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kontroverse Geschichten 21. Jan. 2022

Es ist nur eine Kassette. Es ist nur eine Kassette. Es ist nur eine Kassette. Das Mantra läuft schon den ganzen Tag in meinem Kopf rauf und runter. Eine Kassette, die mein ganzes Leben auf einen Schlag über den Haufen geworfen hat. „Wir müssen dir etwas beichten, mein Schatz“ – die Worte meiner ‚Mutter‘ wiegen so schwer und haben mit so einer Wucht eingeschlagen, wie eine Abrissbirne auf ein baufälliges Haus. Ein Haus aufgebaut auf einer Lüge. Und in diesem Haus habe ich mein ganzes Leben lang gelebt. Nichtsahnend, nichts wissend. Und nun fühle ich mich auf eine seltsame Art und Weise obdachlos. Heimatlos. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Es ist, als hätte ich innerhalb eines klitzekleinen Augenblicks alles vergessen. Ein Wimpernschlag und puff - ich bin identitätslos. Mein Name ist falsch. Meine Herkunft ausgedacht - und drei Jahre meines Lebens wurden einfach ausradiert und neu erfunden.
Zwei Menschen, denen ich bisher so vertraut habe, haben einfach den Stift in die Hand genommen und eine eigene Geschichte geschrieben. Sie haben mir ohne zu Zögern die Chance genommen, ich selbst zu sein. Mein wahres Ich. Wie kann man sich dieses Recht herausnehmen und jemanden, den man angeblich über alles liebt, in ein schönes Puppenhaus ohne Tür und Fenster und Ecken und Kanten stecken? Das ist nicht fair. So etwas sollte man nicht tun. Oder bin ich undankbar? Kann ich nicht schätzen, was sie für mich aufgebaut haben? In Watte gepackt und wohlbehütet aufwachsen ist ein Privileg. Andere würden sich darüber freuen, an meiner Stelle zu sein. Andere hätten gerne meinen Platz eingenommen. Aber ich bin viel zu blind, um sehen zu können, wie glücklich ich darüber sein sollte, Levis Kirschbaum sein zu dürfen und nicht Robert Stonehouse. Als Robert Stonehouse würde es mir nicht so gut gehen. Aus Robert Stonehouse wäre bestimmt kein Musterschüler geworden. Einer, der immer nur gute Noten von der Schule nach Hause bringt und dem alle Türen offen stehen. Robert Stonehouse wäre sicherlich auch nicht mit dem hübschesten Mädchen aus seinem Jahrgang auf den Abschlussball gegangen. Und Robert Stonehouse hätte sich wahrscheinlich auch keine Nitendo Switch leisten können. Aber Robert Stonehouse hätte die Wahrheit gekannt. Robert Stonehouse hätte seinem Zwillingsbruder helfen können. Robert Stonehouse hätte ihn retten können. Robert Stonehouse hätte ihn nicht in Stich gelassen.
Ich kann die Augen nicht von der Kassette lösen. Meine Finger streichen über das Etikett auf dem mit krakeliger Schrift „für meinen Bruder“ geschrieben ist. Eine Träne löst sich, kullert über meine Wange und tropft auf meine teure Jeans, die so viel gekostet hat und eigentlich wertlos ist. Kleidung ist so bedeutungslos, wenn man plötzlich weiss, dass es andere und wichtigere Dinge gibt, über die man sich stattdessen hätte Gedanken machen sollen.
Zögerlich lege ich die Kassette beiseite und mustere die kleine Narbe auf meinem Handgelenk. Die habe ich solange ich denken kann und nie konnte ich mir einen Reim darauf machen, wie sie überhaupt zustande gekommen ist. Bis heute. Meine Adoptiveltern haben sich dazu eine lustige Geschichte ausgedacht. Irgendetwas mit einem Strampelanzug und einem doofen Spielzeug mit scharfen Kanten. Angewidert puste ich die angestaute Luft aus meiner Lunge. Dabei handelt es sich bei der Narbe um ein Andenken von meinem richtigen Vater. Und die kleine Narbe ist nur einer der Gründe, wieso ich damals von den besorgten Behörden abgeholt worden bin. Warum haben sie meinen Bruder vergessen? Warum haben sie ihn dort gelassen? Und welches verdammte Arschloch hat die Entscheidung gefällt, wer von uns beiden eine Chance auf ein besseres Leben bekommt? Zu gerne würde ich diesem Vollidioten eine Kugel in den Kopf verpassen. Und trotzdem würde sich dadurch nichts ändern. Es ist so, wie es ist und wieder steht nur mir die Möglichkeit zu, das Beste daraus zu machen. Connor hat aufgegeben. Und das Einzige, was mir von ihm geblieben ist, ist auf Tonband aufgezeichnet und eine kleine Zusammenfassung von dem, was mir auch hätte blühen können, hätte sich ein Nachbar an diesem einen alles entscheidenden Tag nicht an dem Lärm gestört, als Vater wie so oft Mutter verprügelt hat und Gegenstände durch die Luft geflogen sind. Ein Anruf kann ein ganzes Leben verändern und ein anderes zerstören.
Ich bin mir sicher, wäre ich nicht fort gebracht worden, dann wäre Connor noch da. Wir beide wären bestimmt zusammen stark genug gewesen, alles Erdenkliche miteinander durchzustehen. Schliesslich sind wir Brüder. Nein. Wir waren Brüder. Ist es lächerlich, dass ich mir immer einen Bruder gewünscht habe? Ich kann nicht zählen, wie oft ich das Gefühl hatte, dass irgendetwas fehlen würde und keiner konnte mir sagen, warum das so ist. Jetzt weiss ich, dass sie es mir nicht erklären wollten und jetzt kenne ich auch die Antwort, warum ich mich so allein gefühlt habe. Weil Connor gefehlt hat. Es ist, als hätte sich ein Teil von mir unbewusst doch an ihn erinnert und diese Sehnsucht ausgelöst. Das fehlende Puzzleteil hat plötzlich einen Namen und es tut so weh, zu wissen, dass das Puzzle niemals komplett sein kann. Diese Leere wird bleiben. Für immer.
Meine Hand zittert, als ich nach der alten Kinderzeichnung auf meinem Bett greife und einen Blick darauf werfe. Die Zeichnung habe ich gemalt, als ich fünf war. Keine Ahnung, warum sie meine Adoptivmutter solange aufgehoben hat. Sie hing bis vor kurzem noch an ihrem Kühlschrank. Eventuell war es das schlechte Gewissen, obwohl ich daran zweifle, dass diese Frau überhaupt ein Gewissen hat. Auf dem Bild sieht man eine grüne Wiese, Blumen, ein blauer Himmel, eine grosse lachende Sonne und zwei kleine Strichmännchen, die sich an der Hand halten. Mir kommt die Galle hoch, als ich an die Geschichte denke, die mein Adoptivvater sich zu diesem Bild ausgedacht hatte und andauernd auf Familien- und Geburtstagsfeiern erzählte. In seiner Version handelte es sich bei dem zweiten Strichmännchen auf dem Bild um einen imaginären Freund, mit dem ich als Kind ständig gespielt haben soll, als ich noch nicht so viele Freunde hatte. Charlie wäre sein Name gewesen und sie hätten sich damals ja solche Sorgen gemacht und wie froh sie doch gewesen seien, als Charlie irgendwann nicht mehr vorbeigekommen ist, um mit mir zu spielen. Er betitelte dieses Phänomen gerne als Erziehungserfolg. Ich habe ihm diese Geschichte geglaubt und sie war mir immer peinlich. Bis heute. Heute stimmt mich dieses Bild und die widerliche Lüge dahinter traurig. Wie konnte dieser Mann, die tiefe Bedeutung dieser Striche, nur so ins Lächerliche ziehen? Warum hat er mir nicht gesagt, dass das Connor ist, den ich da gezeichnet habe? Wollte er nicht akzeptieren, das Connor und ich zusammengehören und alles in seinem Kind verzweifelt nach seinem Bruder schreit?
Wieder droht mich der Hass zu übermannen. Ich zwinge mich dazu, langsam ein und auszuatmen. Es ist nur eine Kassette. Es ist nur eine Kassette. Es ist nur eine Kassette. Das Mantra hallt durch meinen Kopf und verstärkt die Schmerzen in meiner Schläfe. In mir kollidieren zwei Welten. Will ich mein bisheriges Leben wegen dem, was Connor auf dieser Kassette sagt, wirklich aufgeben? Darf ich überhaupt auch nur eine Sekunde darüber nachdenken, die letzten Worte meines Bruders in eine Schachtel zu stecken und für immer mit ihm zu begraben? Aus den Augen aus dem Sinn? Weil es leichter ist, so weiterzumachen wie bisher? Blind durch das Leben schreiten und in dem Puppenhaus zu leben, was meine Adoptiveltern so mühsam für mich aufgebaut haben? Warum haben sie das getan? Um mich vor der Realität zu schützen? Um mich vor meinen wahren Eltern abzuschirmen? Den Schlägen, dem Missbrauch, der Perspektivlosigkeit?
Ich kann nicht verstehen, warum sie nur mich und nicht auch Connor dort herausgeholt haben. In uns fliesst doch dasselbe Blut. Wir hätten doch genug Platz für ihn gehabt und ich bin mir sicher, sie hätten uns beiden lieben können. Er hat sich doch so sehr gewünscht, geliebt zu werden. Wie gerne würde ich ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, wie viel er mir bedeutet. Aber es ist zu spät. Er ist nicht mehr da. Es zerreisst mich innerlich. Was soll ich tun?

Um mir ganz sicher zu sein, die richtige Entscheidung zu fällen, schiebe ich die Kassette in den Rekorder und spule sie bis zum Schluss vor. Ich muss es noch einmal hören. Nur noch ein letztes Mal.

„Warum du und warum nicht ich?“

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