit Jester los?»
Prompt ernte ich ein genervtes Knurren von El Kastor, der dem zusammengekauerten Jester gerade Luft mit einer Serviette zufächert.
«Oh Entschuldigung.. Ganz vergessen, keine Fragen stellen.»
«Menstruation! Menstruation!»
«Es reicht, Spasti. Wir haben es alle verstanden.»
«Michael, du musst nun sagen: Du meinst wohl Revolution.»
«Warum sollte ich das tun?»
«Damit ich sagen kann: EGAL! Hauptsache es fliesst Blut! Hahahaha»
«Wüsste nicht, was daran lustig sein sollte.»
«Ich bin ein Clown. Sowas wird von mir erwartet.» Spasti zuckt mit den Schultern und pustet Rauch in meine Richtung.
«Kann ich irgendwie helfen? El Kastor?»
«Siehst du nicht, dass es dem Boss nicht gut geht!?»
«Ja, deswegen will ich ja helfen…»
«Warum hast du dieses Weib hier hergebracht?»
«Sie hat geblutet… ich dachte ihr geht es nicht gut.»
«Du siehst ja was du angerichtet hast! Boss? Geht es dir gut?»
«Blut… überall Blut….»
«Ehm….»
Bin ich hier in einer Freakshow gelandet? Was ist hier los… Warum ist Jester so… Keine Fragen stellen… keine Fragen stellen… das ist mein neues Mantra, keine Fragen stellen.
«Michael, darauf warte ich schon seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Ich denke, es ist besser, wenn du jetzt verschwindest.»
«Aber… es tut mir wirklich leid.»
«Jaja, schon klar. Hasta la vista, Baby!»
Spastis Augen funkeln mich an. Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem abstrakten Grinsen, dass durch die Schminke in seinem Gesicht irgendwie gruselig wirkt. Hat der Clown mich gerade gefeuert? Irgendwie kann ich die Situation gerade gar nicht abschätzen… vielleicht ist es wirklich besser, wenn ich mich erstmal zurückziehe. Ohne ein weiteres Wort verlasse ich den Pausenraum und schenke Spasti den Sieg. Sein Lachen verfolgt mich (Versuch einfach mal so richtig unecht zu Lachen. So supergekünstelt. xD Und das schön lang. So 10 sekunden lang gammelig lachen.) bis zur nächsten Tür und als ich den Code in das Kästchen eingebe, realisiere ich erst, dass ich immer noch aussehe wie ein Metzger. Shit. So kann ich nicht nach Hause fahren. Moment mal. Wie komme ich überhaupt nach Hause? Ich kann ja schlecht El Kastor’s Käfer ausleihen und davon düsen. Ich weiss nicht mal, wo genau ich bin. Toll. Leicht säuerlich marschiere ich auf den Wohnwagen von Jester zu und setze mich vor dem Wagen auf den sandigen Boden. Mir bleibt nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass Jester sich von seinem… wie nennt man denn sowas,….von seinem Schock, erholt. Oder seiner Panikattacke. Oder was auch immer in ihn gefahren ist. Gut, ich finde es auch nicht prickelnd Emilys…ähh… Blut auf mir zu haben, aber deshalb so auszurasten und so ein Theater abzuziehen ist doch etwas übertrieben oder nicht? Naja, anscheinend hat Jester ja ein Problem mit Frauen, so wie er seine Tochter ablehnt und behandelt als wäre sie ein Junge, nur weil er sich einen Jungen gewünscht hat. Wobei, die Aussage kam von Spasti und ob man dem trauen kann, wohl eher nicht. Blöder Clown.
Seufzend krame ich in meiner Hosentasche nach meinem Handy. Wie zu erwarten habe ich keinen Empfang. Nicht mal Candy Crush kann man ohne Internet spielen. «Maaaaaaaaan…», fluche ich und strecke meine Füsse aus. Sand bahnt sich seinen Weg in meine Schuhe. Das ist, als ob ich Pech magnetisch anziehe. Geht das überhaupt? Muss wohl, ich bin der lebendige Beweis für die magnetische Anziehung von Pech.
Die Tür des Gebäudes geht auf und als ich die lockige, farbenfrohe Wuschelmähe von Spasti, der offensichtlich mehr als nur eine Perücke besitzt, sehe, überlege ich mir, meinen sandgefüllten Schuh auszuziehen und in seine Richtung zu werfen. Ich war Klassenbester im Weitwurf. Die Chancen liegen gut, dass…
«Michael. Da bist du ja!»
«Das überrascht dich?»
«Schon ja. Seltsamer Ort, um abzuhängen.»
Er lässt sich neben mich in den Sand plumpsen und zündet sich, wie immer, eine Zigarette an.
«Aber ein guter Ort zum Rauchen. Auch eine?»
Ich sehe auf die Zigarette, die er mir hinstreckt und überlege kurz, ob ich das Angebot annehmen soll. Habe schon länger nicht mehr geraucht, aber irgendwie… warum nicht. Gerade als ich nach der Zigarette greifen will, nehme ich im Augenwinkel wahr, wie Spastis Mundwinkel zucken.
«Was ist? Ist was mit der Zigarette?»
«Nein.»
«Warum grinst du dann so?»
«Ich bin Spasti, der Clown.»
«Ich trau dir nicht.»
Er wedelt auffordernd mit er Zigarette vor meiner Nase rum.
«Warum nicht? Ist nur eine Zigarette, kein Flusspferd.»
«Flusspferd? Naja, vorhin wolltest du mich noch loshaben und hast mich sozusagen gefeuert.»
«Ich? Nein. Das war doch nur Spaß. Los nimm.»
«Ich weiss nicht.»
Seine Mundwinkel wandern nach unten und mit ihnen die Zigarette.
«Das ist aber unfreundlich. Das war ein Friedensangebot. »
«Friedensangebot?»
Er nickt und streckt mir die Zigarette nochmals hin. Was soll’s. Ich greife nach dem Glimmstengel. In dem Moment, wo meine Finger das zusammengerollte Papier berühren, knallt es und die Zigarette verwandelt sich in einen Konfettiregen.
«Fick dich.»
«Hier ist kein geeigneter Ort für sowas. Nur ein geeigneter Ort zum Rauchen.»
«Das war nicht lustig.»
«Du verstehst einfach keinen Spass, Michael.»
«Du bist einfach nicht lustig.»
«Ich bin Spasti, der Clown.»
«Jaja, ich weiss, du bist Spasti der Clown. Sag mal, Spasti, hast du hier Empfang?»
«Wofür brauche ich Empfang?»
«Telefonieren und so.»
Spasti zieht die Augenbraue in die Höhe, winkelt seine Beine an und fischt mit seinem behandschuhten Finger ein Handy aus dem linken Clownschuh. Simsalabim. In Zeitlupe drückt er mit dem Mittelfinger, ja dem Mittelfinger, sehr unauffällig, auf eine Taste. Das Telefon leuchtet auf. Er zieht die Stirn in Falten und reicht mir sein Telefon.
«Da.»
«Wie da?»
«Ich benutze das so gut wie nie. Vielleicht weisst du etwas damit anzufangen.»
«Ernsthaft?»
Die Zigarette verschwindet wieder zwischen seinen Lippen. Ob er mich wieder verarscht und sich das Handy sobald ich drauf drücke in einen Goldfisch verwandelt? Ich hasse Clowns. Wirklich. Zögerlich drücke ich auf die Menütaste der Antiquität und kneife die Augen zusammen. Nichts passiert. Doch ein normales Handy. Der Clown neben mir kichert.
«Haha, sehr lustig. Wie ist dein Pinn?»
«Da ist ein Pinn drauf?»
«Ja?»
«Erstaunlich.»
«Du weisst doch bestimmt deinen eigenen Pinn.»
Die Tür vom Gebäude geht mit einem Klick auf und Jester, der mittlerweile wieder Farbe im Gesicht hat, dicht gefolgt von El Kastor stolzieren auf uns zu. Jester stolziert. El Kastor’s Gang erinnert eher an einen tobenden Stier, stampfend und bullig.
«Michael! Da bist du da! Du bist plötzlich verschwunden!»
Ich werfe Spasti einen bösen Blick zu. Er strahlt mich lediglich mit Unschuldsaugen an und widmet seine komplette Aufmerksamkeit einer neuen Zigarette, die er sich neben die bereits Angerauchte in die Lippen steckt. Zufrieden zieht er an beiden Enden und pustest eine Nebelschwade an Rauch heraus.
«Ich… äähh…»
«Du ääähh? Oh Spasti, Michael hat dein Telefon gefunden, das suchst du doch seit Monaten!»
«Er ist mein Held, Chef.»
«Was?»
«Gigantisch! Das ist super, wie gut du dich hier schon eingelebt hast, Michael! Du ergänzt unser Team wirklich hervorragend!»
«Aber ich habe doch gar nicht’s..»
«Kastor, mein Guter, würdest du bitte den Pausenraum wieder auf Vordermann bringen?»
«Alles klar, Boss!»
«Warte, soll ich das nicht machen? Ich meine… es ist doch meine Schuld, dass dort überall…»
«Michael! Nicht doch! Du hast doch Feierabend!»
«Es macht mir wirklich nichts aus.»
«Kastor macht das gerne. Nicht wahr?»
«Aber sichi, Boss.» Kastor klopft Jester auf die Schulter und steuert, in einem Tempo, als würde es brennen, auf das Gebäude zu.
«Schön! Und nun?» Jesters Augen verharren erwartungsvoll auf mir.
«Und nun?»
«Warum sitzt ihr vor meinem wunderschönen Wohnmobil?»
«Ehmm.. ich wollte eigentlich telefonieren, ich muss meinen alten Job kündigen und ich… ähh.. weiss ehrlich gesagt nicht, wie ich von hier wieder nach Hause komme. Ich habe keine Auto und die ganze Fahrt hierher … verschlafen.»
«Und ich rauche hier, Chef.»
«Oh! Na wenn das so ist! Nimm doch einfach mein Telefon!»
«Echt? Cool! Ich habe hier nämlich keinen Empfang.»
«Nicht? Das ist aber seltsam. Hier!»
Jester zaubert aus seiner feinbestickten Manteltasche ein knallpinkes Telefon, das aussieht, als wäre es aus den 80er, falls es dort überhaupt schon Handys gegeben hat.
«Danke!»
«Aber nicht doch Michael! Gerne!»
Jesters Augen ruhen immer noch erwartungsvoll auf mir und ich spüre, wie sich allmählich Unbehagen meinen Rücken hinaufschleicht. Okay. Seltsam. Irgendwie peinlich. Ähh… ich starre auf das Display und tippe die Nummer, die ich mittlerweile auswendig kenne, da ich so oft blaugemacht habe, meines Arbeitsgeber ins Telefon.
Als es klingelt wendet Jester den Blick von mir ab und bewundert seine Fingernägel. Die Vermutung, dass der Manager hier stockschwul ist, hat sich gerade verstärkt.
Nach dem fünften Klingeln geht endlich jemand ran.
«Chickenwings Heaven, hier spricht Marry!»
«Hallo Marry, hier ist Michael, Michael Krieger.»
«Oh hallo Michael! Hast du nicht Schicht? Wo steckst du? Hey, aber gut, dass du anrufst. Dein Vermieter hat vorhin bei uns sturmgeklingelt. Deine Wohnung ist… ehm… um es mit seinen Worten auszudrücken, deine Wohnung ist abgefackelt. Er meint die Feuerwehr ist seit Stunden dran den Brand zu löschen, aber irgendwie….kriegen die das nicht gelöscht. Er hatte schon Angst, dass du noch in deiner Wohnung steckst, geschlafen hast und den Brand eventuell nicht bemerkt hast und nun.. du weisst schon. Tot bist. Weil… er meinte, das ging alles so schnell.»
«Was… im Ernst jetzt?»
«Ja, es tut mir so leid für dich. Boah, mir fällt gerade ein Stein vom Herzen, dass du noch lebst. Ich hatte echt Angst um dich. Geht es dir gut? Wo bist du grade?»
«Mir geht’s gut, ich bin.. .eh…»
Jesters Augen richten sich automatisch wieder auf mich. Er schüttelt den Kopf und legt seinen Zeigefinger auf seine Lippen.
«Ich bin bei Freunden. Aber hey. Du bist dir echt sicher, dass meine Bude gebrannt hat?»
«Ja, dein Vermieter hat doch angerufen! Er meinte du bist auf deinem Handy nicht erreichbar. Deswegen hat er sich doch so Sorgen gemacht und ich mir auch! Kannst du bei deinen Freunden bleiben? Ich rede mit unserem Chef, das geht sicher in Ordnung, dass du ein paar Tage frei nimmst. Ich übernehme deine Schichten. Das muss echt hart für dich sein. Es tut mir so leid. Ich würde dir ja anbieten bei mir zu wohnen. Aber mein Freund mag keinen Männerbesuch, weisst du doch.»
«Oh.. aber du bist dir ganz sicher?»
«Ja, ruf doch deinen Vermieter an! Warum sollte ich mir sowas ausdenken?»
«Eh ja… ehm.. werde ich tun… danke für das Angebot. Ehmm… Tschüss.»
«Mach’s gut! Wenn was ist, ruf an, ja?»
«Ja danke.»
Wie paralysiert reiche ich Jester das Handy. Meine… ganze Wohnung ist… abgebrannt? Einfach so? Oh Gott… wäre ich an dem Abend nicht mit Kastor mitgegangen dann… ich spüre wie Tränen in meine Augen schiessen.
Spasti neben mir stupst mich mit seinem Ellbogen an und streckt mit ein buntes Taschentuch mit Pünktchen entgegen. Dankbar nehme ich es an und drücke mein Gesicht dagegen. Abgestandener Tabakgeruch steigt mir in die Nase, aber das ist mir in dem Moment egal. Ich habe… alles verloren. Alles ist… Asche.
«Michael, zieh doch nicht so ein Gesicht! Das bricht mir das Herz.»
«Ich habe alles verloren… meine ganze Wohnung ist abgefackelt!»
«Das ist natürlich ärgerlich. Aber das trifft sich gut! Bei uns ist gerade ein Zimmer freigeworden. Wenn du willst kannst du dort einziehen bis deine Wohnung wiederaufgebaut ist! Ist das nicht gigantisch?!»
«Wiederaufgebaut?», wiederhole ich und finde das gar nicht ‘gigantisch’, wer weiss, wie lange das dauern wird, bis ich wieder eine Wohnung habe und was ist mit meinen ganzen Sachen. Alles weg. Ich habe nichts mehr. Nicht mal Klamotten.
«Ich sollte besser bei meinem Vermieter vorbeifahren und schauen, wie die Lage ist. Vielleicht ist noch etwas zu retten oder… verdammt ich weiss auch nicht.»
«Du solltest das Angebot annehmen.» Spasti pustet Rauch aus und fischt sich eine der beiden Zigaretten wieder aus dem Mund.
«Die Entscheidung liegt bei dir, Michael. Du bist hier herzlich Willkommen!»
«Das Angebot ist wirklich grosszügig,.. aber ich…. Ich weiss nicht ich fühl mich nicht so wohl bei der Sache.»
«Nicht wohl? Papperlapapp! Das wird grossartig! El Kastor wird dein Zimmer herrichten! Wir kümmern uns morgen um den Papierkram und dann fahre ich dich höchstpersönlich zu den Überresten deiner Wohnung! Fabelhaft nicht? Ich liebe Ausflüge! Oh und Michael, darf ich dich noch um einen Gefallen bitten? Nur einen ganz kleinen, ich meine, jetzt wo du doch sowieso noch etwas länger bleibst, als geplant.»
«Ich denke, das geht in Ordnung… ich meine.. ich finde den Weg nach Hause ja sowieso nicht alleine.» Ich zwinge mich zu einem kleinen Lächeln, bevor ich wieder Spastis Taschentuch missbrauche und die Nase damit säubere. Das Gesicht, das Spasti zieht, als er das sieht, ist unbezahlbar.
«Wir haben einen grossen Auftrag und es interessiert mich brennend, wie weit unsere Drachen bereits mit der Maschine für Dante sind. Könntest du eventuell kurz vorbeigehen und nachfragen und richte ihnen einen lieben Gruss von mir aus ja? Ich würde selbst gehen, aber ich habe noch etwas sehr sehr sehr sehr sehr Wichtiges zu erledigen!»
«Die Drachen? Ehmm… klar kann ich machen. Denke ich.»
«Gigantisch! Du findest sie im dritten Stock, Raum 71. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann!» Liebevoll tätschelt er meine Schulter, tänzelt an mir vorbei und verschwindet in seinem Wohnwagen. Spasti neben mir richtet sich auf.
„Na, gar nicht neugierig was mit deinem Vorgänger passiert ist? Hehehehe“
„Meinem Vorgänger?“
„Ich brauche neue Zigaretten. Man sieht sich.“
„Warte mal, was meinst du mit ‚deinem Vorgänger‘?
„Wem?“
„Du hast doch grade gefragt, ob ich nicht neugierig bin was mit MEINEM VORGÄNGER passiert ist?“
„Du musst mich verwechseln.“
„Was genau ist dein Problem?“
Er schüttelt seine Perücke und eine Packung Zigaretten fällt auf den Boden. Blue Lady Cigarettes. Ist wohl seine Lieblingsmarke. Der Clown geht in die Knie und quietscht dabei schlimmer als ein Hundespielzeug im Mund eines äusserst verspielten Welpen.
„Nichts mehr zu rauchen.“
Als seine Finger die Packung erreichen, rutscht diese einen Zentimeter von ihm weg. Ein weiterer Versuch, gleiches Szenario. So bewegt er sich unauffällig von mir weg und ich realisiere es erst, als er ungefähr drei Meter zurückgelegt hat. Gerade als es Klick macht und ich auf ihn zugehe, um ihn nochmals zur Rede zu stellen, schnappt er sich die leere Packung und rennt wie ein Wahnsinniger auf das Gebäude zu.
„Was soll das? Hey warte!!!“
„Man siiiiiiiiiieht sich.“
So einfach lasse ich dich nicht entkommen. Ich sprinte los, aber der Clown ist schneller und klatscht mir die Tür vor der Nase zu. Mit einem Piep verschliesst sich die diese. Genervt drücke ich die Klinke herunter und muss feststellen, dass man hier ohne Pinn nicht reinkommt. Auch das noch. Was zum Kuckkuck meinte er mit meinem Vorgänger? Der Typ der vorher die Räume geputzt hat oder der, der vorher in dem Zimmer gewohnt hat, das ich hier beziehen soll? Oder ist das ein und die selbe Person gewesen? Was dem wohl zugestossen ist? Sag bloss,… die haben ihn umgebracht weil er zu viele Fragen gestellt hat? Neeeeeeeeein. Bestimmt will mich Spasti nur wieder verarschen, so wie es dieser dämliche Clown immer tut und ich Trottel falle auch noch darauf rein. Der lacht sich bestimmt vor dem Zigarettenautomaten halbtot.
Total in Gedanken versunken bemerke ich erst, dass die Tür wieder aufgeht, als sie gegen mein Gesicht donnert. Autsch.. verdammt. Wo ist das gewohnte Piepgeräusch abgeblieben? Vor mir steht ein Typ, den ich bisher noch nicht gesehen habe. Er ist etwas kleiner als ich und trägt einen blauen Anzug mit einer viel zu langen, farbenfrohen Krawatte, die leblos über seinem kleinen Bierbauch hängt. Unauffällig versuche ich einen Blick hinter den Mann zu erhaschen, in der Hoffnung Spasti zu erblicken, Fehlanzeige. Der Mann zwängt sich wieder in mein Sichtfeld und mustert mich mit einem abschätzenden Blick. Seine Stirn zieht sich in Falten. Um die peinliche Stille, die zwischen uns herrscht, auszumerzeln, beschliesse ich, mich vorzustellen.
«Hallo, ich bin Michael, die neue Putzkraft. Ehm.. dürfte ich durch?»
«Schön Sie kennenzulernen, aber Sie wirken auf mich nicht gerade wie eine Putzkraft.»
«Doch doch..», ich zeige auf meine Arbeitsklamotten und… oh.. das Blut habe ich total vergessen. Verdammt, ich muss auf ihn wirken wie ein durchgedrehter amoklaufender Serienkiller. «äähh.. es ist nicht so wie es aussieht…»
«Man soll hier ja bekanntlich keine Fragen stellen, viel Vergnügen.» Er macht mir den Weg frei und hält mir die Tür auf. Das ist das erste Mal, wo ich mich über diese dämliche Regelung freue. Ich schenke ihm ein dankbares Lächeln und quetsche mich zwischen Tür und Bauch hindurch. Gut. Jetzt bin ich schon mal im Gebäude drin. Entweder ich gehe in den Pausenraum und leg mich nochmals mit dem Clown an oder ich folge Jesters Bitte und suche die «Drachen», wer auch immer die sind. Ich hoffe die spucken kein Feuer oder haben Schuppen auf dem Rücken. Ach, ich laufe ja sowieso am Pausenraum vorbei. Auf leisen Sohlen schleiche ich mich voran und als ich vor der Tür stehe, strecke ich meinen Kopf hinein. Leer. Mist, ich hätte schwören können, dass der Clown den Automaten plündern geht. Vielleicht gibt es mehr als einen Automaten in diesem Gebäude. Vielleicht auch mehr als einen Pausenraum. Gross genug ist der Komplex. Verschiebe ich das halt auf später, wir laufen uns sowieso wieder über den Weg, ob wir wollen oder nicht. Dieser dämliche Clown, mit seiner affigen Perücke und den quietschenden Schuhen, an denen abgestandener Zigarettenrauch haftet. Bei so vielen Zigaretten, die der raucht, ist es nicht verwunderlich, dass der Tabak kiloweise auf die Füsse rieselt. Oh man, und jetzt rege ich mich auf, weil ich mich schon wieder über diesen Clown aufrege. Ich sehe es schon kommen. Irgendwann lande ich in der Nervenanstalt. Ob es da Gin gibt? Neben dem Glas Gin, das vor meinem inneren Auge auftaucht, quetscht sich Jesters bunter Zinnobermantel ins Bild. Genau. Mist. Seine Bitte. Auf welchem Stockwerk finde ich die Drachen? Verflixt aber auch, das ist höchstens eine Viertelstunde her und ich kann mich schon nicht mehr daran erinnern, was genau Jester gesagt hat. Dieser Clown… Ich knurre und suche den Flur ab. Weit und breit auch niemand da, den ich fragen könnte. Super. Und jetzt?
Total abgelenkt von dem Zirkus in meinem Kopf hätte ich beinahe die Schönheit nicht bemerkt, die hinter mir aufgetaucht ist. Mit drei Kaffeetassen ausgerüstet, geht sie, mit einem Gang einer Göttin gleich, auf die Kaffeemaschine zu. Ich hefte mich an ihre Versen und positioniere mich neben die Kaffeemaschine. Von vorne sieht sie sogar noch besser aus. Leuchtend blaue Augen, wohlgeformte volle Lippen und perfekte Wangenknochen. Dazu langes blaugefärbtes Haar, das ihr in Wellen über den Rücken fällt und ein äusserst frecher Pony, der ihr ins Gesicht hängt und ihr etwas Rebellisches verleiht. Holt sofort einen Auffangeimer für den Sabber, der sich unweigerlich in meinen Mund gesammelt hat! Aber flott flott!
Ein Grinsen breitet sich auf meinen Lippen aus und ich lehne mich lässig an die Küchentheke. „Kann ich zur Hand gehen?“
Ihre perfekt geschwungene Augenbraue hebt sich und als sie anfängt laut loszulachen, spüre ich wie die Schamesröte in meine Wangen schiesst. Oops. Diesen Spruch muss ich unbedingt aus meinem Anmach-Spruch-Repertoire streichen, scheint wohl nur bei stark betrunkenen Frauen zu funktionieren. Verlegen streiche ich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und mustere meine Schuhe.
„Neu hier?“ Ok,… diese Stimme,… Wow. Diese Frau muss gemeisselt worden sein und wer auch immer sie kreiert hat, ich möchte ihm auf die Schulter klopfen und ihn auf ein Glas Gin einladen. Automatisch wird mein flatterndes Herz auf Wolke Sieben befördert und ich tue das, was ich oft tue, wenn mir eine Frau gefällt. Stottern, wie ein Vollidiot.
„Ehh… eh.. Ja, hehe… du auch?“
Sie schmunzelt und lässt einen Kaffee in den Becher ein. Meine Wangen müssen die Leuchtkraft einer Polizeisirene angenommen haben.
„Nein nein, ich bin schon länger hier. Wen hast du den zur Strecke gebracht?“
Und wieder einmal mehr habe ich die Blutflecken auf meiner Putzuniform vergessen. Ok, eins muss man ihr lassen, ich wäre an ihrer Stelle wohl schreiend weggerannt, wenn ein blutüberströmter Kerl plötzlich neben der Kaffeemaschine auftaucht und fragt, ob er zur Hand gehen kann. Definitiv Horrorfilmmaterial.
„Ehh.. es ist nicht so wie es aussieht.“
„Aha.“ Sie zwinkert mir zu und befüllt einen weiteren Becher mit brauner Sünde. Der Geruch von frisch gemahlenen Kaffeebohnen schmiegt sich um meine Nase und ich hätte am liebsten einen Köpfler in ihre Tasse gemacht und sie leergetrunken. Meine Augen suchen die Kaffeebar nach einem Becher ab.
„Die Tassen findest du hier.“ Als hätte sie meine Gedanken gelesen, öffnet sie den Hängeschrank über der Kaffeemaschine, holt eine Tasse heraus und reicht sie mir. Dankbar nehme ich sie an und muss schmunzeln. Die Tasse passt perfekt zu Jesters Wohnwagen. Unzählige farbenfrohe Luftballons sind auf das weisse Porzellan gedruckt und verleihen der Tasse einen leicht kindlichen sowie kitschigen Charme.
„Danke.“
Sie lächelt mich an und stellt die letzte Tasse auf ihrem Tableau unter die Kaffemaschine. Immer noch peinlich berührt wegen meines Anmachspruchdesasters beobachte ich wortlos, wie der Kaffee in die Tasse läuft. Momentmal. Ist das etwa ein Drache? Auf dem Porzellan thront ein Drache mit ausgestreckten Flügeln, aber anstelle eines eidechsenförmigen Kopfs hat dieser Drache einen Papageischädel auf dem Korpus. Neugierig inspiziere ich die beiden bereits vollen Tassen auf ihrem Tableau und stelle fest, dass jeweils auf jeder Tasse ein Papageidrache eingraviert ist. Einer in Lila, einer in Rot und einer in Blau. Ist sie etwa einer von diesen Drachen, die Jester meinte? Das wäre ja ein willkommener Zufall. Vielleicht meint es der liebe Gott im Himmel wohl heute doch gut mit mir und ich muss nicht zuerst das komplette Gebäude abklappern auf der Suche nach diesen ominösen Drachen. Hätte Jester mir vorher gesagt, wie unglaublich gut eine von den Drachen aussieht, hätte ich bestimmt auch nicht die Raumnummer vergessen.
Mit etwas weniger Selbstbewusstsein als am Anfang tippe ich die Blauhaarige schüchtern an der Schulter an. Sie dreht sich zu mir um und sieht mich fragend an.
„Ja?“
„Ich will ja nicht unhöflich sein aber…“ Ich zeige mit meinem Finger auf die Tasse, die immer noch unter der Kaffeemaschine steht.
„Ich suche die Drachen.“
Sie folgt meinem Finger und kichert.
„Was für ein Zufall, da wollte ich auch gerade hin.“
„Ach du bist keine von den Drachen?“
„Nein, ich bringe nur den Kaffee, die Jungs kommen nie freiwillig aus ihren vier Wänden. Irgendjemand muss ja dafür sorgen, dass sie mal was heisses in den Magen bekommen.“ Sie lacht und stellt die letzte Tasse auf ihr Tableau. Die Drachen sind also Jungs, na klasse.
„Darf ich mitkommen?“, frage ich, stelle schnell meine Luftballontasse unter die Kaffeemaschine und lasse einen Espresso raus.
„Aber natürlich.“
Ich folge ihr durch die Korridore in den dritten Stock und bewundere dabei immer wieder, wie ihre blauen Haare bei jedem Schritt anmutig hin und her wippen. Was für eine Frau. Bildhübsch und überaus freundlich. Vielleicht will sie mal nach Feierabend mit mir ein Gläschen Gin kippen?
„Wir sind da.“
Überrascht hebe ich die Augenbraue und mustere die grosse antike Holztür mit dem eingravierten Drachen. Schick, schick. Auffällig, protzig aber schick. Anders, als so gut wie alle Türen ist diese nicht mit einem Pinn geschützt und die hübsche Frau, die ich noch immer nicht nach ihrem Namen gefragt habe, Schande über mein Haupt, drückt ohne anzuklopfen die Klinke herunter.
Laute Musik strömt uns entgegen. Mit erhobenen Tableau zwängt sich Blauhaar an ein paar Metalteilchen auf dem Boden vorbei und bleibt in der Mitte des Raums stehen. Ich folge ihr unauffällig und wäre beinahe über einen Fahrradsattel gestolpert.
„Hallo Jungs. Na, wer hat Lust auf einen frischen Kaffee?“
„ICH!“, brüllt es uns entgegen und ich schiele an Blauhaar vorbei und blicke direkt in die Augen von einem Muskelprotz mit kurzem Militärhaarschnitt und Ziegenbärtchen am Kinn, der gerade oben ohne und nur bekleidet mit schwarzen Boxershorts vor einem Computerbildschirm sitzt. Direkt neben dem Typ sitzt noch jemand, dessen Hand gerade ein Taschentuch aus einer Kosmetikbox mit hübschem Blumendesign zupft.
Militärhaarschnitt kommt auf uns zu und angelt eine Tasse von Blauhaars Tableau, drückt ihr einen Kuss auf die Stirn und setzt sich mitsamt dampfenden Kaffee wieder auf seinen blauen Bürostuhl. Sind sie etwa ein Paar? Gegen dieses Sixpack habe ich keine Chance. Ok, Michael, die Idee mit dem gemeinsamem Gin schlürfen kannst du aus dem Kopf schlagen.
„Danke Hannah, wer ist denn der Kerl hinter dir? Ich hoffe stark, das ist nicht dein Blut auf seinem weissen Kittel. Ansonsten..“ Militärhaarschnitt ballt die Hand zur Faust und lacht, auch Hannah, was für ein schöner Name, stimmt mit ein. Dann dreht sie sich zu mir um und signalisiert mir mit einer Handbewegung neben sie zu treten. Zögerlich komme ich der Aufforderung nach und kratze mir verlegen über die Stirn.
„Ähh,.. nein nein, das ist nicht so wie es aussieht. Ich bin Michael, die neue Putzkraft hier und wir, also Jester und die anderen, wir hatten vorhin einen… ehh.. Unfall mit Emily.“
Beide schauen mich überrascht an. In dem Moment dreht sich auch der Kerl auf dem roten Bürostuhl zu uns um. Ganz im Gegenteil zum Militärhaarschnitt, hat dieser eine schmale Statur und femininere Gesichtszüge. Langes blondes Haar fällt ihm über die Schulter und obwohl die Temperatur in diesem Raum eher heiss als kalt ist, trägt er einen roten gestrickten Schal um den Hals, einen schwarzen Pullover und dazu eine schwarze Hose. Und als wäre das nicht genug auch noch Handschuhe und Stiefel.
„Ehh jaa,..sie…äh.. egal. Luke kümmert sich um sie.“
„Ahhh… Luke… wie geht’s ihr?“, fragt Militärhaarschnitt und nippt an seinem Kaffee.
„Gut gut, denke ich.“
„Das hört man doch gerne!“
Hannah geht an mir vorbei und steuert auf Langhaar zu, dann stellt sie die Tasse mit dem roten Drachen darauf neben ihm auf den Tisch, streichelt kurz über seine Schulter und verschwindet mit einem freundlichen „Bis später“ wieder aus dem Zimmer.
Wie jetzt, sie lässt mich mit den beiden hier einfach allein? Am liebsten wäre ich ihr gefolgt, aber Militärhaarschnitt ergreift bereits das Wort.
„Was für eine atemberaubende Frau,… hach… Wo waren wir stehengeblieben…Warum genau bist du hier? Ich bin übrigens Joe und das hier ist A.“ Er zeigt auf Langhaar, der sich gerade in dem Moment umdreht und die Finger um den Henkel seiner Tasse schlingt.
„A?“, frage ich und Langhaar fängt an zu kichern, öffnet ein Fenster auf seinem Computer und fängt an irgendein altmodisches Ballerspiel zu zocken.
„Warum bist du hier?“, wiederholt Joe und lässt seine Zähne aufblitzen. Ein unangenehmes Gefühl kündigt sich in meinem Bauch an und ich nehme einen kräftigen Schluck Espresso, in der Hoffnung das Gefühl mit der brauen Flüssigkeit zu ertränken.
„Ehh… Jester schickt mich, er fragt nach irgendeiner Maschine für einen Dante.“
„Ach die Maschine für seinen Neffen. Hey A, wie weit bist du mit der Maschine?“
„Fast fertig. Sollst du sie abholen?“
„Eh… er hat nur gesagt, ich solle danach fragen.“
„Ahh.. ich muss noch kurz den Boss killen. Dauert nicht lange.“
„Ja… eh ich hab Zeit, denke ich.“
Joe wuschelt A über die Haare und erntet prompt ein Knurren. Dann steht er auf, holt einen Stuhl aus einer Ecke und platziert ihn neben seinem Schreibtisch.
„Na los, setz dich, das kann dauern, A ist nämlich eine ziemliche Niete in dem Spiel.“ Er klopft auf die Sitzfläche des Stuhls.
„Haha, sehr witzig Joe.“
Zögerlich schlurfe ich auf den Stuhl zu und nehme Platz. Joe schenkt mir ein breites Lächeln, dann dreht er sich zu seinem Bildschirm um und widmet sich offensichtlich Kameraaufnahmen, die zwei Männer in einem fast leeren Raum zeigen, die gerade den Anschein machen, als würden sie miteinander streiten. Hinter den Männern hängt etwas an der Wand. Ist das etwa auch ein… Mensch? „Und wie lange arbeitest du schon hier Michael?“
„Erst seit einem Tag… ehh.. Kastor hat mich sozusagen in einer Bar aufgesammelt und gefragt, ob ich Interesse an einem Job habe und schon hat man mich in dieses Outfit gesteckt und mir einen Besen in die Hand gedrückt.“
„Hah, ja das klingt ganz nach unserem Kastor, dem kann man nichts abschlagen.“
„Hehehe… ja irgendwie nicht, da hast du recht. Und was genau macht ihr hier so?“
„Wie lange hast du gesagt, arbeitest du schon hier?“
„Eh.. einen Tag, oh oops… die keine-Fragen-Stellen-Regel, sorry.“
„Hahahaha, wir nehmen diese Regel hier oben nicht so ernst, keine Sorge, ich wollte dich nur necken. Wir bauen … Maschinen. Ganz besondere Maschinen, nicht wahr mein Freund?“
Er knufft A in die Rippen, dieser faucht lediglich und schiesst ein Raumschiff mit einem kleineren Raumschiff ab.
„Ganz besondere Maschinen? Wie muss ich das verstehen?“
„Wir fertigen Maschinen nach Wunsch an. Sobald unser Ballerspielmann fertig ist Raketen abzuschiessen, zeigen wir dir die Kammer des Schreckens.“
Ich schlucke und starre auf Joe‘s Bildschirm. Dort geht gerade der eine Mann auf den anderen los.
„Die Kammer des Schreckens… klingt nicht gerade nach einem gemütlichen Ort hehehe… ehh was ist das und warum verprügeln die sich gerade?“
Joe grinst und zupft an seinem Ziegenbärtchen. „Hahaha. Das ist … so eine Art Reality Show.“
„Eine Art Reality Show? So wie das Jungle Camp nur ohne Urwald? Ist das alles nur gespielt?“
„Hahaha, wie das Jungle Camp! Du bist mir einer!“
Ich versuche mich ebenfalls zu einem Lächeln durchzuringen, obwohl mir das alles mehr als unangenehm ist.
Joe dreht sich zu mir um, mustert mich und fängt wieder an zu lachen. „Du bist ja ganz schön bleich geworden. Keine Sorge.“ Seine Hand wandert auf meine Schulter und klopft tröstend dagegen. „Das ist doch alles nur Spass! Alles total harmlos! Die mögen sich und tun nur so als ob!“
„Aha?“
„Ich bin fertig.“, unterbricht uns A, steht auf und schlendert auf die Tür zu.
„Super! Na dann würde ich sagen, auf zu den Maschinen! Los Michael, nimm deinen Kaffee, jetzt wird’s aufregend!“
Joe sperrt seinen Bildschirm und drückt auf einen roten Buzzer neben seiner Tastatur. Ein „Herzlich Willkommen im Turm der Qualen“ dröhnt durch den Raum und ich zucke zusammen.
„Was war das?“